ASTRONOMIE IM DEZEMBER
Hier trompeten die Schwäne. Meine
Staatsbürgerliche Lochkarte ach was
Ist sie zerschlissen durch-
Schossen: ein vielfältiger
Sternhimmel an Verfehlungen itzt.
Und immer die verkehrten
Leute getroffen den falschen
Vers drauf gemacht keine
Einsicht gezeigt Tränen
Gelacht – Cassiopeia
Zeigt mitm Finger auf mich.
Schon kurz nachdem meine Mutter im Mai 2013 gestorben und wenig später hier auf dem Grundstück der alten Schule begraben worden war, erreichten mich erste Anfragen, ob es denn noch unveröffentlichte Gedichte Sarah Kirschs gäbe. Dies konnte ich zum damaligen Zeitpunkt nach bestem Wissen und Gewissen nur verneinen. Außer den in der Gesamtausgabe Sämtliche Gedichte enthaltenen waren mir diejenigen in dem mit Rainer Kirsch veröffentlichten Band Gespräch mit dem Saurier (Verlag Neues Leben, Berlin 1965) bekannt – sechsundzwanzig frühe Gedichte, von denen sich meine Mutter später ausdrücklich distanziert hatte und die deshalb auch nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen worden waren.
Zunächst einmal galt es, die noch unvollendeten Veröffentlichungspläne meiner Mutter zu ihren Lebzeiten in die Tat umzusetzen, die Tagebuchprosa-Bände Märzveilchen und Ænglisch. Über diese beiden bei der DVA 2014 und 2015 erschienenen Bände hinaus waren mir weitere Wünsche meiner Mutter über zukünftige Veröffentlichungen nicht bekannt.
Ein großer Teil des schriftlichen Nachlasses einschließlich fast der gesamten Korrespondenz ging in den folgenden Jahren ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach/Neckar. Für die Zusammenstellung sowohl der abzugebenden wie der im Hause verbleibenden Teile des Nachlasses durchstöberte ich zunächst gründlich Sarahs Arbeitszimmer.
Dort fand sich dann auch das Typoskript der Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt/Main von 1996/97, die Anfang 2019 im Wallstein Verlag erschienen sind. Sie enthalten zwar auch Selbstzitate bereits veröffentlichter Gedichte, aber ebenfalls keine unbekannten.
Nachdem nun das Arbeitszimmer und der Rest des Hauses vollständig durchsucht waren, blieb nur der sehr große verwinkelte und unübersichtliche Dachboden. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte ich relativ offen liegend dort mehrere Mappen mit „Akwarellern“ gefunden und natürlich sofort in den beheizten Teil des Hauses evakuiert – das Klima in Tielenhemme zeichnet sich vor allem durch eine hohe Luftfeuchtigkeit aus, die weder Bildern noch Schriftstücken zuträglich ist. Die Erwartung bei der stückweisen weiteren Erforschung des Dachbodens (ein Abenteuer für sich!) war eher, noch weitere Aquarelle zu finden – neben alten DDR-Koffern, einer Schlittschuhsammlung, Bildern anderer Künstler wie etwa Horst Janssen, Ersatzziegeln für das Hausdach, aussortierten Möbeln, dem alten Spinnrad aus den 1980ern (auch ich hatte damit gearbeitet), uralten Langlaufskiern, Christbaumschmuck aus drei Generationen, vielen weiteren Belegexemplaren aller möglichen Sarah-Kirsch-Publikationen, einer alten Singer-Nähmaschine mit Tretpedal, Rucksäcken und Taschen, dreien vollbeweglichen Marionetten aus geschnitztem Holz, alten Obstkisten (glücklicherweise ohne Obst…) usw. usf.
Weitere Aquarelle fand ich schließlich auch noch – und (wirklich! völlig unerwartet) einen großen Karton mit ihrer eigenhändigen Aufschrift „Uralt-Manuskripte. S. K.“!
In diesem ziemlich verstaubten Karton, unter zwei alten DDR-Koffern fast perfekt verborgen, lagen etwa ein halbes Dutzend Typoskripte mit handschriftlichen Anmerkungen meiner Mutter, auch etliches längst Veröffentlichtes. Darunter waren aber auch zwei alte Klemmhefter aus DDR-Produktion („Baschaga-Mappen Müller Leipzig“) mit den Aufschriften „Gedichte“ und „Kleine Prosa“.
Aus dem „Gedichte“-Ordner stammen achtzehn der neunzehn hier neu vorgestellten unveröffentlichten alten Gedichte. Das Gedicht „Astronomie im Dezember“ (1976) fand ich in einer mit elektrischer Schreibmaschine (West) geschriebenen Version in Sarahs Arbeitszimmer.
Der blaue „Gedichte“-Klemmrücken enthielt neben vielen eigenen Gedichten zu mehr als der Hälfte auch ihre Nachdichtungen vor allem russischer Lyrik und die dazugehörigen Interlinearübersetzungen, die äußerst detailliert waren und seitenlange Fußnoten enthielten.
In den 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre waren diese ein wichtiger Bestandteil des „Brotberufs“ – Nachdichtungen u.a. von Novella Matwejewa, Bella Achmaidulina, Junna Moriz und Marina Zwetajewa. Fremde und eigene Texte sind kreuz und quer durcheinander abgeheftet, zum Teil auf normalem (DDR-)Papier, zum größten Teil auf dem extrem dünnen Durchschlagspapier mit der mir nur allzu gut bekannten Reiseschreibmaschine der Marke „Erika“ getippt.
Darüber hinaus waren die eigenen Gedichte oft mit handschriftlichen Kommentaren versehen. Diese Kommentare wurden für mich bei der Beantwortung der Frage, ob man noch einige dieser nie veröffentlichten Gedichte abdrucken könne, zum entscheidenden Hinweis.
Über dem Gedicht „Arbeitsfreier Sonnabend“ steht z.B. der Kommentar „aussortiert“ und zusätzlich zwei Grabkreuze – für mich die eindeutige Anweisung, dieses Gedicht niemals (!) zu veröffentlichen.
Als Nachlaßverwalter eines großartigen literarischen Werkes ist für mich klar, daß ich, um im DDR-Jargon zu bleiben, nur „ausführendes Organ“ des Willens der Dichterin selbst sein kann – sofern ich diesen Willen eben kenne. Dank dieser Kommentare wurden mir die Entscheidungen erleichtert.
Über dem von mir sehr geschätzten Gedicht „Später“ steht nur ein „?“, ein Fragezeichen, wie bei vielen der hier erstmals abgedruckten Gedichte. Andere sind unkommentiert oder, wie im Fall der „Astronomie im Dezember“ später im Westen noch einmal abgeschrieben worden.
In all diesen Fällen hatte ich den Eindruck, selber entscheiden zu können, ob das entsprechende Gedicht veröffentlichungswürdig sei – bei den neunzehn hier vorgestellten (von denen fünf bereits 2017 in der legendären Lyrik-Zeitschrift Poesiealbum veröffentlicht wurden) bin ich mir absolut sicher, daß dies zutrifft.
Bei der Auswahl war ich im Zweifelsfall – ebenso wie meine Mutter – eher zu kritisch als zu nachgiebig, und so habe ich auch etliche mit „?“ gekennzeichnete Gedichte hier nicht mit aufgenommen. Ich hoffe sehr, daß sie mit meiner Auswahl einverstanden sein würde.
Dem Manesse Verlag danke ich, daß er mit dieser Publikationsidee auf mich zugekommen ist.
Naturlyrik? Unpolitisch? Politisch!
Der Auswahl der achtzig bereits veröffentlichten Gedichte lag der Gedanke zugrunde, einmal (für die Verhältnisse meiner Mutter) dezidiert politische Gedichte zu versammeln. Langjährigen Lesern ist natürlich bewußt, daß gelegentliche Vorwürfe von Kritikern, es handele sich bei Sarah Kirsch um „unpolitische Naturlyrik“, offensichtlicher Unsinn sind.
Die Gedichte sind natürlich nicht tagespolitisch, aber den Begriff des „Politischen“ darauf zu verengen, würde eher zu einer Tendenzliteratur wie etwa im Sinne der Kulturvorgaben der Staats- und Parteiführung der DDR führen.
In einem undatierten Interview mit Karl Corino erwähnt dieser, daß meine Mutter in einem früheren Gespräch gesagt habe, daß sie keine Zeile schreiben könnte, wenn sie kein politischer Mensch wäre. Auf die Frage Corinos, wo für sie der Übergang zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem Privaten und dem Politischen läge, erwiderte sie:
Mit „politischen Interessen“ und „politischer Mensch“ meine ich einfach, daß man, wenn man hier und heute lebt, zu gewissen Einsichten und Überblicken gekommen sein muß und diese mit ins Gedicht zu nehmen hat. Das ist auch einfach eine Sache der Lebenserfahrung. Ich glaube, ab dreißig Jahren wird einem manches durchsichtiger. Das Leben ist eben politisch, und man kann sich dem gar nicht mehr verschließen. Man wird ja dauernd mit irgendwelchen Problemen konfrontiert, mögen sie nun innenpolitischer oder außenpolitischer Art sein. Es ist gar nicht anders möglich.
Auch im täglichen Leben abseits des Schreibens war meine Mutter immer ein politischer Mensch mit einer Haltung: So lehnte sie z.B. in den 1980er-Jahren das Bundesverdienstkreuz ab, weil es ihr vom damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens verliehen worden wäre, einem Mann mit NS-Vergangenheit.
Mit einer Frau von Amnesty International kümmerte sie sich ebenfalls in den 80ern um den ukrainischen Dichter Wassyl Stus, der wegen eigentlich harmloser und staatsgefährdender „Vergehen“ nur kurze Zeit nach einer vorhergehenden Haftentlassung auf Jahre zu Straflager auf der Magadan-Halbinsel in Sibirien verurteilt wurde und später unter qualvollen Umständen starb.
Sie schickten ihm Briefe mit internationalem Antwortschein. Daß Stus selbst diese Briefe niemals erhalten würde, war klar, aber man hoffte, daß die Lagerleitung ihn etwas milder behandeln würde, wenn sie realisierte, daß weltumspannend an ihn gedacht wurde, was sich leider als trügerische Hoffnung erwies.
In den Gedichten Sarah Kirschs mischen sich Politisches und Privates fortwährend. „Naturlyrik“ an sich als unpolitisch zu betrachten, erscheint heute im Zeitalter von Klimakatastrophe und Artensterben sowieso als verfehlt. Eine solche Ansicht insinuiert, daß „Natur“ nichts mit dem Leben von Menschen und so auch der Politik zu tun habe – und ist somit per se schon durch das Konstrukt einer solchen Trennung ein Grund der Misere.
In der hier vorliegenden Gedichtsammlung wird das Politische darin deutlich – für die neunzehn Erstveröffentlichungen gilt dies ganz besonders, denn der Grund für ihre damalige Nichtveröffentlichung in der gemeinsamen Sammlung mit Rainer Kirsch Gespräch mit dem Saurier war ganz offensichtlich politischer und nicht literarischer Natur. Ein Gedicht wie „Ahrenshooper Sommer“ z.B. hätte aufgrund seiner politischen Explizitheit niemals in einer Diktatur wie der DDR gedruckt werden können. Andere Gedichte waren nach der herrschenden Kulturdoktrin wohl zu „bürgerlich-dekadent“.
In den frühesten Zusammenstellungsentwürfen zum Sarah Kirsch-Teil des Sauriers waren einige dieser neunzehn Titel noch enthalten, in den späteren fehlen diese dann – ob aus vorbeugender Selbstzensur oder auf Druck des Verlages, ist mir nicht bekannt. Umso erfreulicher ist es, daß sie jetzt, fünfundfünfzig Jahre nach dem Saurier, veröffentlicht werden können.
Moritz Kirsch, im Oktober 2019, Nachwort
eine eminent politische Stimme, frei von Reim- und Denkzwängen, frei von ideologischer Bevormundung. Der von Moritz Kirsch herausgegebene bibliophile Band versammelt neunundneunzig Gedichte, in denen die Idylle fern ist, aber das Zeitgeschichtliche nah und in jeder noch so harmlos scheinenden Gedichtzeile präsent. Die poetische Beschwörung der Büchner-Preisträgerin gilt in Freie Verse nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Umwelt, dem gesellschaftlichen System, das uns prägt und – ob wir es wollen oder nicht – bis in den hintersten Weltwinkel verfolgt.
Von besonderer Aussagekraft sind dabei neunzehn erst kürzlich auf dem Dachboden wiederentdeckte Gedichte. Ausschlaggebend dafür, daß Sarah Kirsch sie seinerzeit zurückhielt, waren offensichtlich politische und nicht literarische Gründe. Im Lichte des unveröffentlichten lassen sich auch dem bereits veröffentlichten Werk nun noch einmal ganz neue Facetten abgewinnen.
Manesse Verlag, Klappentext, 2020
Man kennt Sarah Kirsch als Dichterin der Pappeln und Gräser, des Sommerwindes und der Rauchschwalben, als Naturdichterin im emphatischen Sinne, die ihre Leser in freien Versen neu sehen und staunen lehrt. Neu sehen lernen und staunen sollte nun auch, wer Sarah Kirsch für eine apolitische Dichterin gehalten hat. Denn das war sie keineswegs. Das zeigt ein Glücksfund von neunzehn bislang völlig unbekannten Gedichten, entstanden noch in der DDR. Sie zeigen die Büchner-Preisträgerin als eine eminent politische Stimme, frei von Reim- und Denkzwängen, frei von politischer Bevormundung.
Der von Moritz Kirsch, dem Sohn der Dichterin, herausgegebene Auswahlband Freie Verse enthält neunundneunzig Gedichte, in denen die Idylle fern ist, aber das Zeitgeschichtliche nah und in jeder noch so harmlos scheinenden Gedichtzeile präsent. Die poetische Beschwörung Sarah Kirschs gilt in diesem Band nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Umwelt, dem gesellschaftlichen System, das uns prägt und – ob wir es wollen oder nicht – bis in den hintersten Weltwinkel verfolgt. Von besonderem Wert sind in diesem Zusammenhang neunzehn erst kürzlich auf dem Dachboden wiederentdeckte Gedichte. Ausschlaggebend, dass Sarah Kirsch sie seinerzeit zurückhielt, waren offensichtlich politische und nicht literarische Gründe. Im Lichte des unveröffentlichten lassen sich auch dem bereits veröffentlichten Werk nun noch einmal ganz neue Facetten abgewinnen. Weit entfernt vom aufrührerischen, agitatorischen Ton eines Wolf Biermann oder vom zupackenden Gestus eines Volker Braun findet die Dichterin eine ganz eigene Form- und Bildsprache in der Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart, mit dem jeweiligen System und den Herrschenden.
Manesse Verlag, Ankündigung
Sarah Kirsch, die 2013 verstarb, war in den 1960er- und 1970er-Jahren eine vielbeachtete Lyrikerin in der DDR. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann siedelte sie 1977 nach Westdeutschland über, wo sie ihr dichterisches Werk fortsetzte. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis (1996), dem Jean-Paul-Preis (2005) und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis (2006). In den letzten Jahren erschien ihr Werk vor allem in der Deutschen-Verlagsanstalt.
Nun hat ihr Sohn Moritz Kirsch eine Gedichtauswahl unter dem Titel Freie Verse im Manesse Verlag vorgelegt. Unter den 99 ausgewählten Gedichten befinden sich auch 19 Erstveröffentlichungen. Es sind Dachbodenfunde, die erst nach Jahren in verstaubten Kartons entdeckt wurden. Die meisten dieser Gedichte waren für den ersten Gedichtband Gespräch mit dem Saurier (1965, gemeinsam mit ihrem ehemaligen Ehemann Rainer Kirsch) vorgesehen. Der Grund für die damalige Nichtveröffentlichung lag sicher in der politischen Aussagekraft. So heißt es in dem Gedicht „Ahrenshooper Sommer“:
Ach das Meer ist aus blauem Glas
hervorströmts unterm Scheinwerferlid
ach die Soldaten leuchten so schön
daß niemand nach Dänemark zieht
Die Lyrikerin spielt damit auf die NVA-Patrouillenboote an, die an der Ostsee Fluchtversuche von DDR-Bürgern verhindern sollten.
Auch in den bereits veröffentlichten achtzig Gedichten hat der Sohn Verse mit dezidiert politischem Inhalt ausgesucht. Die Gedichte reflektieren zwar keine politischen Tagesthemen, sie zeigen jedoch, dass Sarah Kirsch, die vor allem für ihre Naturlyrik bekannt ist, durchaus auch eine politische Dichterin war. Ergänzt wird der Auswahlband durch ein Nachwort „Vom Glück, einen Dachboden zu haben“ von Moritz Kirsch. Eine wunderbare Neuerscheinung zum bevorstehenden 85. Geburtstag der Lyrikerin.
Sarah Kirsch, die 2013 verstarb, war in den 1960er- und 1970er Jahren eine vielbeachtete Lyrikerin in der DDR. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann verließ sie im August 1977 mit ihrem kleinen Sohn Moritz das „kleine wärmende Land“ und siedelte nach Westdeutschland über, wo sie ihr dichterisches Werk fortsetzte. Ihre Gedichte zeichnen sich durch eindringliche Bilder und sprachliche Einfachheit aus. Besonders in ihren Naturgedichten fand sie einen unverwechselbaren Sound, mit dem sie ein ganz neues Verhältnis des Menschen zur Natur gestaltete. Obwohl sie mit romantischen Stilelementen die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten lyrisch außer Kraft setzte, lag ihr als diplomierter Biologin nichts ferner als die Verklärung der Natur. Mit ihren Gedichten legte sie statt Idyllen Konfliktstoffe, Ängste und Brüche offen. Die „poetische Landschafterin“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis (1996), dem Jean-Paul-Preis (2005) und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis (2006).
Nun hat ihr Sohn zum 85. Geburtstag (16. April) seiner Mutter eine Gedichtauswahl unter dem Titel Freie Verse im Manesse Verlag vorgelegt. Unter den 99 ausgewählten Gedichten befinden sich auch 19 Erstveröffentlichungen. Es sind Dachbodenfunde, die erst nach Jahren in verstaubten Kartons entdeckt wurden. Die meisten dieser Gedichte waren für den ersten Gedichtband Gespräch mit dem Saurier (1965, gemeinsam mit ihrem ehemaligen Ehemann Rainer Kirsch) vorgesehen. Der Grund für die damalige Nichtveröffentlichung lag sicher in der politischen Aussagekraft. So heißt es in dem Gedicht „Ahrenshooper Sommer“:
Ach das Meer ist aus blauem Glas
hervorströmts unterm Scheinwerferlid
ach die Soldaten leuchten so schön
daß niemand nach Dänemark zieht
Die Lyrikerin spielt damit auf die NVA-Patrouillenboote an, die an der Ostsee Fluchtversuche von DDR-Bürgern verhindern sollten. In „Astronomie im Dezember“ klagt sie „Hier trompeten die Schwäne. Meine / Staatsbürgerliche Lochkarte ach was / Ist sie zerschlissen durch- / Schossen: ein vielfältiger / Sternhimmel an Verfehlungen itzt.“ Schon bald sollten diese Verse einen prophetischen Charakter bekommen.
Auch in den bereits veröffentlichten achtzig Gedichten hat der Sohn Verse mit dezidiert politischem Inhalt ausgesucht. Die Gedichte reflektieren zwar keine politischen Tagesthemen, sie zeigen jedoch, dass Sarah Kirsch, der häufig von Kritikern „unpolitische Naturlyrik“ vorgeworfen wurde, durchaus auch eine politische Dichterin war. In seinem Nachwort „Vom Glück, einen Dachboden zu haben“ betont Moritz Kirsch zudem, dass seine Mutter auch abseits des Schreibens ein durchaus politischer Mensch war. So lehnte sie in den 1980er Jahren die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wegen der NS-Vergangenheit des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens ab oder bemühte sich um den ukrainischen Dichter Wassyl Stus, der zu insgesamt 23 Jahren in Straflagern und Verbannung verurteilt worden war.
Hier trompeten die Schwäne. Meine
Staatsbürgerliche Lochkarte ach was
Ist sie zerschlissen durch-
Schossen: ein vielfältiger
Sternhimmel an Verfehlungen itzt.
Freie Verse heißt das Buch, aus dem diese Zeilen stammen. Der Titel ist Programm: eine Auswahl von 99 veröffentlichten und unveröffentlichten Texten lässt die Dichterin Sarah Kirsch als eine politische Stimme hervortreten, die sich weder in der Sache noch in der Sprache bevormunden ließ. Das leuchtet ein, wurde Kirsch doch vom Staatssicherheitsdienst der DDR observiert und musste das Land verlassen, weil sie 1976 die berühmte Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet hatte.
Und immer die verkehrten
Leute getroffen den falschen
Vers drauf gemacht keine
Einsicht gezeigt Tränen
Gelacht – Cassiopeia
Zeigt mitm Finger auf mich.
Der „sehr große, verwinkelte und unübersichtliche Dachboden“ im Haus der Dichterin erwies sich als Fundort bislang unbekannter Manuskripte, schreibt Herausgeber Moritz Kirsch im Nachwort. Aus zwei Mappen mit den Aufschriften „Gedichte“ und „Kleine Prosa“ besorgte der Sohn der Lyrikerin eine wohlerwogene Auswahl von 19 bislang unbekannten Gedichten. Um darüber zu entscheiden, ob seine Mutter einer Veröffentlichung zugestimmt hätte, orientierte er sich an den handschriftlichen Kommentaren der Dichterin. Kirsch ist sicher, dass die Schriftstellerin Mitte der 1960er Jahre eine Reihe von Texten aus politischen Gründen zurückgehalten hat.
ich sitz aufm Bett
entzieh mich den Stiefeln denk mir was aus was
von riesigen Schiffen mit Flügeln, und Vögeln
die fahrn Kabinen über Land, ich sag dem Piloten
die Positionen, er korrigiert meinen Kurs
über Manila weg nach Sibirien
Texte aus dem Nachlass von Sarah Kirsch sind erstmals 2014 unter dem Titel Juninovember erschienen; sie stammten aus den letzten Lebensjahren der Dichterin. Schon darin war das zeitgeschichtliche und politische Interesse der Dichterin unverkennbar. Auch haben gründliche Leser in ihrer Naturlyrik stets die politischen Elemente herausgehört. Deshalb ist es ein allzu konstruiertes Marketing, wenn auf dem Klappentext des neuen Buches von der „Entdeckung der politischen Dichterin Sarah Kirsch“ gesprochen wird. Gleichwohl schärft der neue Band die Wahrnehmung der politischen Aspekte im Werk der Schriftstellerin.
BÄUME
Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen die zu
Singen vermochten schauten herab.
In Zeiten ökologischer Krisen kann Naturlyrik nicht unpolitisch sein. Viele Gedichte der studierten Biologin Sarah Kirsch lassen daran keinen Zweifel. Zugleich steckt im sprachlichen Eigensinn dieser Dichterin ein Ungehorsam gegenüber der vorgegebenen Grammatik, der von einer freiheitlichen Lebenshaltung zeugt. Auch dadurch ist die Poesie dieser wunderbaren Autorin politisch. Gut also, dass ihr Sohn ein paar unbekannte Text vom Dachboden geholt hat. Denn dort haben Gedichte auf die Dauer nichts zu suchen, wie Sarah Kirsch schon vor langer Zeit in einem ihrer veröffentlichten Verse geschrieben hatte:
Gestern Nacht erwachte ich wußte
Daß ich mich nun von diesen Versen
Verabschieden sollte. So geht es immer
Nach einigen Jahren. Sie müssen hinaus
In die Welt. Es ist nicht möglich sie
Ewig! hier unter dem Dach zu behalten.
– Zum 85. Geburtstag der Dichterin Sarah Kirsch am 16.4.2020 erschien am 2. März eine Jubiläumsausgabe im Manesse Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Es ist ein bibliophiler Band im leuchtend rotem Einband, auf gutem Papier auf der Stempel Garamond gesetzt, mit einem weißen und einem roten Leseband versehen, so, wie es Sarah Kirsch liebte. –
99 Gedichte sind zu lesen, wobei 19 bis vor kurzem noch auf dem Dachboden des Wohnhauses in Tielenhemme aufbewahrt waren, die aus der der DDR-Zeit stammen, wie es der Herausgeber Moritz Kirsch, der Sohn der Dichterin, im Nachwort kund tut. Ihm und dem Verlag war es ein Anliegen zu zeigen, wie sich in den Gedichten Sarah Kirschs Politisches und Privates mischt. Dafür werden auch 80 Beispiele aus den veröffentlichten Lyrikbänden herangezogen.
Im Klappentext liest man:
Die poetische Beschwörung der Büchner-Preisträgerin gilt in Freie Verse nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Umwelt, dem gesellschaftlichen System, das uns prägt und – ob wir es wollen oder nicht – bis in den hintersten Weltwinkel verfolgt.
Im Ankündigungstext des Verlages wird darauf verwiesen, dass Sarah Kirsch „eine ganz eigene Form- und Bildsprache in der Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart, mit dem jeweiligen System und den Herrschenden“ anwandte.
Aus aktuellem Anlass möchte ich das an zwei Beispielen aus dem Freie Verse-Band aufzeigen. Am 29. Januar 2020 ist in Freiburg im Breisgau der Dichter, Schriftsteller und Grafiker Christoph Meckel gestorben, Jahrgang 1935 wie die Kirsch, einige Jahre ein Partner für sie. In dem Gedicht „Datum“ ist aufgeschrieben, wann sich die beiden kennenlernten.
Der kam am 28. Februar, stellte
Sich mir vors Fenster in einem Bärenfell sagte
O wie mir schwindelt…
Sarah und Moritz Kirsch lebten damals im 17. Stock auf der Fischerinsel in Ostberlin, Christoph Meckel wohnte im Westteil der Stadt. Die Geliebte sagt zu ihm im Gedicht dann auch:
Herzschöner wollen wir Julia und Romeo sein?
Der Umstand
Ist günstig, wir wohnen
Wohl in der gleichen Stadt, aber die Staaten
Unsere eingetragenen Staaten gebärden sich, meiner
Hält mich und hält mich er hängt so an mir…
So klingt es bei Sarah Kirsch, wenn sie beim Dichten politisch wird.
Über ihren Geliebten schreibt die Kirsch in einem Brief an Christa Wolf:
Er wäre eine Maßarbeit für mich, aber hier könnte er niemals leben.
Meckel erzählt Sarah Kirsch von Südfrankreich, wohin er sich gern zurückzieht. Sie ist verzaubert und möchte mit ihm in den Süden – aber es handelt sich um das Jahr 1974, sie ist DDR-Bürgerin, die ins westliche Ausland nicht reisen darf. Aber, sie schafft es doch, sich mit Meckel gemeinsam vom 3.9. bis zum 20.9.1974 im Süden Frankreichs aufzuhalten, Verse geben Kunde davon. Man sandte sie, wie sie uns in Limlingerode erzählte, zum Pressefest der L’Humanité, der Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs. Aus dieser erfuhr sie dann auch, wie das Fest verlaufen war.
1976 wurden diese „Datum“-Verse im Lyrikband Rückenwind im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar mit Grafiken von Willy Wolf erst veröffentlicht, in dem die Motive Liebe, Trennung und Einsamkeit vorherrschen, denn in ihm spiegeln sich vor allem ihre Erfahrungen aus der Beziehung zu Christoph Meckel.
Bei Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München, kamen diese Gedichte 1977 heraus. Mehr über diese nicht immer harmonisch verlaufende Beziehung erfährt man aus dem Prosabändchen Tartarenhochzeit, 2003 in der Deutschen Verlags-Anstalt München erschienen, in dem Meckel unter dem Pseudonym Ypsilon auftritt. Daraus las die Kirsch im März des Erscheinungsjahres, als sie in Limlingerode war, und sagte darüber, es handele sich um einen „historischen Roman“ aus DDR-Zeiten. Über das Zusammenkommen der beiden Liebenden in der getrennten Stadt heißt es da:
Jede Nacht mußte er für zwei Stunden zurück über die Grenze. Oh unser großartiger west-östlicher Diwan hier in den Wolken.
Moritz Kirsch wählte für den Band der Jubiläumsausgabe auch das eindringliche Gedicht „Die Ebene“ aus, dem Sarah Kirsch den Hölderlin-Vers „Meine geliebten / Tale lächeln mich an.“ voran gesetzt hat. Diesen Dichter, vor 250 Jahren geboren, verehrte sie. Im Gedicht beschreibt sie „Die großen Bilder“ der Landschaft, die „alltäglich“ auf die Menschen wirken. Aber, diese ist mehr und mehr bedroht. Sie entlässt die Leser mit folgenden vier Zeilen:
Wie gelassen wäre der Abschied
Könnten wir in leichter Gewißheit
Daß diese Erde lange noch
Dauert gerne doch gehn.
Stefan Walter: Das Wichtigste in schöner Auswahl
glarean-magazin.ch, 6.6.2020
Petra Pluwatsch und Martin Oehlen: Schatzsuche auf dem Dachboden: Sarah Kirschs unveröffentlichte Gedichte
buecheratlas.com, 6.3.2020
Bernd Berke: Dichterische Dachbodenfunde
revierpassagen.de, 23.4.2020
VOGELFREI
nach Sarah Kirsch
Komm mir entgegen silberner Sänger
Breite die Flügel aus Krächz mir was
Zu aus scharfem Schnabel ku-ku-ru-ku. Fliegt
Ewig ihr weißblaugefiederten Tauben, ihr
Spechte schlagt zu mit ku-ku-ku-ru
Mit dem fliederfarbenen Schwanz auch du
Adlergroßes furchtbares Tier äugst mit dem
Brennenden Stecher nach mir Ich fühle dich
Tief in der Mitte des Leibs Sommerweiches
Singvögelchen Armdicker Ast aus schwellendem
Holz und blätternden Fingern Blast in unser
Von Vögeln gesträubtes Haar bis die Schwärme
Der Nachtigalln schreien: Ku-ku-ru-ku.
Manfred Bieler
Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch
Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V.
Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995
Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vision
Rheinische Post, 14.4.2000
Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000
Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000
Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000
Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000
Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000
Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005
Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005
Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005
Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005
Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005
Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005
Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005
Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005
Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005
Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005
Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005
Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005
Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010
Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010
Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010
Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010
Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010
Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010
Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010
Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010
Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010
Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010
Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018
Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023
Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.
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