LEKTOR
Meine Praxis. Ein wackliger Stuhl.
Die Waage. Das kühle Blut.
Das Zünglein mein tauber Geschmack.
Am Haken der griffbereite Hut.
Gespräch mit Richard Pietraß
Ursula Heukenkamp: Lieber Herr Pietraß, meine Fragen richten sich auf die nüchternen Umstände Ihrer Arbeit, auf die Bedingungen, die Sie brauchen und mitbringen. Zuerst möchte ich etwas über die Räume und die vier Wände wissen, in denen Sie und über die Sie ja auch schreiben. Welchen Einfluß haben Wohnungen und ihre jeweiligen Ausstattungen auf das Entstehen Ihrer Gedichte?
Richard Pietraß: Hierauf ist zu sagen, daß ich bisher kaum Regisseur meiner Lebensumstände gewesen bin. Im Grunde habe ich mich darauf beschränkt, die Bedingungen anzunehmen, die Zufall und Gelegenheit mir boten. Meine Kindheit verbrachte ich vom Jahr nach meiner Geburt bis zum Weggehen von zu Hause in einer einzigen Wohnung, die meine Eltern von 1947 bis 1981 innehatten, ehe sie dann ins Altersheim gingen. Das war eine seltsame, man kann sagen eine Notwohnung. Ehemalige Fabrikräume mußten für sie herhalten. Stellen Sie sich den Seitenflügel eines Hinterhauses vor, in dem bisher Polstermöbel hergestellt wurden und in dem jeder Raum Durchgang zum nächsten ist. Eine schmale, zimmerbreite Flucht, beginnend mit dem sogenannten Vorsaal, dem sich die Küche anschloß, der das Wohnzimmer folgte, von dem man schließlich ins Schlafzimmer gelangte, das ebensogroß war wie die beiden davorliegenden Räume. Ein Raum strikt hinter dem anderen, nur die Fenster wechselten etwas, indem sie mal nach Norden, mal nach Süden, zum Glück meist nach Süden schauten. Der gesamte Trakt aber unverkennbar nicht als Wohnung gebaut, denn an der Decke lief, vom ersten bis zum letzten Raum, ein breiter Stahlträger, der dafür sorgte, daß die obere Etage nicht auf uns herniederfiel. Dies war das Zuhause, welches wir bewohnten, und das mir darum die selbstverständliche Behausung war. Natürlich merkte ich später, daß unsere Bleibe nicht typisch war. Und das nicht nur in bezug auf den Grundriß, sondern auch auf das Inventar. Im Unterschied zu den heimischen, sächsischen Familien, die in x-ter Generation ihre Gehäuse bewohnten, waren wir Umsiedler aus Ostpreußen, mit nichts gekommen und davon abhängig, was andere in jenen Jahren entbehren konnten. Was wird das schon gewesen sein? Das Schäbigste vom Schäbigen, freilich im Lauf der Jahre allmählich ausgetauscht, wenn jemand starb und ein Nachlaß anfiel, mit dem keiner etwas anfangen konnte. Sie wissen, gebrauchte Möbel waren lange Zeit nichts wert. Man zerhackte sie, und mancher war froh, wenn sich jemand ihrer erbarmte. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater losziehen mußte, um mit dem Handwagen irgend etwas zu holen, sei es ein Bett oder ein Buffet. Das waren Situationen, in denen ich vor Scham in den Boden versinken wollte. Da habe ich oft auf Zeit gespielt und versucht, diese Aktion in die Dunkelheit zu verlegen, wenigstens in die Dämmerung. Froh war ich, wenn wir auf unserem Weg niemandem begegneten, der uns kannte. Folgerichtig nahm ich lange auch keinen meiner Klassenkameraden mit nach Hause. Daß alles so zusammengewürfelt war, kein Möbelstück zum anderen gehörte, darunter habe ich lange gelitten. Also spielte sich bei uns nie etwas ab, und ich verbrachte fast meine gesamte Freizeit in fremden Wohnungen beziehungsweise auf dem für uns riesigen Wald-, Wiesen- und Teichgrundstück der Familie meines engsten Freundes. Sein Großvater, ein Korbmacher, der zudem noch eine Spielwarenhandlung betrieb, hatte es zu Beginn des Jahrhunderts gekauft, um darauf Korbweiden anzupflanzen. Dieser vielgestaltige Garten mit seinen Fischen, Vögeln und mir versagten Früchten war unser Paradies. Das alles ist Kindheit, in der an Schreiben nicht zu denken war und doch vollzogen sich damals die Prägungen. Ich bemerke nämlich an mir etwas Seltsames: mittlerweile habe ich das, was ich damals gern anders gehabt hätte, angenommen als etwas, mit dem ich mich nachträglich identifiziere. Heute freue ich mich über das ehemals Belastende, tue ich dasselbe wieder. In meinem Arbeitszimmerehen in Marzahn, meinem zweiten Arbeitsplatz, steht ein geschenkter Tisch. Den bekam ich von einer westwärts rüstenden Rentnerin, die ihn an ihrer Haustür annonciert hatte:
ARBEITSTISCH ZU VERSCHENKEN.
Sie war so glücklich über mein Kommen, daß ich gleich noch ein paar Kilo Nägel kriegte, die ich kaum brauchen kann, dazu ein ausgestattetes Werkzeugschränkchen… Jetzt habe ich gerade das neueste Ding an mich genommen, einen Schreibschrank aus den sechziger Jahren, den jemand los sein wollte, um sich nach einer Scheidung auch von ungeliebten Möbeln zu befreien. Meine Frau wehrte sich mit Händen und Füßen, sie ist ein Mensch, der leere Räume liebt. Und ich mag auch gefülltere, genauer: will nicht, daß etwas umkommt. Also habe ich diesen Schrank, der sonst auf die Straße gestellt worden wäre, in mein Zimmerchen gepfercht. Er ist alles andere als schön, aber meine Freude ist, etwas Häßliches zu integrieren, ihm noch einen Sinn zu geben. Das ist meine Leistung. Und im Grunde zeigt dies Jahrzehnte später eine ungebrochene Fortdauer der elterlichen Praxis.
Heukenkamp: Hängen Sie mehr dem Ideal der Seßhaftigkeit an oder denken Sie, daß der Dichter neue Reize und Erfahrungen, einen Wechsel der Umwelt, nötig hat?
Pietraß: Als Sohn eines entwurzelten Bauern habe ich einen geradezu unstillbaren Drang nach Neuverwurzelung. Und doch spüre ich, daß sie mir nie ganz gelingen wird. Preußenkind in Sachsen, Sachsenzunge in Berlin; es bleibt die Erfahrung von Fremdheit, die, und das ist ihr Gutes, wachhält, mich daran hindert, im Eintopf der Harmonie zu verschwinden. Ähnlich geht es mir mit meiner Familie, ohne die ich nicht leben möchte und der ich doch immer wieder für Stunden oder Tage fernbleibe, um mich auf anderes zu konzentrieren. Schreiben, das ist meine Überzeugung, entspringt einem Defizit an Kommunikation. Fließt alles in Gespräche, bleibt nichts fürs Papier. Ich jedenfalls habe eine Abneigung dagegen, Ausgesprochenes auch noch zu notieren. So ergibt sich für mich das Dasein des Pendlers, das Unterwegssein von einem zum andern Behaustsein. Die Wegstrecke – eine gute Stunde. In einem ländlichen Gebiet würde dies bedeuten, daß man in die Kreisstadt fährt. Hier aber bewege ich mich innerhalb Berlins. Leider nicht ohne umzusteigen, aber außerhalb des Berufsverkehrs kann ich lesen, und nicht alles bedarf hoher Aufmerksamkeit. Dieses Pendeln, dies Verlassen und Wiederaufsuchen eines Schneckenhauses, tut mir gut. Ich finde es ähnlich bei einer Reihe von Autoren. Manche wechseln zwischen ihrer Stadt- und ihrer Landwohnung. Der englische Dichter Wystan Hugh Auden pendelte zwischen New York und einem Bauernhof in Niederösterreich. Ausschläge vergleichbarer Weite erfuhr ich auf Reisen; nach Kasachstan, Sizilien oder nördlich des schwedischen Polarkreises. Da fühle ich mich als Weltkind, das überall heimisch werden könnte. Heimat entsteht schnell: das Eisenbahnabteil, das Hotelzimmer, der wiederbesuchte Urlaubsort, der Stammtisch, der Freundeskreis, die Familie, nach der ich Heimweh habe. Reisen macht mir Bindungen bewußter und erleichtert es mir, sie zu bejahen, weil sie mich nicht an die Kette legten. Ich kehre zurück mit dem frischen Blick des Ankömmlings, der für Tage schärfer sieht. So erwerbe ich Augenmaß für das Eigene und das Fremde, indem ich sie einander zur Elle nehme. Zurück zu Prenzlauer Berg und Marzahn. Beide sind eigentlich proletarische Bezirke. Den Prenzlauer Berg bilden Spekulationsbauten, errichtet nach dem Minimalstandard von Gründerzeit bis erstem Weltkrieg. Marzahn ist für mich der Prenzlauer Berg des Jahrhundertendes. Wieder eine mit dem Rotstift konstruierte plebejische Gegend, in die Privilegierte, wenn sie es vermeiden können, nicht ziehen. Für mich ist es hochinteressant zu studieren, was der Rumpfstandard unserer Zeit ist. Er ist natürlich ein anderer. Da ist die Fernheizung, das warme Wasser. Das bedeutet schon einen gewissen Komfort, und für alle. Selbst diese gleichmacherische Umgebung reizt mich. Das ist es, womit ich erklären könnte, warum ich nicht auf bestimmte Bedingungen angewiesen bin. Ich kann jegliches als Erfahrung nehmen, als Studiengegenstand. Das Alte ist hinreichend beäugt. Jetzt sind die neuen Viertel dran. So kommt es, daß ich der von meiner Frau angestrebten wohnlichen Veränderung der Familie eher ein Bremsklotz bin. Während sie unter der allgegenwärtigen Unvollkommenheit und Verfehlung menschlichen Maßes leidet, ist es gerade dieses Dürftige, was mich fasziniert und fordert.
Heukenkamp: Worauf führen Sie Ihren ausgeprägten Sinn für das einzelne, die kleinen Dinge, die unscheinbaren Lebewesen, die unansehnlichen Menschenschicksale zurück? Prägt Sie hier die Ausbildung als Naturwissenschaftler, das heißt das Studium der Psychologie? Oder erwirbt man einen solchen Blick dank einer bestimmten Art von sozialen Erfahrungen?
Pietraß: Das kann ich Ihnen nicht genau beantworten. Ich könnte mir vorstellen, daß das Studium diesen Blick verstärkt hat. Im Unterschied zur Sozialpsychologie, die Gruppen betrachtet, und zur Völkerkunde, die sich Kulturen zuwendet, befaßt sich die Klinische Psychologie mit dem Individuum. Werden Entscheidungen für die Gesellschaft als ganze getroffen, ertappe ich mich dabei, wie ich überlege, was diese für den einzelnen bedeuten. Diese Wahrnehmungs- und Betrachtungsweise einschließlich der Fähigkeit zur Anteilnahme ist bei mir tatsächlich besonders ausgeprägt. Wäre ich Philosoph, würde ich vermutlich allgemeiner denken. So aber hat für mich die Erscheinung, das Handeln oder Betroffensein des einzelnen die stärkste Appellfunktion. Sie sind mir überschaubar, beschreibbar, anschaulich zu deuten. – Wichtigste Eigenschaft, die ein Psychologe haben sollte, ist die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, sich für die Dauer von dessen Rede auch dessen Sicht zu eigen zu machen. Erst wenn dieser fühlt, sein Gegenüber geht mit, versucht ihn zu verstehen, empfindet er sich angenommen und ermutigt, seine Probleme weiter zu entfalten und zu entwirren.
Heukenkamp: Und machen Sie das jetzt auch manchmal?
Pietraß: Ich denke schon. Der größte Gewinn, den das Studium – bei allen Veränderungen meiner Person – mir menschlich gebracht hat, das ist diese Fähigkeit, konzentriert zuzuhören. Noch heute ist es so, daß ich in größeren Runden viel lieber Zuhörer bin als Redner, der unbedingt etwas einbringen muß. Das ist die mir gemäßere Rolle.
Heukenkamp: In Ihren Gedichten kommen häufig Tiere vor, die sich nicht wehren, nur leiden können, aber auch solche Menschen – zum Beispiel in „Desinfektion“ oder „Der Geringste“.
Die Sprache macht sie dann sehr ähnlich, manchmal wird sogar das Schicksal der einen Spezies durch das der anderen überblendet. Ich denke an „Blutzoll“ oder „Die Königin“, auch an das „Stieglitz“-Gedicht. Sind das Resultate von Mitgefühl und Hilfsbedürfnis, die der unmittelbare Eindruck ausgelöst hat? Wollen Sie auf eine Poesie hinaus, die mit allem, was lebt, Mitleid fühlt und Mitleid weckt?
Pietraß: Im Zeitalter des Massenmords berührt nur noch das Einzelschicksal. Wer das weiß, dem ist letzteres nicht gering. Wer heute lebt, hat nicht mehr nur lebenslang Abschied zu nehmen von Individuen in kleinerer oder größerer Zahl. Ihm sagen, verhält er sich nicht wie die drei legendären Affen, täglich ganze Arten Lebewohl. Die noch immer rasant wachsende Menschenhorde drängt fast alles andere Leben auf dieser Erde zunehmend an den Rand und entzieht ihm, aber damit immer mehr auch sich selbst, die Existenzgrundlage. Der Einsicht in diesen galoppierenden Vorgang steht noch immer ein auf der Stelle tretendes Einsatzheer gegenüber. Die Regierungen spielen Schwarzen Peter, und im Inneren reicht die Vorstellungskraft und Handlungsbereitschaft gerade mal fürs Überleben heute. Anders ist die weltweite Tatenlosigkeit, nein, Fortsetzung der Untat nicht zu erklären. Mit Rücksicht auf Volkswirtschaften und deren internationale Konkurrenzfähigkeit werden Fristen beschlossen, die Todesurteilen nahekommen. Deren Komplize darf Literatur nicht werden. Für sie kann es wohlstandsmenschliche Sachzwänge nicht geben, nur die Verteidigung des Existenzrechts alles Lebendigen.
Heukenkamp: In allen drei Gedichtbänden kommen Sie auf das Leben Ihrer Eltern zu sprechen. Und immer sind es Texte über ein schweres Schicksal, über versagte Wünsche, harte Umstände, verbrauchte Körper. Man hat fast den Eindruck, daß sich hier eine Art schlechtes Gewissen des Jüngeren ausdrückt. Sehen Sie ein historisches Unrecht als Verursacher, also etwa die „schweren Zeiten“, oder ein soziales? Oder ist es vielmehr ein existentielles Gefühl der Schuld gegenüber denen, die uns hervorbrachten und nun selber klein und hilflos werden?
Pietraß: Zunächst die Haltung: wahrscheinlich ist es die eines Mitgefühls, eines Mitleidens, das in mir steckt, aber aus Sicht meiner Eltern nicht nötig wäre. Sie waren keine unglücklichen Menschen. Sie waren fähig, ihr Schicksal klaglos anzunehmen und auch dem bescheidenen Nachkriegslos Sinn und Freude abzugewinnen. Aber ich, der ich ihre Biographie kenne, empfand ihr Leben als schwer. Schon als Kind erlebte ich unsere soziale Deklassierung, die wir freilich so gut wie nie frontal zu fühlen bekamen, aber man hatte ein Gespür dafür. Das Schwierigste war, als Umsiedler keine Wurzeln zu haben. Die Vergangenheit unserer Familie liegt in Masuren, wo es mit seinen Seen am schönsten ist. Mein Vater war der zweite von drei Söhnen eines großen Bauern. Nachdem er wie seine Brüder das Gymnasium im hundert Kilometer entfernten Königsberg besucht hatte – für Bauernkinder damals durchaus etwas Ungewöhnliches –, wurde er, obwohl Klassenbester, ein Jahr vor dem Abitur auf die Müllerschule im sächsischen Dippoldiswalde geschickt, ehe ihm mein Großvater dann eine Mühle mit Hof kaufte, die er widerspruchslos. übernahm. Meine Mutter war die zweite von sechs Töchtern eines ärmeren Bauern, der insgesamt sieben Kinder hatte und nur eines von ihnen aufs Lyzeum ins nahe Lätzen schicken konnte. Das war, zu meinem Glück, meine Mutter. Auch wenn sie nach der Lehrerinnenausbildung ihren Beruf nur das eine Jahr bis zur Heirat ausübte, spürten wir später immer wieder dankbar ihren fördernden Verstand.
Heukenkamp: Haben sich Ihre Eltern wirklich nie beklagt, oder hat sie nur keiner je gefragt?
Pietraß: Sie haderten nicht. Sie liebten ihre Herkunft und damit die Jugendhälfte ihres Lebens. Aber ich habe nie gehört, daß sie etwas wiederhaben wollten. Während sich meine Mutter bis ins Alter vor der schmerzlichen Wiederbegegnung schützte, fuhr mein Vater, sobald es möglich wurde und mehrmals wieder, nach Masuren. Ihn niemals begleitet zu haben, ist mein Versäumnis. Als ich soweit war, war er schon zu schwach. Als Student einmal mit der Freundin hingefahren zu sein, kann es nicht ersetzen. Wohl war ich bewegt, doch schwieg vieles, das sonst zu mir gesprochen hätte. Auch fühlte ich mich wie ein Eindringling. – Nach seiner Entlassung aus kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft arbeitete mein Vater zunächst wieder als Müller, und zwar in der Mühle seines sächsischen Freundes aus der Zeit an der Müllerschule. Bereits während des Krieges hatten sie vereinbart, daß im Notfalle jeder von ihnen mit seiner Familie beim anderen Aufnahme finden solle. Ostpreußen wurde eher von der Front erreicht und auf deutschen Befehl Januar 1945 vom Großteil seiner Zivilbevölkerung verlassen. So kam es, daß unsere.Familie in Sachsen landete. Nach Treck und Seeweg, mit dem Zug von Hamburg, alles unter katastrophalen Umständen, mit knapper Not. Eltern und ledige Geschwister blieben in den Westzonen. Nach den Jahren goebbelsscher Propaganda gab es viel mehr Angst vor den Russen als vor den westlichen Armeen. Die meisten Flüchtlingsströme sind auf dem Seeweg im Norden gelandet, in Hamburg und Schleswig-Holstein. Pfarrer Albertz hat darüber berichtet, wie sie nach Süden verteilt wurden. So entstand im Westen eigentlich nur ein biographischer Punkt: Pinneberg, ein Vorort von Hamburg, wo meine Mutter mit ihren vier erschöpften Kindern Unterkunft gefunden hatte. Da ist mein nächstältester Bruder gestorben. Sein Grab aufzusuchen ist mir nicht mehr gelungen. Als ich im Todesjahr meiner Mutter erstmals dorthin fahren konnte, war es schon eingeebnet. Ich muß es so sehen, daß ich mein Leben dem Krieg verdanke, daß meine Eltern in mir den Schmerz über den Verlust dieses einjährigen Säuglings überwinden wollten. Das ist eine schwere Hypothek, daß so viel passieren mußte, damit die eigene Nichtigkeit, damit ich leben darf.
Heukenkamp: Und Ihre Eltern haben Ihren späteren Oberschulbesuch ganz selbstverständlich gefunden?
Pietraß: Nein, überhaupt nicht. Meine Mutter schon. Die Eltern verhielten sich in solchen Fragen sehr unterschiedlich. Meine Mutter war stets die Ermutigerin, die fast jede Initiative begrüßte und mir zuredete. Mein Vater war der Nein-Sager. Der mich fast immer auf später vertröstete: Du wirst in deinem Leben noch genug Kino sehen. Du wirst noch oft genug tanzen. So ein Blödsinn, was willst du dort? So hat er nahezu jeden Plan bagatellisiert oder anders entwertet. Ich weiß nicht, woher das kam. Natürlich war er mit aller Vaterautorität dagegen, daß nach seinen drei ältesten Kindern nun auch noch die beiden Nachzügler die Oberschule besuchen sollten. Wo er so viele Leute kannte, die nur acht Klassen hatten und ihren Mann im Leben standen. Besser sollten wir gleich etwas lernen um schnell Geld zu verdienen. Ich glaube, er wünschte sich baldige Entlastung. Dann, als ich geboren wurde, war er bereits einundvierzig, bei meinem jüngeren Bruder schon dreiundvierzig Jahre alt. Da haben andere ihre Kinder aus dem Haus. Das muß man auch verstehen. So mußte ich – mein Vater war ein strenger Mann, den ich fürchtete – schon alles aufbieten, was ein Kind aufbieten kann: den Lehrer. Den habe ich ihm ins Haus geschickt und den Vater so an seiner schwächsten Stelle getroffen. So mächtig er sich uns gegenüber gebärdete, so schwach war er gegen andere Autorität. So wurde es ein leichtes, ihm das Ja abzuluchsen. Und ich konnte den Weg der Geschwister nachgehen. Sie wurden meine Leitsterne, aber durch den großen Abstand habe ich sie immer nur am Horizont verschwinden sehen.
Heukenkamp: Warum kommen Vater und Mutter niemals zusammen in einem Gedicht vor, sondern immer getrennt und jeder für sich?
Pietraß: Ich finde, sie waren Gegenspieler. Nicht daß sie schlechte Eltern gewesen wären. Im Gegenteil, ich bin ihnen dankbar, daß sie solche Eltern waren, die gerecht waren zu ihren Kindern, keins von ihnen bevorzugten, die eigentlich auch nur für uns lebten und selbst vom Leben nichts verlangten. Ein Satz wie ,Ich will etwas haben vom Leben‘, wäre aus dem Mund meiner Eltern undenkbar gewesen. Aber sie waren oft polarisiert. Mein Vater war derjenige, der litt, unter Habe litt. Woher das kam, darüber müßte ich nachdenken. Er hat oft Sachen weggetragen in eine tiefe Waldschlucht in der Nähe unseres Kleingartens. Wir hatten ein echtes Bärenfell. Das hat mein Vater heimlich in die Schlucht getragen.
Heukenkamp: Aber steht das nicht im Widerspruch zu dem, was Sie ganz am Anfang erzählt haben mit dem Handwagen und dem Möbelholen?
Pietraß: Nein, das waren die Aktionen meiner Mutter. Er war nur derjenige, der sie ausführen mußte. Meine Mutter war die Bewahrerin, sie habe ich mehr verinnerlicht. Ich bin auch, ein Bewahrer geworden. Mein Vater war der Vernichter, der Zerstörer. Der auch über Fremdes verfügte. Er sagte einfach:
Das brauchtest du doch nicht mehr.
So hatte ich, aus instinktivem Interesse an meiner Entwicklung, sämtliche Schulhefte aufgehoben, jene Hefte wo die Einträge der Lehrer drinstanden über das, was ich verbrochen hatte, und vor allem die Zeichnungen und die Aufsätze. An all dem wollte ich mich an meinem dreißigsten Geburtstag erfreuen. Vielleicht auch erschrecken über das Kind, das ich gewesen bin. Ich kam aus Berlin und öffnete mein Schränkchen: alles weg. Mein Vater hatte es, ohne mich zu fragen, zum Altstoffhändler gebracht. Das war eine der schlimmsten Enttäuschungen meines Lebens.
(Nach der Tonbandaufzeichnung eines längeren Gesprächs, das im Dezember 1987 geführt wurde)
Zu: Weltkind
Alexander von Bormann: „Existenzrecht alles Lebendigen“
Der Tagespiegel, 24.6.1990
Richard Pietraß, Nachkriegskind masurischer Flüchtlingseltern, ist über die nicht eben poesieverdächtige Tätigkeit eines Nickelhüttenwerkers und nach einem ernsthaft betriebenen Studium der klinischen Psychologie zur Literatur abgedriftet. Als Verlagslektor unter der Fuchtel von zentralrätlichen Scharfmachern und kleinbürgerlichen Gralshütern marxistischer Ideologie, bot er nach vier Jahren dickköpfig-eigensinniger Arbeit nicht mehr die Gewähr, die Jugend im Sinne deren propagandistisch und personalpolitisch überspitzter Vorgaben zu beeinflussen. Das weltläufige Programm des profunden Lyrik-Kenners enthielt zu viele Namen, denen der Makel spätbürgerlich angehängt wurde. So mußte er, der die Reihe Poesiealbum im Geiste seines Vorgängers Bernd Jentzsch fortgeführt hatte, den Hut nehmen. In einem Vierzeiler hatte er die mangelnde Festigkeit seines Lektorenstuhls zum Verdruß seiner Vorgesetzten vorahnungsvoll publik gemacht. Seit 1980 arbeitet er freischaffend als Lyriker, Nachdichter und Herausgeber auf dem Prenzlauer Berg. Mit essayistischen Äußerungen hat er bislang hausgehalten. Ein Schlüssel zum Verständnis seiner literarischen Botschaften ist der mit wissenschaftlicher Akribie gearbeitete Prosatext „Vom Vergehen der Arten“. Auf Darwin verweisend, wendet er sich gegen wahnwitzige Selbstzerstörung, gegen die vermeintlichen Sachzwänge einer Wohlstandsgesellschaft. Aus der Position des Bewahrers humaner Werte sieht er als unabdingbare Voraussetzung für unser Weiterbestehen die Verpflichtung, allem Lebendigen Existenzrecht zu gewähren. Von dieser Einsicht, von diesem Ethos her sind seine Warngedichte zu verstehen. Von Gedichtband zu Gedichtband ist er stringenter geworden. Zu viele Zweifel, zuviel eigenmächtige Nachdenklichkeit, zu viele unbequeme Fragen, um als staatserhaltendes, systemkonformes Individuum ge- und behandelt zu werden. Ernst Meisters Zeile „und wärs auch Wortspiel, es schafft sich Wahrheit“, das er seinem Band Spielball (1987) bekennerhaft als Motto voranstellte, macht den Reiz seiner Gedichte aus: bedachtsam gebaute und ausgewogene Sprachgeschöpfe, die der ungenauen, verwaschenen Gebrauchssprache mißtrauen. Gegen „die Inflation der großen Worte“, die sich von einer Ära zur andern fortschleicht, stellt er die eigene Wortsuche, die für ihn Identitätssuche ist.
Wulf Kirsten, (Kurz-)Laudatio anläßlich der Verleihung der Ehrengabe der Schillerstiftung, Weimar, 1992
GEBURTSTAGSGEFILDE
Für Richard zum Sechzigsten
Die Sichel mäht die bleichen Wiesen:
„Darf ich bitten oder wollen wir erst tanzen?“
Sie hat den Sensenmann im Griff.
Schafwolle ist liegen geblieben.
Der Heumond verspinnt sie
zu Glast für den Morgen.
Raps reift. Am Mittag flammt der Mohn,
Korn schaukelt auf hohen Halmen.
Ein Rausch durchweht den Wald.
Am Siebenschläfer gilbt das Gras.
Brigitte Struzyk
Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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