Raoul Schrott & Guihelm IX.: Rime

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Raoul Schrott & Guihelm IX.: Rime

Schrott & Guihelm IX./Frohner.: Rime

IV

ich sag’ es euch allen, ganz ohne hohn,
ich treff’ immer den richtigen ton,
in diesem lied, meiner werkstatt fron;
in dem metier trag’ ich den preis davon,
aaaaanicht bloß auf dem papier
ist mein vers zeuge wider jede argwohn,
aaaaawenn ich ihn polier’.

weisheit und ehre, die habe ich schon,
narrheit und schmach ist der welt lohn,
in der sie mit mut und furcht droh’n;
und wenn ich nun einer dame beiwohn’,
aaaaaschwöre ich dir,
daß ich mir auch dann hol’ die kron’
aaaaaund nicht verlier’.

ich kenne jene, die schmeicheln zum schein
und mir hinter dem rücken stellen ein bein
und die, welche mich verlachen obendrein;
doch dem, der mir sein gehör will leih’n,
aaaaama dame et mon sire,
will ich gern all meine kunst weih’n,
aaaaazu seinem pläsir.

lehrt er mich neues, so sei das lob sein,
einen neuen kunstgriff üb’ ich leicht ein,
doch die regeln, die bestimm’ ich allein,
denn auf einem kissen, unter uns zwei’n
aaaaakenn’ ich jede manier;
das eine kann ich euch prophezeih’n,
aaaaader beste spieler bin ich hier!

gepriesen sei gott und sankt virgil,
gelernt ist gelernt bei diesem spiel;
hab’ eine sichere hand, ein gutes ziel,
will eine es wissen, auch noch soviel,
aaaaaist’s ein vergnügen mir;
ich verhehle nichts, und ist sie dozil,
aaaaastill’ ich jede gier.

man nennt mich unfehlbar und anderes viel;
war ich nachts bei einer geliebten viril,
komm’ ich morgens nicht um ein neues spiel;
in dieser kunst pfleg’ ich den besten stil,
aaaaaer gereicht mir zur zier;
auf jedem markte wär ich, so’s mir gefiel,
der prächtigste stier.

nun, ich will nicht prahlen, es stimmt ehrlich,
daß ich mir auch zuletzt keinen sieg erschlich;
das würfelspiel wurde hart, wenig zimperlich,
doch von anfang an ging der einsatz an mich,
aaaaaohne daß ich hasardier’;
und hätten auch die karten gewendet sich,
aaaaaich siege bei jedem turnier!

ihr vorwurf war deshalb ärgerlich:
herr, eure würfel sind ja jämmerlich,
mit so kleinen macht ihr keinen stich!
doch sobald ich mir einen trumpf versprich,
aaaaabin ich ganz kavalier:
meine hand sich unter’s grüne tuch schlich,
aaaaanäher hin zu ihr.

und als ich hob das tuch so minniglich,
aaaaawürfelte ich vier:
drei waren gut, doch noch zu zögerlich,
aaaaaerst mit der falschen vier
aaaaagab ich’s ihr!

auf diesem tuche machte ich stich um stich,
aaaaaund noch lange würfelten wir.

Autor: Guihelm IX.

 

VI

auf den eichenplanken meines tisches sitzt
sie im gegenlicht dort wo die schreibmaschine

steht und wippt mit einem bein ich will sie
nicht nur daß sie es verspricht die spitze

brust wenn sie die achsel zuckt der gebrochne
riemen der sandale der an ihrer ferse streift

sie kennt die madrigale aus einem magazin
und die posen auch wenn sie ihr mißraten ein

unverhohlenes postskript ich nehme sie an
ihren knien draußen der baum an dessen rinde

sich das licht zu silber fällt ein schenkel
der sich am andern reibt als sie sich auf die

zehenspitzen läßt und auf dem tisch zurück
fast benetzt einen abdruck der nicht bleibt

einen dunklen schmalen mond fast ein blason

Autor: Raoul Schrott

 

Trennzeichen 25 pixel

 

für daniela, kupfermünzen
pfennige in der westentasche der nacht

Guihelms lieder ins deutsch zu schreiben war eins, auf allen um- und abwegen, von der tradizione zur traduzione, bis seine handschrift zum vorschein kam, die sarkastische gier, die rastlosigkeit, die bittere sehnsucht und das lachen über sich selbst, obszön für manche.

Ein anderes war, daß du mir manches mal über die schulter hinweg dabei zusahst, zwischen tür und angel, und ich, traditore einmal mehr, mit derselben feder für sie weiterschrieb und dich auf deine schläfen küßte, welche die engländer tempel nennen, und überall dort, wo man’s nicht sagt.

Anfangs waren es die madrigale, dieser bastard des sonnets zwischen strophischem und freiem gedicht, der guihelms ton zu dem angiolieris, hofmannswaldaus, bellmans führte, burlesk, barock, bramarbasierend, ein spöttisch gezierter knicks, den sie mir ohnehin nicht abnahm.

Einen anderen ton zu finden, indem man ihn von mal zu mal aufs neue verlor: mit den distichen wurde es eine geschichte der reime, die sich nach innen legen, bis sie kaum mehr hörbar werden, der reime, die man nicht mehr setzt, der reime, die du für mich hinzufügtest.

Doch erst in den freien versen kam die strenge form wieder, enjambement und assonanz im rahmen, der nicht mehr einfach zu übergehen war, ein bogen, der sich neigte und mit der epode, dem abgesang, schloß.

Überhaupt, diese gedichte: der tisch ist weiß wie papier, all so schreibe ich auf ihm, so könnte man sagen; die terrasse auf den golf – so diesig ist es heute, daß es aussieht, als würde der himmel nie mehr aufhören und die erde zum ersten mal rund. miriam füttert den kleinen, den gestern nacht die mücken ganz zerstochen haben, valentina und franz reparieren sein dreirad; rutscht sie an den nimbusschrauben ab, denke ich mir, sind gedichte wie ein fahrradschlüssei, ein knochengroßes stück blech, dessen ausstanzungen für all das passen, was sich nicht schreiben läßt. greift er, werden die sätze zu zahnrädern, naben und speichen, ein mechanismus die worte, uhrwerk und anker, bis das rad surrend leer läuft.

Das war das eigenartige daran, daß sie es immer früher wußten, nur ich sie schlecht zu lesen verstand; sie natürlich – ohne daß du’s hörtest – hat es gewußt, wann ich mit meinem a.b.c. am ende war, sprache, die schließlich die deine war; nur ich hatte vergessen, daß ich sie schließlich doch von ihr gelernt hatte.

Und so wurden sie geschrieben: aus den notizbüchern der letzten beiden jahre, am rande einer zeitung, auf die rückseite eines schifftickets, der stets zu hohen rechnung, zwischen den zeilen der états et empires de la lune, in venedig, triest, neapel, tunis, als carte blanche und billet doux, vielleicht über meine verhältnisse, manchmal leserlich, immer für jene, die zuhörte, für d., sie, dich, egal, rezitiert, korrigiert, in blei und garamond gesetzt, wieder eingeschmolzen und jetzt doch noch…

Und so hab’ ich dich nachgezeichnet: baumbart die brauen innenholz das haar das aug aug die nase der specht wenn er im mund innehält hals wo wir das mühlrad bauten die schulter wasser das über die kiesel fällt die brüste eine kuhle die wir in die erde unter der föhre gruben in den nabel den mast setzten die ritzen mit pech und moos dichteten der bachkrebs mit den zwei scheren seine spur zu den kreuzbeingrübchen und dann ein langsames atemanhalten bis zu den zehen.

Raoul Schrott, Vorwort

 

RIME

Sagen wir einmal, die Texte Guihelms IX. seien der Vorderteil des Buches. So gibt es eine Einführung in das ausschweifende, von Kreuzzügen und Liebschaften geprägte Dichterleben des Grafen Guihelm von Poitiers, 1071–1127. Für einen Leser, der in der Geschichte nicht fit ist, ergibt sich eine große Verwirrung, die Namen und Ortschaften klingen nach einem Zauberreich, das offensichtlich nur unter dem Eindruck von Drogen betreten werden kann. Anschließend sind die elf erhaltenen Gesänge des Ur-Barden in provenzalischer Sprache und der Schrottschen Übertragung abgedruckt.
Für Schrott ist Guihelm der Urtyp der Bardendichtung und ein ganzer Kerl. Ähnlich wie der Archipoetus, Villon oder Hofmannswaldau. Sie alle waren „keine wachsfiguren, speichellecker, winkeladvokaten, versicherungsvertreter, parvenüs, hosenscheißer, musterschüler, hofräte, wetterfahnen, schrebergärtner und abstauber, von denen das literaturkabinett sonst ja zur genüge hat“.
Während des Übersetzens, Forschens und Reisens hat sich bei Schrott eine große Lust zum Dichten eingestellt. In zahlreichen Versuchen testet er selbst, ob der Inhalt unseres Jahrhunderts mit der unsterblichen Dichtungsform des Mittelalters in Übereinstimmung gebracht werden kann. Und siehe, es gelingt!

Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. I, 1982–1998, Sisyphus, 2015

Über den Dichter und Vermittler Raoul Schrott

Burschikos begrüsst er die Anwesenden, ein schelmischer Blick in die Runde, ein paar uneitle Worte zur Einführung. Man merkt, den Mann drängt es zum Text. Tief und kehlig intoniert er die Verse der sumerischen Königstochter Enheduanna:

Mein krauses haar
ist die kresse ist die krause kresse
in ihrem beet der beine –
er wird sie mir wässern
und den dubdub
den vogel der aus der furche der
erde mit dem schnabel schaut
ihn wird er mir streicheln.

Mit sichtlichem Vergnügen schlüpft Raoul Schrott in die Maske der Dichterin aus dem 24. Jahrhundert v.Chr., jongliert mit derben und obszönen Ausdrücken, ein erotischer Camoufleur, der sein Publikum wie die alten Geschichtenerzähler auf Marktplätzen und an Lagerfeuern mitzureißen versteht. Mit spürbarer Lust am Phonetischen schleudert er die Zoten des Catull in den Raum, findet den sanften Rhythmus sapphischer Lyrismen, akzentuiert die formelhaften Zäsuren der Mo’allaqat, der arabischen Volksdichter aus dem 6. Jahrhundert, und trägt die Minnelieder des Kreuzritters und ersten Troubadours Guihelm IX., Graf von Poitiers und Herzog von Aquitanien, vor. Dazwischen erläutert er den gesellschaftlichen und poetologischen Kontext, in dem die von ihm übersetzten Gedichte stehen, weist auf die Innovationen dieser Poeten und auf ihre Bedeutung in der langen Tradition der Lyrik hin und sucht in seiner Rezitation das Sinnliche dieser Verse zu betonen, als wären Gerüche, Stimmen, Farben und Bilder aus vergangenen Zeiten wiederbelebbar. Kein Zweifel, der Mann ist ein Verführer, ein Liebender. Es sind nichts als Bilder, Kaskaden von Wörtern, dazwischen die Stille; Augen und Stimme leiht er für einen Moment von Wahrhaftigkeit irischen Mönchen oder einem walisischen Lehnsherrn, aus deren Blickwinkel wir Meere und Berge und – immer wieder – schöne Frauen sehen. Die spielerische Adaption und das Enträtseln fremder Verse und Sprachen zählt zu Schrotts Passionen, und diese Lust an der Poesie ist ansteckend. Einen Marathon von Lesungen absolviert er mit dem Enthusiasmus des Süchtigen und der Gelassenheit des „poeta heureatus“; seine Mission der reinen Kunst und der poetischen Revolte erfüllt ihn mit einer derart ansteckenden Lebendigkeit, daß seine Anthologie Die Erfindung der Poesie (1997) zu einem auch in kommerzieller Hinsicht überragenden Erfolg wurde und Raoul Schrott zum „Iiterarischen Wunderkind der Saison“. Vom „reinen Filz“ des Literaturbetriebs eigentlich eher abgestoßen, sucht Schrott in zahllosen Lesungen, Interviews und öffentlichen Auftritten den Dialog mit dem Publikum. Sein Zugang zum für viele noch geltenden Mysterium der Poesie ermutigt und dient der Provokation. Das ist immer noch die gleiche Welt, sagt Schrott, und erzählt von archaischen Strukturen oder, weniger gelehrt, von Wein, Weib und Gesang. Ob er nun Rundfunkfeatures über die vier vergessenen und unterdrückten Sprachen Frankreichs – Korsisch, Okzitanisch, Bretonisch, Baskisch – verfaßt, Romane maghrebinischer Autoren herausgibt oder sich ins Gälische, Arabische und Altirische vertieft – Schrott öffnet verborgene (Sprach-)Welten und rekonstruiert die versiegenden Adern der Literatur. „Der hat so viele Ideen, der weiß gar nicht, wo er anfangen soll“ (Hans Magnus Enzensberger). Schrott fängt immer da an, wo er glaubt, etwas lernen zu können. Vom karibischen Nobelpreisträger Derek Walcott, den er auch übersetzt hat, lernte er die Kunst der Allegorie; von den Briten Seamus Heaney und Ted Hughes Präzision und Lakonie; von den Surrealisten die Lust an der Sprache; von H.C. Artmann den „état d’esprit“, eine Haltung des Poetischen; an Enzensberger schätzt er dessen moralischen Sarkasmus und seinen Sinn für Pointen. Viele andere Dichter hat er (für sich) entdeckt und studiert, manchen zu neuem Glanz verholfen. Als habilitierter Komparatist besitzt er wissenschaftliches Ethos, als staunender Poet die Sensibilität für die Eigenheiten von Sprache und Wirklichkeit. Die produktive Auseinandersetzung mit anderen Kulturen fordert den fremden Blick und den eigenen Standpunkt zugleich.
Raoul Schrott hat im Vorwort zu seiner Anthologie wie auch anderen Orts seine Form der Annäherung an die Texte anderer Autoren charakterisiert:

Übersetzen… heißt, diese Bilder zu sehen, bevor sie geschrieben werden, und sie dann, weil sie sich nie nur kopieren lassen, mit den Utensilien der eigenen Sprache freihändig nachzuzeichnen und neu zu skizzieren: so nahe wie möglich und so frei wie notwendig. Man kann ihnen dabei nur die eigene Sprache leihen, auch wenn man den Tonfall ihrer Stimme zu imitieren sucht. Wer sie überträgt, setzt nur fort, was die alten Dichter immer schon getan haben: er macht sich die Tradition der Poesie zu eigen und sucht sie zu verkörpern.

Schrott begreift Gedichte als Horte lebendiger Kultur und riskiert auf seinen Zeitreisen das Bauernopfer auf dem Altar philologischer Pedanterie zugunsten substantieller, wirklichkeitsnaher Metamorphose. Mit Rücksicht auf die orale Tradition, in der die meisten der ausgewählten Gedichte stehen und die es zu bewahren galt, und auf die syntaktischen Eigenheiten der jeweiligen Sprachformen, denen wortwörtliche Übersetzungen eher querliegen, hat er rhythmische und metrische Angleichungen und Glättungen vorgenommen. Entstanden sind frische und klare Bilder- und Gedankenkosmen, mit einer direkten und verständlichen, eben sehr heutigen Sprache. 4.000 Jahre alte Verse erfuhren so eine Art poetischer Rundumerneuerung, ohne daß ihr Gehalt und ihre Schönheit Schaden nahmen. Im Gegenteil: der witzige und selbstironische Properz, der Großstadtdichter Abu Nuwas aus Bagdad, der sizilianische Erfinder des Sonetts, Giacomo da Lentino, oder der virtuose Dafydd ap Gwilym aus Wales hauen uns ihre Moritaten um die Ohren und schwelgen derart lustvoll in ihrer Welt, daß die Programmverantwortlichen deutscher Privatsender erröten würden. Und auch manch arabischer Volksdichter müßte mit seinen Oden und Elegien die Konkurrenz aktueller Rapgrößen sicher nicht fürchten.
Schrott konzentiert sich auf den Gestus der Dichtung, auf Sinngehalt und Formensprache; durch die verschiedenen Larven der Dichter werden andere und neue Perspektiven eröffnet und dabei doch die eigene Stimme nicht verleugnet. In der kritischen Differenz der beiden Blickwinkel, in der Übernahme und Aktualisierung bestehender und ewig wiederkehrender Formen und Themen sieht er die Tradition der Poesie und die Aufgabe ihrer Vermittlung. „Down to earth“, alle Karten auf den Tisch und frische Kraft voraus – so lauten Schrotts Maximen. Sein enzyklopädisches Wissen und seine große Neugier stützen diese kongenialen Unternehmungen. „Entweder leuchtet ein Gedicht schlagartig ein, oder seine Sache ist nichtig. Die Schönheit überrascht oder sie ist keine“, sagt Schrott. Und Schrott will nur schöne Gedichte schreiben. Der Erfolg beim Publikum gibt ihm recht. Manche Kritiker sahen das anders. Böse Worte vom „entlaufenen Philologen“, vom „Liberace der deutschen Lyrik, auf jedem sechsfüßigen Eklektrochäus zwei fünfarmige Leuchter“, von „Elchtexten“ und anderen Hochstapeleien fielen und gingen weit am Ziel vorbei. Abgesehen davon, daß Schrott seine Kompetenzen transparent hielt und sich mit seinem Projekt in bester Tradition befindet mit T.S. Eliot, Wallace Stevens und Ezra Pound, die ähnliche Positionen vertreten, führen doch weder vorbehaltlose Mimikry noch holperndes Philologendeutsch zu jenen lyrischen Fingerabdrücken, die wir heute noch gerne sehen und spüren möchten. Schrotts leichtfüßige Choreographie half all den Dichtern wieder auf die Beine, die Generationen von Schulklassen hassen gelernt hatten. Und schließlich „zeigt sich erst im Sakrileg, was einer ernst nimmt, so wie die Blasphemie nur dem Frommen etwas bedeutet“ (Hans Magnus Enzensberger).
Der rastlose Raoul zitiert gerne einen Satz von Henry David Thoreau:

Man muß zuerst zum Leben aufstehen, bevor man sich niedersetzt zum Schreiben.

Schrott ist eigentlich immer im Einsatz, im Auftrag Ihrer Majestät – der Poesie. Der leidenschaftliche Wüstenbefahrer reist lieber, als daß er schreibt. Schrotts Ausgriff in den offenen Raum erarbeitet sich neue Horizonte; das Neue, sagt er, kommt meist von der Peripherie. Schrott ist kein Großstadtflaneur oder Waldspaziergänger, eher ein Forscher und Spurenleser, der dem Entschwindenden und Flüchtigen folgt. Da ist er ganz irdisch und vergnügt, wenn er zum Beispiel die Nachlässe der Dadaisten und Surrealisten in der Pariser Bibliothèque Doucet durchstöbern darf, den Helikon auf der Suche nach dem Brunnen erklimmt, der als Quelle der Dichtkunst gilt, und nach Chinguetti in die Westsahara fährt, um an einer der heiligen Stätten des Islams seltene Bücher aus dem 7. Jahrhundert einzusehen. Oder auf der Fährte des Abenteurers Ladislaus E. Almásy (Vorbild für Michael Ondaatjes Roman Der englische Patient) die sagenumwobene Oase Zarzura im Gilf Kebir sucht, dabei vom ägyptischen Militär verhaftet wird und zehn Tage im Gefängnis verbringen muß. Auch wenn Landschaften Trugbilder sind und in Wirklichkeit nur das Nichts verbergen, ein beängstigend fremder Raum ohne Zeit, Geschichte und Bedürfnisse, der in jeder Beziehung unfaßbar bleibt, so versucht Schrott doch in behutsamer Annäherung, die Schichten dieser Welten abzutragen, zu schauen und zu erfragen, erkennbare Strukturen zu finden. Der Kosmos, so Schrott, wie wir ihn allgemein verstehen, habe im etymologischen Sinne immer auch etwas „Kosmetisches“, sei Illusion, die wir dem Nichts vorzögen.
Seine Entdeckerfreude setzt sich am Schreibtisch fort: in der Rekonstruktion von Originalsprachen, mit Grammatik, Lexikon und kollegialer Unterstützung von Übersetzern und Wissenschaftlern, in der Suche nach Dokumenten wie im Falle seiner beiden opulenten, aufwendig gestalteten Dada-Bände und in der Konfrontation des Empirischen mit eigenen literarischen Reaktionen. In Dada 21/22 (1988) beleuchtet Schrott die Aufenthalte der Dadaisten Max Ernst, Hans Arp, Tristan Tzara, André Breton und Paul Eluard in Tirol, Dada 15/25 (1992) gewährt materialreichen Einblick in die zum Teil unveröffentlichte Korrespondenz der Dadaisten, in Dossiers ihrer Soireen in Zürich und im besonderen in das Wirken von Tristan Tzara, einem der wichtigsten Anreger des „Mouvement DADA“. An dieser subversiven Gruppierung imponiert Schrott „die Konsequenz, mit der sie jeden Bruch aufrechterhalten, die Unmittelbarkeit der Äußerung zum Prinzip machen, die Fragwürdigkeiten des Denkens und der Sprache betonen“.
Diesem literarischen Prinzip entspricht auch Schrotts Verständnis von der Endlichkeit menschlicher Erfahrung. Poesie, sagt er, bestehe vorwiegend aus Fragezeichen. Um so wichtiger sind ihm Verortungen und Datierungen von Texten, die Erinnerungen konkret binden und beglaubigen. Reibungs- und Schnittflächen von Geschichte und Biographie, wie sie im Gedichtband Hotels (1995) entstehen, kennzeichnen gleichsam gedichtweise die Stationen einer Reise durch halb Europa und gleichzeitig durch die „eigentlichen tempel unseres jahrhunderts“. Der Logograph Schrott fixiert seine Erfahrungen in einem literarisierten Diarium aus Versen, Glossen und historischen Quellen. Hotels erscheinen als Signaturen und Chiffren von Zeit und Epoche, als Archive der Erinnerung und Festungen gegen den nagenden Zahn der Zeit. Zeichen und Symbole hätten sich in deren Gestalt eingekerbt und legten ein polyphones Zeugnis für Mensch und Landschaft ab. Der schmale Grat zwischen Authentizität und Künstlichkeit, auf dem sich auch dieses Projekt bewegt, ist Schrott offenbar bewußt. Die Natur erscheint zuweilen als Kulisse und die Reise als Sekundärerfahrung. Schrott spricht vom „dekor für die inszenierung einer sentimentalität, die nur der tonfall erträglich macht“. Doch wenn „der louisdor der sonne in den schlitz der berge fällt“ und Hermes und Hestia in den „durchhäusern der epochen“ spuken, dann hat Schrott den alten Mauern eine Geschichte abgelauscht und in ein neues Bild gezaubert.
Das Ich ist ein offenes Feld, sagt Schrott, wie es vor einem und hinter einem liegt. Nur die Literatur verleiht ihm eine Fassung. So viel Bescheidenheit verdient Strafe. Mit diesem Namen, dachte mancher Kritiker, und der Passion für Dadaismus und Poesie kann man nur ein Falschspieler sein. Schrott zahlte mit barer Münze zurück und lüftete das Enigma seiner Herkunft. An dem Mann ist alles echt: der Name, sein österreichisches Elternhaus, seine Geburt 1964 auf einem Schiff auf dem Weg nach Brasilien, seine Jugend in Tunis und Tirol, seine literarische Frühreife (mit neun Jahren erste Gedichte), seine Pilgerschaften zu Heaney und Philippe Soupault (für den er als Sekretär in Paris arbeitete), seine Studienjahre in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck, seine Lehrtätigkeit in Neapel und seine Aufenthalte im ehemaligen Haus von Max Ernst in der Provence und nun in Irland. Auszeichnungen, Stipendien und Preise gab es auch in großer Menge. Durch die häufigen Ortswechsel in der Kindheit war er stets gezwungen, sich Unbekanntem im Spiel zu öffnen, Mühsal und Faszination zugleich:

Zu sprechen hieß, Fremdes sich anzueignen, zu verstehen bedeutete, Regeln anwenden zu lernen, die kompliziert waren; eigentlich jedoch erlernte ich die Sprache nur über den Klang der Worte, die sich langsam festsetzten, sozusagen am Grunde dieser sich dauernd drehenden Bewegung.

Schrotts bewußte, zuweilen auch ironische Absetzung vom Biographischen korrespondiert mit seiner Auffassung von der Comedie humaine, in der Narren und Schelme ihr (Un-)Wesen treiben:

Einen Fuß über dem Abgrund, den Kopf in der Luft, die Seele zwischen Himmel und Erde, die Hunde auf den Fersen und eine Rose in der Hand – ich kenne kein schöneres Emblem für einen Dichter.

In der Literatur der neunziger Jahre und vor allem in seiner Generation stellt Raoul Schrott eine Ausnahmeerscheinung dar. Mit seinen Übertragungen und seinen eigenen Dichtungen verfolgt er, darin vielleicht noch am ehesten mit dem Berliner Lyriker Durs Grünbein vergleichbar, konsequent die Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, vor allem mit den poetischen Quellen der Antike und den verschwindenden Kulturen Europas. Unbeeindruckt von den Oberflächenreizen der modernen Gesellschaft und nicht zuletzt deren zeitgeistigen Texten konzentriert sich Schrott in seinen Projekten auf den elementaren Themenfundus und die sprachlichen Grundlagen unserer Literatur. Nicht von ungefähr rühren daher auch das intensive Gespräch und die Zusammenarbeit mit Hans Magnus Enzensberger, in dessen Reihe Die andere Bibliothek Schrott veröffentlicht und der wie er ein wichtiger Sammler und Kurator poetischer Stimmen ist. Die Überschreitung kultureller Grenzen, die Zusammenschau und Verknüpfung vielfältigster literarischer Stoffe und Motive, diese unbändige Lust und Neugier am Entdecken und Vermitteln – all das macht Raoul Schrott zu einem tiefgründigen und höchst individuellen Literaten inmitten einer Szene, in der Trends und Moden an Gewicht gewinnen.
Der Tod ist dem Leben inhärent, Eros und Thanatos verkeilen sich ineinander. Schrott schreibt Liebestexte und sagt im gleichen Atemzug:

Der Tod als im Grunde einzige Instanz, gegen die man anschreibt; die Literatur als poetische Revolte dagegen – das ist ein Motiv seit den Anfängen. Den Tod denkbar, begreifbar zu machen, die Angst und den Schmerz zu nehmen und von diesem Ausgangspunkt her das Leben zu definieren – und die Kunst.

Sein erotisches Verhältnis zu Sprache und Welt ist der fragende Ausdruck dieser produktiven Verzweiflung, dieses Herumrätselns am Unermeßlichen, an den Absurditäten des Lebens, an dessen Ende sich alle Perspektiven verjüngen. Anknüpfend an die barocke Tradition der Totensprüche und Emblematik schreibt Schrott in seinen Legenden vom Tod (1990) im vorauseilenden Ungehorsam Epitaphe auf Autorenfreunde wie Achleitner, Artmann, Hackl, Nitsch, Rühm und Soupault, trägt aus ganz Europa Material über Riten, Vorzeichen, Omen, Menetekel und Begräbnisstätten zusammen, macht sich Gedanken über Todesarten, bereitet Todesengeln und Wiedergängern eine Bühne und inszeniert in drei Akten einen Totentanz mit Gott, Tod, Narr und Ackermann in den Hauptrollen.
Auch in seinem ersten Roman Finis Terrae (1995) spannt Schrott die Seelentopographie eines Todgeweihten weit auf und stößt in Grenzbereiche menschlicher Lebenserfahrung vor. Ein erzählendes Ich gibt vor, den vom österreichischen Archäologen Ludwig Höhnel übersetzten und aus seinem Nachlaß stammenden Reisebericht des griechischen Astronomen Pytheas von Massalia (um 325 v.Chr.) auf seinem Weg ins unbekannte Thule erstmals wiederzugeben. In einem zweiten Teil wird auf der Basis zahlreicher Briefe an einen Freund Höhnels Reise durch Landschaften Westeuropas erzählt. Höhnel fiebert, hat homoerotische Phantasien, ist dem Tod nahe. Er schickt seine Briefe an den Geliebten nicht ab; es zerreißt ihn innerlich, er ekelt sich vor sich selbst und schreit seine Angst vor dem Tod vorerst in den eigenen Rachen. Erst als er lernt, daß die Endlichkeit auch eine Täuschung ist wie jene archaischen Träume von Thule, Atlantis oder Utopia, kann er sein Sterben akzeptieren. Schrott, der Pytheas’ Reise unter Zuhilfenahme antiker Quellen als Hypothese entwirft, kontrastiert einmal mehr den Verlust einheitlicher Welterfahrung, wie sie Höhnel als Prototyp des 20. Jahrhunderts paradigmatisch durchlebt und erleidet, mit dem mechanistischen Wirklichkeitsmodell der Antike, mit ihrer Entdeckerfreude und ihrem Glauben an den Mythos. Höhnel versucht sich nur noch über seine Sexualität zu definieren, weil ihm andere identitätsstiftende Mittel nicht zur Verfügung stehen, er so die Grenzen von Existenz und Sprache körperlich zu kompensieren sucht und daran scheitert.
Wie entsteht folglich heute Sinn? fragt sich Schrott und antwortet mit Literatur:

Das Faszinierende an diesem Spiel, das die Literatur vorgibt zu sein, ist, wie sie aus realen Fragmenten, die dem Bereich des Willkürlichen und Zufälligen angehören, für ein paar Zeilen oder Seiten vorgibt, Sinn zu machen.

Eine Konstruktion des Als-ob, ein vorläufiger Entwurf, eine Frage der Perspektive. Wie ist die Erfahrung des Unglaublichen, die reizt und verstört zugleich, für den Menschen noch möglich, wenn er in der Schöpfung gleichzeitig auch die Fiktion, die Täuschung seiner Sinne erkennt? Durch das Staunen, so Schrott, und durch seine literarische Umsetzung. Über die Bilderwelt der Rhetorik, über die Metapher, die zwei Daseinsbereiche verknüpft, sei eine elementare Sinnstiftung denk- und fühlbar. Schrott zitiert den dänischen Physiker Niels Bohr:

Es wäre falsch zu denken, daß die Wissenschaft herauszufinden hat, wie die Natur ist. Sie beschäftigt sich allein mit dem, was wir über sie sagen können.

In der Verschränkung menschlicher Empirie mit poetischem Denken sieht Schrott eine mögliche Versuchsanordnung, um den Urrätseln der Existenz auf die Schliche zu kommen. Die Natur ruhe in sich, zeige sich als das Unbekannte, das andere, das Erhabene. In ihrer Komplexität und Vieldeutigkeit offenbare sich Schönheit, ihre Widersprüche provozierten viele Ansätze der Wahrnehmung.
Der Natur, die das Menschliche übersteigt und erweitert, hat sich Schrott in seinem Gedichtband Tropen mit dem Untertitel „Über das Erhabene“ (1998) mit Hilfe physikalischer Methoden zu nähern versucht. Es geht ihm dabei nicht um die heroisch-pathetische Geste im Sinne Schillers, sondern um Spiegelungen und Bruchstellen des Existentiellen. In einer ganzen Reihe von Gedichten orientiert sich Schrott an naturwissenschaftlichen Experimenten und Erkenntnissen. Seine „physikalische Optik“ bemüht sich um die bildhaft analoge Aufschlüsselung von Lichtverhältnissen und Wetterlagen. Spiegelung und Dämmerung, Wellenschlag und Wasserwirbel sind immer schneller als die Hand, die schreibt. Und sie sind nie eindeutig: Regen oder die Brechung einer Fensterscheibe trüben den Blick, Konturen verschwimmen, Halluzinationen und Tarnungen forcieren das Maskenspiel der Poesie, das Schrott liebt und wie wenige beherrscht. Von Michelangelo zu Einstein, von Hesiod zu Galilei – allen leiht er seine Stimme und seinen Blick. Was diese Wissenschaftler und Künstler entdeckt und umgesetzt haben, wie sie aus der Anschauung gelernt und gedacht haben, ist für Schrott Anlaß, sich einzuschreiben in ihre Logik, ihre Kausalitäten, ihre Widersprüche, ihre Erkenntnisse, ihr Scheitern. Im Miteinander von Wissenschaft und Poesie nisten für ihn der zweifache Blick, die Spannung, die Projektionen eines Ichs. Gefühl und Intellekt sollen im Erlebnis der Sublimierung vereint werden. Im dichterischen Sprechen entsteht immer wieder eine neue Reflexion auf die uns umgebenden Dinge. Das Gedicht substituiert das Ich und erschafft es gleichzeitig neu. Die ständigen Irritationen, denen unsere Wahrnehmung ausgesetzt ist, inspirieren und erregen uns. Indem wir so die in uns laufenden Bilder in immer neuen Kombinationen abrufen, setzen wir für uns die Welt auch neu zusammen. Um das Undarstellbare deshalb darzustellen, muß man es fingieren, sagt Schrott, bis in den Schnittflächen der Bilder Ich und Welt, Chaos und Ordnung emblematisch greifbar zu werden scheinen. Unser Empfinden für Schönheit und Größe wird dadurch gestärkt, daß Grenzen unseres Bewußtseins und Formen unserer Entfremdung von den existentiellen Dingen aufgezeigt werden. Berge, Bäume, Moose und Flechten, sie schweigen. Sie schweigen in ihrem Schein, den sie für uns haben. Raoul Schrott bringt sie mit seinen Gedichten zum Sprechen:

Die Poesie bündelt das größte gemeinsame Vielfache der Gedanken und ihre Zweideutigkeiten und bezieht die Sprache zurück auf ihre Wahrnehmungen. Dadurch wird sie zum menschlichsten Zeugnis der Existenz, einer wenigstens für den kurzen Moment des Gedichts gültigen Wahrheit, einem Augenblick humanitärer Totalität. Über sie machen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes erst einen Reim auf die Dinge.

Thomas Kraft, aus Thomas Kraft (Hrsg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er, Piper Verlag, 2000

Die dritte Seite der Münze

Hochverehrtes Publikum, sehr geehrte Damen und Herren der Jury: haben Sie beide vielen herzlichen Dank für die so gänzlich unverhoffte Zuerkennung dieses im wahrsten Sinne des Wortes beneidenswerten Preises – von all den literarischen Ehren ist der Breitbach-Preis zweifellos der einzige, um den man selbst, der Summe wegen, die vorigen Preisträger so offen und ehrlich, ja lustvoll beneidet hat, wie man seinerseits nun dafür beneidet wird: erfüllenderen Neid gibt es kaum. Andere, mehr vom reinen Renommee lebende Auszeichnungen gibt es, die mir jedoch schon deshalb nicht so erstrebenswert scheinen, weil man mit diesem Renommee dann auch zu leben hat: was heißt, dem Statuarischen eines Denkmals gerecht zu werden, in seiner bronzenen Pose verharren zu müssen; der Freiraum auf einem Sockel ist so begrenzt, daß man bloß Grünspan ansetzen kann. Wieviel mehr Beinfreiheit jedoch verleiht dieser Preis, wieviel mehr Schrittweite die Höhe seiner Dotation: ein wahres Göttergeschenk. Ich weiß, im Zusammenhang mit den Schönen Künsten von Geld zu sprechen, hat dabei immer einen etwas messingenen, wenn nicht gar bleiernen Beigeschmack; doch gerade deshalb möchte ich nun über das wahre Verhältnis von Geld und Literatur reden.
Mein Respekt gilt in dieser Hinsicht ganz Joseph Breitbach, schon weil er das alte Klischee widerlegt, daß Schriftstellerei gleichbedeutend mit Alltagsferne und Lebensuntüchtigkeit wäre. Als Volksschullehrerssohn und Buchhändlerlehrling sein Vermögen an der Börse zu machen heißt auch, zu vermögen, mit mindestens ebenso komplexen Dingen wie in der Literatur umzugehen; warum auch sollte die symbolische Intelligenz, die die Künste an den Tag legen, verdienstvoller sein als eine ausgebildete soziale Intelligenz – oder eine pragmatische, wie sie Joseph Breitbach bewiesen hat. Für mich zeugt es von Umsicht ebenso wie einigem Stolz, sich nicht von der Hoffnung auf eine literarische Hausse abhängig zu machen; die Lebensklugheit, auf die auch finanzieller Erfolg verweisen mag, kann der Aussagekraft eines Werkes nicht schaden, im Gegenteil; und daß sich Joseph Breitbach damit in der Lage sah, die Zinsen seines Kapitals als Preis zu stiften, beweist nicht zuletzt eine wahre Liebe zur Literatur: mein Eigennutz nun führt vor, wie wenig er an den seinen dachte. Nein, ungewöhnlich ist nicht, daß er seinen Lebensunterhalt vorzüglich ohne die Literatur bestritt, sondern vielmehr daß die Literatur heute glaubt, von sich selbst leben zu müssen, ja ihr Selbstverständnis darauf ausrichtet, unabhängig von Publikum und Patronanz existieren zu können.
In ihrer viertausend Jahre alten Geschichte stellt solch ein Anspruch jedoch die Ausnahme dar. Denn die Hörigkeit, die Literatur quer durch die Epochen Fürsten und Höfen, Mäzenen und einer Leserschaft gegenüber bewies, ist nicht nur bloßer Unmündigkeit gleichzusetzen; sie wurde dadurch auch gezwungen, etwas von Relevanz und Interesse zu formulieren. Weder Homer noch Shakespeare oder Ihr Goethe verschlossen sich vor dieser, zugegeben oft undankbaren und schwierigen Aufgabe. Und wenn nun ich vor Ihnen stehen darf, dann allein deshalb, weil Sie in meinen Zeilen etwas von sich widergespiegelt fanden. Sie haben dem, was ich stellvertretend für Sie zu Papier gebracht habe, Kredit gegeben – und vergelten es mir Ihrerseits mit anders bedrucktem Papier: auch darin besteht der Tauschwert von Kultur.
Von mir selbst aus Anspruch erheben kann ich bloß auf die Zinsen dieses Geschäftes – wie der nebenberuflich als Verleger arbeitende Dichter Michael Krüger bestens weiß: nämlich auf zehn Prozent vom Ladenpreis minus Mehrwertsteuer. Und ich will Ihnen gerne, weil wir nun schon einmal bei dieser Art von Buchhaltung angelangt sind, auch gleich das sich daraus ergebende Einkommen offenlegen: an der Druckseite eines Buches – beim Schreiben ist man in etwa 240mal langsamer als beim Lesen – sitze ich im Schnitt 12 Stunden, was bezogen auf die 700 Seiten meines letzten Romans insgesamt 8400 Stunden ergibt. Auf die gewerkschaftlich übliche Vierzig-Stunden-Woche umgelegt, kommt man somit überschlagsmäßig auf etwa viereinhalb Jahre Arbeit, was – dividiert durch die 2 Euro, die mir pro Buch zustehen – nur bei einem wirklich sehr, sehr guten Verkauf etwa 8 Euro die Stunde ergibt (bei einem Gedichtband jedoch höchstens 3 Euro). In reale Zahlen übertragen, ist das nicht einmal ein Viertel von dem, was der Physiotherapeut verlangt, der mir die Tennisellbogen, die ich mir vom Tippen eingehandelt habe, wegmassiert.
Es ist zwar auch noch der Vorschuß des Taschenbuchverlags dazuzurechnen, von dieser reinen Umsatzziffer für die Bilanz dann aber auch ein Drittel für Recherche, Handbibliothek und Computer als anrechenbare Auslagen abzuziehen (auf Steuer kann ich Gott sei Dank in Irland verzichten; dafür jedoch sind die Lebenshaltungskosten dort 1,74mal teurer als in Deutschland) – womit ich auf ein Monatsgehalt von im besten Falle 1000 Euro im Monat komme (bei einem Gedichtband jedoch maximal 300 Euro): was gerade die Miete samt Sozialversicherungsbeitrag abdeckt. Wovon ich also lebe? Von Ihnen, wertes Publikum und hochverehrte Jury: von Lesungen und solch einem Preis wie diesem. Von eben jener Instanz also, die ein Schriftsteller, der was auf sein gutes Renommee gibt, stets als solche ausgeben muß, mit der er nicht rechnet, will er sich von den Kriterien der Bestsellerlisten vereinnahmt sehen und in einem Zug mit Rosamunde Pilcher genannt werden.

Kein Verhältnis zur Literatur, weder das Ihre noch das meine, läßt sich auf solch einen Utilitarismus reduzieren; und doch scheint mir der Umstand, daß das Gute, Wahre und Schöne auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden kann, etwas zutiefst Menschliches zu besitzen: er verleiht den Symbolismen der Literatur, mittels deren wir letztlich nur eine existentielle Leere füllen, beinahe eine gewisse Pragmatik – den Anstrich von realem Nutzen. Dabei hat die Geschichte den Buchstaben einmal einen völlig anderen Wert attestiert.
Literatur im Sinne von schriftlich Fixiertem gibt es erst, seit es Städte gibt und Landwirtschaft. Der Grund für diesen Ursprung von Zivilisation, wie wir ihn kennen, liegt wie so oft im Laufe der Evolution in der Umwelt: die nach der letzten Eiszeit kurz einsetzende fruchtbare Feuchtperiode wurde abgelöst durch lange Dürren, die die nomadisierenden Sammler und Jäger zwangen, seßhaft zu werden, Wildgetreide anzubauen, Tiere zu halten. Es ist mit dieser Art der Domestikation, daß auch die Idee der Permanenz einsetzt: und mit den ersten Lehmbauten entstehen auch die ersten Tempel, durch die die Religion ihre Herrschaft behauptet. Damit beginnt Kultur. Und sie rechtfertigt sich, indem sie symbolische Werte institutionalisiert, die einem Gemeinwesen Konstanz verleihen und es im Innersten zusammenhalten: alle Gesetze sind letztlich abstrakte Ideen, denen eine Autorität Gültigkeit verleihen muß.
Wie sich die Ethik sozialen Verhaltens von spirituellen Dogmen ableitete, wurden auch von der Literatur Sprache, Formen und Inhalte aus der Religion übernommen: aus Gebeten und Mythen wurden Gedichte und Erzählungen. Sosehr sich der Autor davon auch zu emanzipieren suchte, nahm er ihre Autorität dabei aber noch oft genug für sich in Anspruch; durch sein vom Hohepriesterlichen abgeschautes Schenialisches bekam er dadurch Spielraum genug, um neben dem Herrenlob auch Herrschaftskritik zu zeigen. Dazu brauchen wir gar nicht weit zurückzublicken: Schillers Idee des Theaters als moralische Anstalt beispielsweise, die volksdidaktischen Aufgaben, die ihm zufolge Literatur spielen sollte, entsprechen dieser zwiespältigen Rolle ebenso wie sie all den Grass’, Walsers und Jelineks immer schon als Legitimation diente, für ihre private Meinung öffentliche Diskussionen einzufordern (daraus hat schließlich die österreichische Literatur am meisten Kapital geschlagen).
Politisch ist Literatur jedoch einzig, indem sie Individuelles exemplarisch darstellt, auch jenseits von Ethik und Moral und abseits aller Dogmen: das ist das Territorium, das sie verteidigt. Sie wäre ein mundtotes Unterfangen, wenn sie dadurch nicht gesellschaftliche Wirkung zeigen und Kultur prägen würde – wie auch jede Religion bloß sektiererisch geblieben wäre, wenn sie neben ihrer Ökumene nicht auch über eine Ökonomie verfügt, keine Latifundien besessen und keine Steuern eingenommen hätte. Doch ob Kirchen, Tempel oder Zikkurate – sie sind stets Prestigebauten einer Wirtschaftsmacht: damals wie heute ist es der Handel, um den sich letztlich alles dreht, und dabei in erster Linie um Geld. Es definiert den existentiellen Spielraum eines jeden ebenso wie die symbolische Währung des Individuellen.
Handelswirtschaft jedoch ist (ebenso wie die Idee des Individuums) ein urbanes Phänomen. Bevor die ersten Städte der Welt – Catalhöyuk oder Uruk etwa – gegründet wurden, lebten und arbeiteten die Menschen im Kollektiv kleiner Farmen, kultivierten Gerste oder Einkorn, jagten Gazellen und anderes Wild und tauschten untereinander das ein, was sie nicht selbst herstellen konnten. In der Mitte des 4. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung aber begann man dann, die riesigen Plattformen der Zikkurate aufzubauen, Paläste zu errichten und Behausungen rings um sie. Um sie und ihre Priesterkaste auszustatten, wurden aus Bauern Handwerker-Maurer, Steinmetze, Gerber, Weber und Silberschmiede. Wo zuvor von verstreut lebenden Familien für den Eigenbedarf produziert worden war, gab es nun innert weniger Jahrhunderte erstmals so etwas wie eine städtische Bevölkerung mit Hunderten verschiedenster Güter, deren Austausch jedoch bald symbolische Formen annahm. Der reale Gegenstand wurde ersetzt durch aus Lehm geformte Tokens-Miniaturen, die ein Schaf darstellten, ein Laib Brot oder einen Ölkrug; aus einzelnen Viehbeständen wurden so auch etymologisch die Pekunien.
Diese Tokens dienten als Zählmarken und als Schuldscheine für die Steuereintreiber der Tempel; sie repräsentierten figurativ drei Hauptgüter einer Handelswirtschaft – die Dienstleistung menschlicher Arbeit, Getreide und Vieh – samt einem Dutzend untergeordneter Kategorien wie Honig, Milch, Wolle, Tuch, Seil, Kleider, Matten, Betten, Duftstoffen, aber auch Metallen. Indem sie diese Dinge darstellten, waren sie Zeichen ebenso wie Währung: ,Geld‘, noch bevor es Geld gab, waren sie gleichzeitig die ersten ,Buchstaben‘. Beständiger Vereinfachung unterworfen, wurden aus diesen Figürchen bald für sich stehende Piktogramme, mit denen eine eigene Kaste von Berufsschreibern Warenlisten anlegte, bis sich daraus im 3. Jahrtausend eine Silbenschrift entwickelte, die nach und nach ganze Texte wiederzugeben imstande war: von Verträgen, Edikten, Briefen bis zu Sammlungen von Sprichwörter, Hymnen und Epen.
Buchhalter also haben die Schrift erfunden, und mit ihr auch das eigentliche Geld. Denn für die Vielzahl verfügbarer Güter gab es anfänglich noch eine Unzahl von Preisen: ein Monat Arbeit waren eineinfünftel Maß Gerste wert, dieses wiederum soundso viele Töpfe Honig, für die man ihrerseits ein halbes Dutzend Schafe eintauschen konnte – was den Preis einer Sandale zu bestimmen zu einem wahren Rechenkunststück machte [Sie war zehn Datteln gleich einem Viertel Weizen gleich zwei Vierteln Bitumen wert; was aber war dann gerade der beste Preis? Und apropos Gewichte: Wußten Sie, daß ein sumerisches ,Talent‘ ein Siebtel eines ,Homer‘ ausmacht, einer Jüdischen Eselslast?] (das führte jedoch dazu, daß die Tempelschreiber schließlich die Mathematik entdeckten; mittels Logarithmen und Exponentialfunktionen ließen sich dann auch der Zins rückständiger Schuldner und die Mehreinnahmen der Steuererhöhungen berechnen).
Für diese Warenbörse war deshalb ein Einheitswert vonnöten: handlicher als ein Schekel Gerste etwa, das zu transportieren ein Esel allein nicht genügte, wurden Silber und Gold dazu bestimmt. Zu ästhetisch ansprechenden Ringen, Spiralen und Stäben gegossen, fehlte es nur noch an einer überregionalen Authentifizierung des Edelmetalls. Und da schon das Alte Testament achtmal vergeblich gefordert hatte, nichts am Gewicht oder der Reinheit des Goldes zu fälschen, ließen Händler ihre Wertzeichen in Stoff wickeln oder in Töpfe füllen und versahen sie mit einem Siegel. Aus diesem wiederum wurden dann die ersten Münzen. Um 600 vor Christus in Lydien geprägt, wurden sie jedoch mehr und mehr aus billigen Legierungen gegossen, ihr eigentlicher Wert zunehmend irrealer. Und wieder ist es eine Autorität, die garantiert, das etwas Symbolisches auch Kaufkraft hat. Wo anfangs aber noch Götter für die Prägestempel der Münzen herhielten, mußte bald auch das etwas profanere Konterfei eines Königs wie Krösus genügen – und schließlich in jüngster Gegenwart noch Gedichte: auf den holländischen Guldenscheinen nämlich, wo sie als winzige Wasserzeichen Fälschungen verhindern sollten.
Doch seit mit dem Geld auch die Idee des Kredits auftauchte, kam es auch schon zu Verschuldungen und Privatkonkursen – und das in solchem Ausmaß, daß schon Hammurabi ein Gesetz erließ, dem zufolge keiner seiner Untertanen dafür länger als drei Jahre versklavt werden durfte. Womit wir wieder bei den Produktionsbedingungen eines durchschnittlichen Romans angelangt wären.

Der parallele Erfolg von Geld und Literatur ist dem Umstand zuzuschreiben, daß sich beide standardisierter Formen bedienten, die von einem Kollektiv übernommen werden konnten. Dabei zeigen sie ihre Gemeinsamkeiten auch im Negativen. Münzen wie Worte erhalten ihre Denominationen erst, indem sie sich im Umlauf befinden; sie werden dadurch aber auch abgegriffen, unterliegen der Inflation ebenso wie der Deflation (man denke nur an inzwischen aus dem Verkehr gezogene Begriffe wie Blut und Boden, Heimat oder Herz) und müssen immer wieder neu geprägt werden.
Doch was bestimmt dann ihren eigentlichen Wert? Idealerweise müßte er sich an Realem messen lassen, an der individuellen Gültigkeit von Realien. Einer solchen Forderung kommt jedoch heute etwas Utopisches zu. Sie bliebe ein bloßer Anachronismus, da sich durch die ursprünglichen Formen des Tausches kein Handel mehr abschließen läßt, sie staatlich geächtet und als Schwarzhandel und -arbeit gebrandmarkt werden. Auf mehr Verständnis stößt da auch die Literatur nicht, wenn sie Privatsprachen entwirft oder dem Ideal einer Übereinstimmung zwischen Zeichen und Ding durch die Onomatopoeien von Lautgedichten oder die Embleme der visuellen Poesie zu entsprechen sucht: wohl oder übel bleiben sie Randerscheinungen auf dem Markt der Kultur.
Denn was mit den Schriftzeichen und Zählmarken eingesetzt hat, ist die Ablöse von Lebenswirklichkeit und Welt; so austauschbar sie einmal waren, so projiziert ist auch ihre Beziehung zum realen Objekt. Aufrechterhalten – und damit auch vergolten – wird sie durch den Überbau eines Kollektivs, der ihre Transaktionen sanktioniert: und das war, wie gesagt, einmal die Religion. Sie bestimmte den Wert dieser Symbole, sie legte fest, was und in welcher Menge einem Gott an Opfern zu zollen war – jene Hunderte von Schafen und Tausende von GetreidescheffeIn, die die sumerischen Tempelschreiber in ihren Listen anführen. Dargebracht wurden sie, indem man sie auf einem Altar verbrannte, der Rest wurde rituell von der Priesterkaste verzehrt (es ist daher, daß der Begriff Parasiten rührt, Mit-Esser): die Götter nährten sich ja nur vom Rauch. Was den Wert eines Gutes bestimmte, war also eine metaphysische Instanz. Daran änderte sich auch nichts, als man das Edelmetall zum Standard aller Werte erklärte: es ist kein materieller Gebrauchswert, der es auszeichnet, für Gerätschaften ist es zu weich, zu leicht verformbar – sondern seine Korrosionsbeständigkeit, seine Seltenheit, vor allem aber: sein Glanz.
Ob nun der Glanz von Göttern oder von Gold und Silber, es ist das Symbolische (und damit auch das Ästhetische), worauf Wertesysteme letztlich gründen. Was für die Religion gilt, trifft auch für die Literatur zu. Ohne greifbaren Gebrauchswert, zollt sie dem Metaphysischen Tribut; und das Symbolische, an dem sie sich abarbeitet, mißt sich daran, wie haltbar es vor der Idee des Ewigen ist, und wie leuchtkräftig. Dabei jedoch ist sie nie mehr gewesen als Rauch im Wind, ein Mahl für Götter, an dem wir alle als Parasiten teilhaben – als Leser und als Juroren, die beständig vergleichen, was sich eigentlich nicht vergleichen läßt.

Gläubige und Gläubiger: die Religion als ideeller Leitzins ist auch durch Ismen ersetzbar. Ob Feudalismus, Kommunismus oder Kapitalismus – sie alle haben neben ihren eigenen Ethiken auch ihre eigenen Sprachetiketten produziert. Damit aber wären wir bei einer modernen Skalierung der Werte. Denn ohne, wie heute erstmals in Europa, das Regulativ einer Ideologie im Hintergrund, die wertschaffend und -bewahrend wirkt, beginnt eine sich verselbständigende Dynamik zu greifen: wo weder Religion oder Rechts und Links politisch noch relevant sind, wird um des reinen Produzierens willen produziert, gerät Werbung zum Träger aller Wertvorstellungen. Was die Wirtschaft betrifft, so haben wir den circulus vitiosus solch deregulierter Überproduktionen täglich vor Augen. Gleiches gilt aber auch hier für den Markt der Literatur, die – auch dies eine Premiere ihren Verlust an gesellschaftlichem Rang durch Überproduktion auszugleichen versucht, daß sich ihr Haltbarkeitsdatum kaum noch auf eine Saison erstreckt und sie sich zunehmend nur mehr an der Werbewirksamkeit von Kritiken mißt.
Der Glaube jedoch, die Literatur könne ihren Wert wiedergewinnen, indem sie diese Marktmechanismen kritisiert, erweist sich dabei als Trugschluß (das zeigen schon die Texte der 70er Jahre, die sich heute nur mehr als Agitprop lesen lassen). Es gibt keine dritte Seite der Münze – Kultur und Wohlstand, das ist die Lektion jeder Geschichtsschreibung, bedingen sich gegenseitig: wobei Wohlstand immer schon eine Rendite war, die die Kultur abwarf.
Joseph Breitbach karikierte diese Naivität, schon bevor sie zum Gesellschaftsspiel wurde:

man beginnt, ein wirtschaftliches Wunder, das aber keines ist, zu bemäkeln; man verdächtigt das Ergebnis von nüchternem Verstand und harter Arbeit. Die Prosperität verderbe den Charakter, heißt es, ein ,selbstsatter‘ Materialismus mache sich breit. Revolutionäre Ethiker zeigen voll saurer Verachtung auf den fetten Spatz in der Hand der Proleten und beklagen es, daß diese der viel mehr Fleisch und seelische Genugtuungen versprechenden Taube auf dem roten Dach keine Achtung mehr erweisen.
Es fragt sich aber, ob man überhaupt mit der Feder den Wohlstand vernichten und, durch literarische Sabotage dieses gefährlichen Feindes, Zustände herbeiführen kann, die endlich wieder kritisierbar wären: Inflation, Arbeitslosigkeit, krasseste Wohnungsnot, kurz, materielles, öffentliche Anprangerung herausforderndes Elend, das die Voraussetzung für eine gewisse Literatur und den Ruhm ihrer Autoren ist.
Dem Volk den Wohlstand zu vermiesen durch Werke, die die Vanitas des guten Lebens aufzeigen, wäre im vorhinein ein verurteiltes Unternehmen, nachdem die Kirche tausend Jahre lang einen nur akademischen Erfolg damit gehabt hat und nachdem seit einem Jahrhundert selbst die miserabilistischste Philosophie und Literatur noch keinem Menschen, am wenigsten ihren Urhebern, den Appetit verderben hat können.
Ich befürchte also, diesmal müssen die vom Wohlstand ihres Landes so tief geschlagenen Kritiker zu Tätern werden: sie müssen ihn physisch vernichten, den Infamen, auf daß sich endlich wieder eine brauchbare, d.h. darstellungswürdige Misere ausbreite. Da gibt es nur ein Mittel: Taten, Taten, Sabotageakte! Sand in die Maschine. Produktionsanlagen, Talsperren einbegriffen, müssen gesprengt, Brände gelegt, Seuchen in Stadt und Land angefacht und unterhalten, die Währung durch Milliardenfalsches Geld untergraben, die sozialen Gesetze durch bestochene Minister und Abgeordnete annulliert und für das alles die Regierung, die Unternehmer und die Führer der Gewerkschaften verantwortlich gemacht werden. Nur die Zeitungs-, Verlags-, und Rundfunkpaläste mit ihrem, den Autoren dienenden Personal müssen geschont werden, damit die endlich wieder möglichen Anklagen die Öffentlichkeit erreichen, wie reduziert durch die glücklich geschaffene Verarmung die Hörer- und Leserzahl dann auch sei.
Wer bei der Sabotage von den erbosten Opfern der wirtschaftlichen Lähmung erwischt und gelyncht wird, hat den Trost, als Widerständler der Tat, als Maquisard, in geheim gedruckten und nur an Kollegen verteilten Lyrikbändchen besungen zu werden.
Gegen die tödliche Gefahr der allgemeinen Zufriedenheit habe ich für meine davon betroffenen Kollegen keine andere Lösung gefunden als die Sabotage der Wirtschaft. Es sei denn, sie würden sich daran erinnern, daß man, statt mit Taten und Waffen und ohne seine Haut zu riskieren, die furchtbaren Folgen des Wohlstandes auch durch gute Komödien abwenden kann.

 

(„Vom Wohlstand geschlagen“, 1958, aus: Joseph Breitbach, Feuilletons zu Literatur und Politik, hrsg. v. Wolfgang Mettmann, Pfullingen 1978)

Satiren sind ein bewährtes Mittel, den Wechselkurs zwischen Gesellschaft und Kultur festzusetzen. Doch Literatur bestimmt den Nominalwert unserer alltäglichen Valuten noch auf andere Weise: da die Religion als ideelles Dogma ohne Bedeutung mehr ist, hat die Literatur begonnen, diese Leerstelle auf ihre so undogmatische und a-moralische Art zu besetzen. Ohne das tertium comparationis einer solchen transzendenten Institution aber sind Geld und Schrift längst zu Kehrseiten geworden, zu Kopf und Zahl.

Diese Komplementarität zeigt sich auch daran, daß der Impetus der Literatur sich grundsätzlich von jeder Geldwirtschaft unterscheidet: mit dieser läßt sich zwar ein Imperium erschaffen (und höchstens noch moderne Malerei als Investitionsanlage), aber kein Buch. Gerade ihre wirtschaftliche Ineffizienz macht sie dabei so effektiv. Denn sie handelt davon, wodurch sich sonst nichts einhandeln läßt: all unseren Wertvorstellungen nämlich. Erst dadurch wird der Autor zu jenem Kontrollorgan, das sie auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin überprüft. In der Wirtschaft mögen dabei solche Ich-AGs bloß Erscheinungsformen von Konjunkturkrisen sein, Übergangslösungen bestenfalls; in der Kultur jedoch werden sie zu einer tragenden Instanz: so gesehen ist die Literatur, was die in Umlauf befindlichen Werte betrifft, der Bundesrechnungshof der Gesellschaft. Und das einzige Mittel gegen symbolische Falschmünzerei.
Denn wo wie bei der Börse jede Art von Handel eine virtuelle Transaktion ist, ein nur mehr auf Kredit beruhendes Termingeschäft, heißt einen Buchstaben aufs Papier zu setzen, diesen Kredit auf seine Realien zurückzuführen – und mit unserer Geschichte stets von neuem wieder zu beginnen: bei Viehbestand und Vögeln, wenn Sie so wollen, mit Spatzen ebenso wie mit Tauben, bei Mensch, Stadt und Natur. Ein Wort zu schreiben heißt immer, es zuerst auf seinen realen Gehalt zu überprüfen, einen Satz auf die Gültigkeit seiner Ästhetik, einen Absatz auf die seiner Ethik. Wo alles nur mehr die plakative Flächigkeit und Glätte von Werbeträgern hat, bietet die Literatur Tiefenschärfen. Und allein dieses Ideelle verleiht ihr, wie gesagt, den Anschein von Einfluß und Macht.

Der eigentliche Wert der Buchstaben liegt jedoch heute darin, daß sie nicht länger Zählmarken mehr sind, sondern Hochrechnungen der Götter. Aus Lehm einmal erschaffen, Dreck wie wir Menschen, sind sie – Lettern wie Götter – durch nichts einlösbar. Doch gerade dadurch tragen sie unsere Vorstellungen vom Schönen und Guten und Wahren in sich. Indem sie sich jedem Zugriff entziehen, sind sie ein Zeugnis dessen, was uns an- und umtreibt: des Niederen in uns, der Ideale vor unseren Augen, der Abgründe zu unseren Füßen. Die niemals jene von Podesten sind, auf die man sich stellt oder gestellt wird. Denn auf ihnen, und vor Ihnen, hochverehrtes Publikum und sehr geehrte Jury, erfährt man nur immer wieder die Tugend der humilitas: des Mittellosen all unserer unbescheidenen Bemühungen, des Unvollendeten allen Strebens, des Mühens, immer wieder von neuem Götter aus Bronze zu gießen, deren Gestalt nie der unseren gleicht, nie gleichen kann. Die Literatur weiß, daß auch sie nur Götzenbilder schafft. Obwohl sie zwar in ihrem Stolz glaubt, nicht um ein goldenes Kalb herumzutanzen, ist der blendende Glanz, der von ihm, aber auch allen Göttern ausgeht, dennoch ein und derselbe: Narrengold.

Raoul Schrott Dankrede für die Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises im September 2004. Dieser Text ist verschwunden.

aus: Raoul Schrott: Handbuch der Wolkenputzerei. Carl Hanser Verlag, 2005

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGIMDbPIADAS&D + ÖM + IZA 12
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumBrigitte Friedrich AutorenfotosBogenberger Autorenfotosgettyimages + IMAGOKeystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

Elefant

fehle Naht? an Land fehlt Elfe! – Naht falte Tal und Feld. – Tell ahnt Falle, lehnt und fällt nah den fahlen Fellen.

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Planet Lyrik an Erde

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Freie Hand

Haupts Werk

0:00
0:00