Yves Bonnefoy: Im Trug der Schwelle / Dans le leurre du seuil

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yves Bonnefoy: Im Trug der Schwelle / Dans le leurre du seuil

Bonnefoy: Im Trug der Schwelle / Dans le leurre du seuil

DAS ZERSTREUTE, DAS UNTEILBARE

(…)

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Ja, bei selbst dem Irrtum,
der unterwegs bleibt,

ja, bei dem einfachen Glück, der gebrochenen Stimme.

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Anschwelle (versammeltes Ja, verbranntes
zerstreutes,

Salz
der Gewitter, der steigenden, sich lichtenden,
Asche
der zerstobenen Welten des Wahns,

Frührot, dennoch,
wo Welten zaudern nah den Gipfeln.
Sie atmen, eine dicht
an die andre gedrängt, wie
schweigende Tiere.
Sie regen sich, in der Kälte.
Die Erde ist wie ein Feuer in feuchten Zweigen,
das Feuer wie eine Erde, die man im Traum sah),

und brenne, ja gischte, dann brande
(Leben, Gewölke
wunderbar getrieben, Funkeln,
Enden,
Flügel des Unmöglichen geschlossen wieder)
die Woge unerschöpflich ungehemmt.

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Die Worte
wie der Himmel heute,
sich versammelnd, zerstreuend.

Die Worte wie der Himmel,
unendlich,
jäh aber ganz in kurzer Pfütze.

 

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Nachwort

The imperfect is our paradise.

(Wallace Stevens: „The Poems of Our Climate“)

Dies ist Yves Bonnefoys viertes Gedichtbuch. Es erschien 1975. Zehn Jahre trennen es von dem letzten seiner drei Vorgänger: Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953), Hier régnant désert (1958) und Pierre écrite (1965). Jedes dieser drei Gedichtbücher war unterteilt, in Suiten oder Zyklen, denen ein Fortgang, ein Geschehen, fast so etwas wie eine Handlung abzulesen ist. Kaum eines der Gedichte gilt für sich allein; sie bilden Gruppen, Ketten, Variationen, entfalten ein Thema, schärfen oder lösen einen Konflikt. Nicht selten markiert eines dort, wo es steht, einen Einhalt, ein Abbrechen; andere sind wie Embleme angebracht. Auffällig ist von Anfang an das Verfahren, einzelne Gedichte auf Stimmen zu verteilen, wechselnde oder immergleiche, drohende oder verheißende; Stimmen, deren Träger oder deren Herkunft nicht näher bestimmt werden. In Pierre écrite treten Inschriften hinzu, deren Verse um eine Mittelachse angeordnet sind. Auch diese Inschriften sind, wie auf Grabstelen oder alten Epitaphien, Stimmen, die den Vorübergehenden anreden. Die Sprechenden sind Abwesende, einzelne Tote, und sie bilden zusammen so etwas wie eine Grisaille, vor deren Hintergrund die Farben eines neuen Lebens aufglühen.
Will so jedes dieser drei Bücher als ein Ganzes aufgenommen und bedacht werden, so bleiben die meist kurzen Gedichte, eine bis vier Strophen in der Regel, doch nur lose gereiht. Erst in diesem letzten, umfangreichsten Werk treten dessen Teile zu einer einzigen weiträumigen Dichtung zusammen: sieben „Sätze“, mit jeweils einer eigenen Überschrift; jeder dieser Sätze aus kürzeren oder längeren, häufig strophenartigen Stücken reimloser Verse bestehend; zwischen diesen Stücken, sichtbar markiert, geräumige Pausen, zum Zeichen des Einhalts, des Versagens, Verstummens, doch auch des Atemschöpfens. Die Gestalt dieses vielfach verschränkten Ganzen also trümmerhaft („Achever, ordonner, / Nous ne le savons plus“) zerklüftet, von zerstörenden Kräften gezeichnet, und eben aus der Besinnung darauf im Fortgang der Meditation ein weitverzweigtes, alles durchpulsendes Gesetz und damit, auf seine Weise, Form gewinnend.
Yves Bonnefoy hat jedem seiner Gedichtbücher ein Motto vorangestellt, zwei aus dem Deutschen übersetzte und zwei Zitate in englischer Sprache aus Shakespeares Wintermärchen. Jedes dieser Mottos enthält ein dialektisches Moment, es bringt einen Widerspruch, einen Zwiespalt zum Ausdruck, dessen Explikation und Vermittlung in Bewegung sich durch die einzelnen Stadien des Buches hin vollziehen.
Das früheste Motto steht vor einem Buch, in dessen Titel schon von einem Gegensatz die Rede ist: Bewegung und Reglosigkeit. Es lautet:

Mais la vie de l’esprit ne s’effraie point devant la mort et n’est pas celle qui s’en garde pure. Elle est la vie qui la supporte et se maintient en elle.

 

Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.

Auch die folgenden Sätze aus der Vorrede zu Hegels Phänomenologie des Geistes (II, 3) dürften bei diesem Motto mitgedacht sein und verdienen deshalb, ergänzend angeführt zu werden: Der Geist „gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgendetwas anderm übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.“
Das Motto des zweiten Gedichtbuches, Hier régnant désert, ist knapper, lakonischer:

Tu veux un monde, dit Diotime. C’est pourquoi tu as tout, et tu n’as rien.

 

Du willst eine Welt, sprach Diotima. Darum hast du alles, und du hast nichts.

Wörtlich wird man diese beiden Sätze in Hölderlins „Hyperion“ vergeblich suchen. Wie Bonnefoy schon den Hegel entlehnten Satz umformte, so bietet er hier den zur Formel verschärften Extrakt einer längeren Rede Diotimas im zweiten Teil des ersten Bandes:

Du wolltest keine Menschen, glaube mir, du wolltest eine Welt. Den Verlust von allen goldenen Jahrhunderten, so wie du sie, zusammengedrängt in Einen glücklichen Moment, empfandest, den Geist von allen Geistern beßrer Zeit, die Kraft von allen Kräften der Heroen, die sollte dir ein Einzelner, ein Mensch ersetzen! – Siehest du nun, wie arm, wie reich du bist? warum du so stolz sein mußt und auch so niedergeschlagen? warum so schrecklich Freude und Leid dir wechselt? Darum, weil du alles hast und nichts, weil das Phantom der goldenen Tage, die da kommen sollen, dein gehört, und doch nicht da ist, weil du ein Bürger bist in den Regionen der Gerechtigkeit und Schönheit, ein Gott bist unter Göttern in den schönen Träumen…

In dem Motto dann zu Pierre écrite kehren die Stichworte Tod und Leben, nichts und alles als Sterben und Geburt wieder:

„Thou mettest with things dying; I with things new born.“ – „Du trafest Sterbende, ich ein neu Geborenes.“ (Worte des alten böhmischen Schäfers zu seinem Sohn Clown, in Shakespeares Wintermärchen) Bonnefoy hat insgesamt sechs Dramen Shakespeares übersetzt: Heinrich IV., Julius Cäsar, Hamlet, Das Wintermärchen, König Lear, Romeo und Julia. Die Übersetzung des Wintermärchens erschien 1960. Ihm ist auch der Vorspruch zu unserer Dichtung entnommen:

They look’d as they had heard of a world ransom’d, or one destroyed.

Der Satz findet sich in der Rede eines sizilianischen Edelmanns, mit der dieser dem Spitzbuben Autolycus die wunderbaren Enthüllungen des alten Schäfers berichtet, aus denen Leontes, König von Sizilien, erfährt, daß seine vor sechzehn Jahren als Neugeborenes verstoßene und ausgesetzte Tochter Perdita nicht tot und verloren ist, sondern lebt. Derselben Rede ist auch der als Zitat gekennzeichnete Vers auf Seite 88 entnommen.

Ich mache nur einen unvollständigen Bericht von der Sache, aber die Verwandlung, die ich an dem König und Camillo bemerkte, war Zeichen einer großen Verwunderung; sie schienen fast, so starrten sie einander an, ihre Augenlider zu zersprengen; es war Sprache in ihrem Verstummen, und Rede selber in ihrer Gebärde; sie sahen aus, als wenn sie von einer neu erstandenen Welt gehört hätten, oder einer untergegangenen, solche Verzückung des Staunens war an ihnen sichtbar; doch die klügsten Zuschauer, die nichts wußten, als was sie sahen, konnten nicht sagen, ob der Anlaß Freude oder Schmerz war: aber der höchste Grad des einen oder des anderen mußte es sein.

Die Dialektik von Tod und Leben, Tod im Leben, Leben in und aus dem Tod, von Geburt und Sterben, Untergang und Neubeginn, von Nein und Ja durchzieht nun diese ganze Dichtung, und ihr Titel nennt den Ort, an dem sie unaufhörlich ausgetragen wird. Le seuil, die Schwelle, bezeichnet den Grundbalken oder Querstein einer Tür, über den hinweg man das, wohin diese Tür führt, betritt oder verläßt. Die Schwelle ist demnach eine Marke zwischen einem Hier und einem Dort, einem Draußen und einem Drinnen. Im erweiterten Sinne meint sie den Durchgang selber, den offenen, den verschlossenen, den offen einladenden oder versperrt abweisenden; sie ist demnach Schranke und Verbindung, Ort des Übertritts, des Umschlags, der Entscheidung. Doch nicht wegen dieser Doppeldeutigkeit allein wird sie ein leurre genannt.
Das Wort leurre stammt aus der Falknerei; es kommt von dem mittelhochdeutschen luoder und bezeichnet ursprünglich die Lockspeise, ein Stück Fleisch, oder den aus rotem Leder vogelähnlich gebildeten Köder, womit man den hochgeworfenen Falken auf die Faust zurückzubringen suchte; dann jede andere Lockspeise, auch den künstlichen Köder des Anglers und schließlich, im übertragenen Sinne, jede Art von trügerischer Lockung, Verführung, unbeabsichtigter oder absichtlicher Täuschung. Verwandt sind ihm im Vokabular Bonnefoys rêve, illusion, chimère. Das, was der trügerische Köder lockt, ist le désir, Trieb, Begierde, Verlangen, Sehnsucht, Eros; die doch zugleich das Leben des Lebens, seine Quelle, sein Feuer sind; ein Hunger, dem nichts Endliches genügen kann. Wir sind aber zwiefach Genarrte: als Platoniker oder Utopisten, wenn wir die Erfüllung unseres Begehrens in ein räumliches oder zeitliches Jenseits verlegen, oder über die Zeit hinaus in eine reines Sein, eine „Idee“: als götzendienerische „Realisten“, wenn wir das Begehrte in einem Ding oder einer Person zu haben und zu halten glauben. Beides ist leurre, ein Selbstbetrug, der uns um die einzig möglichen Erfüllungen des Hingangs, der Hingabe bringt.
Je dezidierter Bonnefoy, wie Nietzsche, das Christentum und mit ihm jeden überkommenen Glauben verwirft, desto nachdrücklicher besteht er auf Liebe und Hoffnung als weltsetzenden, sinnstiftenden Kräften, die bei ihm allen Glauben sozusagen in sich aufgesogen haben. Hoffnung bleibt Hoffnung, unverwüstlich, der täuschendste, der trügerischste aller Dämonen, und dennoch zugleich und immer wieder, „weiblich gestaltet, männlich kühn“, Elpore thraseia, wechselnd, wie sie ist, beständig: „Das Leben selbst ist nur durch mich lebendig“; ihre eigenen Worte in Goethes „Epimenides“. Und amour, Liebe, der zur Agape transformierte Eros, sie heißt auch confiance, Vertrauen, und compassion, Mitempfinden, Mitleiden, beide schwesterlich gesellt durch die gemeinsame Vorsilbe, die besagt, daß wir nur durch diese Kräfte als Mit-Mensch leben; die Versiegelung durch das einengend festlegende Selbst- und Rollenverständnis sprengend in der Erfahrung des Ausgeliefert- und aufeinander Angewiesenseins. Zu beiden, confiance wie compassion, gehören dann Handreichungen, Darbringungen, Aufhelfen und Geleit, gehört das Opfer.
Vor ein spätes Gedicht („Wendung“), wo über einen inständig Schauenden, der hier ein Gleichnis des Dichters ist, das Urteil ergeht, „daß er der Liebe nicht habe“, hat Rilke als Motto einen (leicht abgewandelten) Aphorismus seines Freundes Rudolf Kassner, aus dessen „Sätzen des Joghi“, gesetzt, den er als irgendwie für und gegen sich geschrieben empfand:

Der Weg von der Innigkeit zur Größe geht durch das Opfer.

Innigkeit, wie sie hier gemeint ist, und ohne welche es Poesie, wie Hölderlin, Rilke oder Yves Bonnefoy sie verstehen, nicht gibt, – Innigkeit ist nicht augenschließende Abkehr, weichliches In-sich-Ruhen, sondern Sammlung, Fassung, In-sich-Fassung, aus der heraus es dann eines zweiten Schrittes bedarf: des Aufbrechens dieser Fassung, des Entschlusses zum Mit-Sein statt des gewohnten Feststellens, Abstellens und Abschiebens ins Allgemeine, Objektive, Abstrakte.
„Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen? / Nährt zum Dienste denn nicht selber die Parze dich?“ beginnt Hölderlins Ode „Dichtermut“; was er in der späten Fassung derselben Ode, die nun den Titel „Blödigkeit“ trägt, zugleich dämpft und intensiviert:

Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen?
Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?

Geopfert wurde der Überschwang des „verwandt“, des „alle“; geopfert der längst formelhafte Metapher gewordene Bezug auf die Parze; gewonnen wurde ein Zuwachs an Nüchternheit, Konkretheit. Dessen zum Zeichen der Fuß, sein Gehen „auf Wahrem“, „wie auf Teppichen“. Nun könnte man einwenden, „das Wahre“ sei doch ein Abstraktum, das leidigste von allen im vielbeschworenen Bund mit dem Guten und Schönen. Aber trifft das hier zu? Das Wahre sagt hier: das Wirkliche, das Unwiderlegliche, unmittelbar überzeugende, Konkrete. Was könnte konkreter sein als das Wahre, wenn es sich ereignet, in der Zeit, auf dieser Erde, eben dort, wo unser Fuß auftritt? Hölderlin denkt, scheint mir, nichts anderes als das, was bei Bonnefoy présence, Gegenwart, einmal gar co-présence. Mit-Gegenwart, heißt; auch Ankunft, Inkarnation, Epiphanie, das Hic-et-nunc, in dem das Ding Zeichen, das Zeichen Ort wird; unbesitzbar, doch bewohnbar.
Bewohnbar als jederzeit Stätte eines abermaligen Aufbruchs, erneuten Abschieds; andernfalls wir dem Trug der Schwelle erlegen wären, ihren Köder geschluckt und ihn für eine ewig nährende Speise gehalten hätten. Immer wieder, wo wir uns innen, drinnen und gerettet glauben, sind wir schon wieder draußen, vor der Schwelle, der hier, in diesem Leben, nicht und also nie und nirgends endgültig überschreitbaren. Darum: die Schwelle ist Trug, die Erfahrung aber dieses Trügerischen ist die einzige wahre Schwelle, ist wachsende Transparenz, Durchlässigkeit, Betretbarkeit; nicht als ein Hinein-, Hinauf- und Hinübergelangen, sondern als lieu, Stätte, Aufenthalt; „ewiger Augenblick“: Gesicht, vision und visage.
Und es gilt, dies alles fließend, brennend zu halten; der Ort ist Hingang, und damit Vergänglichkeit, ist Verzehr, Abnutzung, Altern, Sterben; beides: eine Quelle, unerschöpflich, und ein schwarzes, ein verbranntes Wasser. Auf diesem aber, im Widerschein, die Bilder. Eines vor allen: das rote Tuch.
Es begegnet uns schon 1965 als robe rouge in einem Gedicht des Buches Pierre écrite. Es kehrt wieder in dem Prosabuch L’Arrière-pays (1972), als das Purpurgewand der Tochter des Pharao auf Poussins „Auffindung des Kindes Moses“, von der Bonnefoy Abbildungen der vielfigurigen späteren Fassungen von 1647 und 1651 in den Band aufgenommen hat. Dem roten Gewand der Ägypterin ist in demselben Buch Mondrians Rote Wolke von 1908/09 verwandt; ihr hat Bonnefoy einen Essay gewidmet, nach dem dann ein ganzer Sammelband den Titel Le Nuage rouge (1977) führt. Diese rote Wolke ist Hieroglyphe, Buchstabe eines unbekannten Alphabets, Ikone, Schatten einer Epiphanie, Zeichen – ein großes Zeichen, „vorausgesetzt man vergesse nicht, daß sein Absolutes nur einen Augenblick währt“. Nicht anders als die sich begegnenden, verwandelnden und wieder sich trennenden Wolkengestalten in dem vorletzen Satz unserer Dichtung, in denen die drei Hauptpersonen des Wintermärchens uns wiederbegegnen: Leontes, der Vater; Perdita, die aufgefundene Tochter; und Hermione, die totgeglaubte Königin, die sich, unter den Klängen von Musik, aus einem vermeintlichen bemalten Marmorbild verzeihend, segnend in die lebendige Gattin und Mutter zurückverwandelt; nicht, wie die Gestalten des Mythos, alterslos, in zeitentrückter Jugendschöne, sondern zeitlich-geschichtlich gealtert, und um so lieblicher, weil wahrer.
Vergleichbares zu den Wolkenmetamorphosen der Gestalten des Wintermärchens in Bonnefoys Gedicht bieten höchstens die Eingangsverse zum vierten Akt im Zweiten Teil des Faust: da, wo Faust im Hochgebirg, zwischen starren, zackigen Felsgipfeln, seiner „Wolke Tragewerk“ sich von ihm ablösen und in zwei Gestaltungen sich verwandeln sieht: ein Cumulus, „riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild… Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen“, und ein Cirrus, „ein zarter lichter Nebelstreif“, „Aurorens Liebe, leichten Schwung“ ihm bezeichnend; die „Gretchen-Wolke“, auch diese, wie die Hermione-Wolke, blickend, anblickend, „holde Form“, „wie Seelenschönheit“ sich steigernd ganz in ein Inniges, Innerliches. Diese Wolkenbildungen sind Spiegel des Gemüts, halb mythisch, halb seelenhaft; wie apollinisch aber, möchte man sagen, wie bestimmt in ihren Umrissen gegen Bonnefoys gewitternden Abendwolkenhimmel: Schiffe, landend, dans un accord de musique, in Bewegung und Farbe abgestimmt aufeinander; dann die drei Gestalten, die Frau zugleich mère de la beauté, mère du sens, Mutter der Schönheit, Mutter des „Sinnes“; Mutter einer Hoffnung nach soviel Stummheit, elle va parler, sie wird sprechen; und zuletzt un nuage rouge: Schiff, aufgeschlagenes Buch, ein Arm, in dem die Glut des Sommers pulst…
Die rote Farbe, in der für Bonnefoy etwas Sexuelles, das Lebensfeuer selbst sich manifestiert, erscheint, wie gesagt, zum erstenmal in dem zweiten Satz dieser Dichtung: im Wasser gespiegelt, vor Tag, als Abglanz der Gewänder der ägyptischen Königstochter und ihrer Mägde. Sie kehrt wieder im dritten Satz „Deux couleurs“, als eine der Farben des „Kindes, das die Welt trägt“. Die andere Farbe ist, genau gesehen, eine Doppelfarbe: ein Blau, das wie an einem Grün entbrennt, das Luft- und Mantelblau der jungfräulichen Mutter; die benedicta viriditas, das Smaragdgrün der Alchimisten, „heilige Wildnis“, „die Flamme, blühendduftend, des Wachstums“ (Hölderlin, „Das Nächste Beste“); zwei Elemente, eines im andern, ein beständiger Austausch.
Und hier erst, in diesem dritten Satz, mit dessen erstem „Ja“ („Oui, tu es ce pays, / Toi que j’éveille…“), beginnt nun auch der Dialog mit der Gefährtin, der geliebten Frau. Sie ist das Ägypten, wo der Sprechende, ein schlafendes Kind, ans Ufer treibt; und sie antwortet. Bei den anderen Stimmen bisher, und auch weiterhin, weiß man nicht recht, wer da spricht, soll es auch nicht wissen, nur hören auf das, was jede dieser Stimmen verheißt, versagt; es sind die lockenden, die verbietenden Stimmen der eigenen Wünsche und Ängste, Stimmen eines Zeugen oder Richters, eines Doppelgängers oder eines Echos. Es sind wohl auch Zauberweisen, Beschwörungen, Orakel; und in dem vorletzten Stück mischen in den chansonartigen Strophen gegen Ende, vor der jähen Rückbesinnung auf den schwarzen Punkt, den blinden Fleck, Erinnerungen sich ein an ein Gedicht François Villons („Belle leçon aux enfans perduz“: „Beaulx enjans, vous perdez la plus / Belle rose de vo chappeau…“), an ein weiteres Gemälde Poussins („Das Reich der Flora“, 1631) und an die amerikanischen flower children der sechziger Jahre.
Nun beginnt auch die eingangs bei dem nächtlichen Erwachen evozierte Örtlichkeit deutlicher zu werden: die Landschaft der steinigen Hochprovence der Basses-Alpes, wo der Mann und die Frau den Sommer verbringen und wohin sie mehrere Jahre hindurch immer wieder zurückkehren; Valsaintes, ein abgelegenes Anwesen, ursprünglich ein dürftiges, später etwas ansehnlicheres Landschloß, dann eine Zisterzienser-Abtei mit dazugehöriger Kirche, nach der Revolution teils zerfallen, teils von Bauern als Gehöft bewohnt, zu Scheuern und Stallungen benutzt; über dem Kirchenschiff der „große Speicher“, der als Schlafraum dient; vor diesen Baulichkeiten eine Schlucht aus hellem Sandstein, zu der das Gelände stufenförmig in Terrassen absteigt; diese Stufen durchschnitten von Fußsteigen, denen sich schmale Feld- und Grasstreifen entlangziehen; südlich der Lubéron, im Osten das Gebirge von Lure, nordwestlich der Ventoux. Dieses Anwesen hat Bonnefoy 1963 erworben, dort verbrachte er bis 1970 die Sommermonate; Instandsetzungsarbeiten wurden in Angriff genommen, mußten jedoch schließlich abgebrochen werden. So blieb dieses „Werk“ unvollendet, ein unerfüllter Traum. Durchaus kein Traum aber war, und ist dann in diesem Gedicht, die Geburt des Kindes, einer Tochter, die sich ereignet wie als Antwort auf die Ergebung in die Unerfüllbarkeit des Verlangens, zu „bauen“, wiederherzustellen .
Das Kind, jedes Kind ist Ursprung, ist Zukunft; ausgesetzt, gerettet. In seinem aus Rohr geflochtenen Korb hebt das Kind auf Poussins „Auffindung“ den andrängenden Frauen seine kleine Rechte grüßend und segnend entgegen, wie auf anderen Bildern der „Anbetung“ das göttliche Kind in der Krippe. So gehört diese Dichtung Bonnefoys zu den seltenen in unserer Zeit, in denen das Kind eine Stelle hat – „l’enfant qui est le signe“; so, daß mit jedem Kind die Welt sich neu ordnet, von ihm her und um seinetwillen einen reineren Sinn gewinnt oder dies, nach einem solchen Zukunft eröffnenden Sinn erneut zu fragen, doch als Aufgabe erkennbar wird. Ich glaube, es ließe sich zeigen, was in Kunst und Literatur fehlt, wo das Kind nicht „sein Auge drin behält“ (Konrad Weiß); wieviel Schändliches, Mörderisches dort sich ausbreitet, wo die Ehrfurcht vor dem Kinde erloschen ist; die wir ihm schulden, die ihm ins Angesicht zu verweigern man für unmöglich halten sollte.
Die Geburt des Kindes in dem fünften Satz des Gedichtes, „La terre“, wird von Schreien vorbereitet und kündigt sich selber durch einen Schrei an. In seiner Epiphanie darin ist es erhöhtes Zeichen: heilend, versöhnend, wie die eherne Schlange; wie „zwischen Mond und Sonne“ der Schmerzensmann am Kreuz; wie in Jean Pauls „Titan“ der Knabe Albano, der sich im Mai „auf einem säulenartigen Apfelbaum aus dem Tag in die Nacht, und aus der Nacht in den Tag wiegt“. Und hier setzt nun auch, streckenweise noch durch andere Stücke unterbrochen, die Litanei der Ja-Sagungen ein, die, gedrängt sich steigernd, den letzten Teil des Gedichtes beherrscht. Sie stärkt und speist sich aus dem Schrei, dem „Freude-Schrei“, der sich als ihre innerste Wahrheit der reinen Nichtigkeit entringt, dem Nichts der Geringheit, des Entzugs, des Mangels als einer Mächtigkeit; der puissance du rien, das wir sind.
Dieses wie gewichtlose rien, ein Angelwort in Bonnefoys Dichtung, dieses „nichts“ als ein von Verneinung überschattetes „etwas“ hat nicht die begrifflich massive Konsistenz des Nichts, ist nicht le néant, das rein Negative, dessen Gegensatz und Aufhebung das erschaffene All, die Totalität des Seienden, wäre. Es meint auch nicht das Scheinhafte, Wesenlose, Eitle, das Nichtige, das sich wichtig nimmt (und wichtig genommen wird). Oder, besser: es meint dies mit, sagt jedoch, farb-, zweck- und begriffslos, das Machtlose, Ohnmächtige, das ganz und gar Preisgegebene; Verlassenheit also, Leere, Wüste, Öde, Mangel, Entbehren, Hunger. Und genau diesem rien, das wir als endlich sterbliche Wesen sind, wird Macht, wird eine reine Mächtigkeit zuerkannt; hat es doch Mund, Zunge, Speichel zu einem Schrei, einem Freudeschrei, der bleibt. Erfahren, angenommen, geliebt als Entzug, als Enteignung, verwandelt dieses rien sich in das Gold des Nicht-Dauerns, Nicht-Habens, Gold der Zustimmung, der Einwilligung, Gold der Willigkeit. Und sein Schrei bleibt, dans sa forme pure; enteignet, und dadurch „reine Form“.
Es steht auch, dieses rien, wenn ich Bonnefoy recht verstanden habe, für das, was Mallarmé den Zufall (le hasard) nannte: die unaufhebbare Kontingenz, das zeitlich und örtlich konkrete (und dadurch in seinen Augen nichtige) Akzidenz, das durch keinen Akt, kein Wunder, keine Erlösung zur Dignität der Substanz, des unwandelbar Gesetzhaften zu erheben ist; nie und nimmer Sein, und doch – wodurch? wie? – im Umschlag, im Blitz, Anfang, Ursprung, unmittelbar (immédiat), unbedingt (obsolu). Und darum, letzten Endes, ist es Bonnefoy zu tun. Wie gelangen wir an den Ort der Unmittelbarkeit, der Gegenwart, der „co-présence où la terre devient parole“, der Mit-Gegenwart, wo die Erde Wort wird, lebendiges, dichterisches, wahres Wort, an Stelle der nur gebrauchten und im Gebrauch verbrauchten Wörter (mots)? Wie werden wir einander durchlässiger, die wir uns doch, mit Hyperions Worten, „innig im Innersten gleichen“? Wie werden wir einer dem andern, statt verschlossener Einzelhaftigkeit, Welt („alle Tiere und Dinge, / alle einsamen Wege, alle Steine…“)? Wie kehren wir zur Einheit zurück, werden wir wieder „einig mit allem, was lebt“? Nicht orgiastisch, im Taumel, exzentrisch hinwegjauchzend von dieser Erde, sondern immer gefaßter, besonnener; zeitlich, alternd, sterblich; ohne doch das Feuer zu verraten, ohne das Wasser der Quelle schmacklos werden zu lassen.
Man hat Bonnefoy gelegentlich einen „metaphysischen Dichter“ genannt; nicht ganz zu Unrecht. Je mehr aber es ihm um das Sein, das Eine, je mehr es um das Eins-und-Alles geht, das jeder menschlichen Fassungskraft entzogen bleibt, desto mehr setzt dieser Dichter (gegen den Neoplatonismus, gegen jede Art von Gnosis) auf das Einzelne, das hinfällig Flüchtige, das Inkarnierte samt dem ihm eingeborenen Tod; setzt er auf Verwandlung, Metamorphose, entwickelt er ein metarhetorisches Verfahren der Metapher und Metonymie, bei dem die Wortbedeutungen selber ins Fließen geraten; um des elementar Konkreten willen, das ihm immer Bewegung, Strömung, Verdunstung ist, nicht dauernde Gestalt. Worte sind nur carrefours, Treffpunkte, Wegkreuzungen; der „Sinn“ wandert in den Worten, durch die Worte. Nichts widerstrebt Bonnefoy mehr, nichts verabscheut er mehr als die Verfestigung, Erstarrung durch Form, Bild, Schrift und Begriff. Und Dichtung ist ihm nicht „Kunst“, die dem Hunger des Menschen das Schöne, ein zeitenthoben makellos Vollkommenes, als, in Ermangelung eines Gottes, Letztes und Höchstes anbietet, vorspielt, vorspiegelt. Kunst, so verstanden, ist ihm in unserer Welt der aufbereiteten, ausgestellten, besprochenen Kulturgüter ein leurre, gegen den ihn der Ingrimm eines Ikonoklasten überkommen kann; wie in dem folgenden Gedicht aus dem Band Hier régnant désert:

Il y avait qu’il fallait détruire et détruire et détruire,
il y avait que le salut n’est qu’à ce prix.

 

Ruiner la face nue qui monte dans le marbre,
Marteler toute forme toute beauté.

 

Aimer la perfection parce qu’elle est le seuil,
Mais la nier sitôt connue, l’oublier morte.

 

L’imperfection est la cime.

 

 

Dies aber galt: zerstören und zerstören und zerstören,
kein Heil als nur um diesen Preis.

 

Das nackte Antlitz tilgen, das im Marmor steigt,
mit Hämmern alle Form zerschlagen, alle Schönheit.

 

Das Vollkommene lieben, weil es die Schwelle ist,
doch kaum erkannt es rasch verleugnen, tot es vergessen.

 

Das Unvollkommene ist der Gipfel.

Durch das ganze Werk Bonnefoys zieht sich diese Dialektik von désir und angoisse, Begier und Angst; von Lebenslust als Todeslust und dem, was sie anhält, zurückbiegt; von Freiheit und Gesetz, Entfesselung und Bändigung; von Paradies und geschichtlicher Erde, arkadischem Glück und Tragik, Drama, Passion; von Element und Kultur – oder wie immer man diese widerpartigen Pole, Kräfte, Tendenzen nennen mag. Nur beide zusammen, im Widerstreit und im Durchgang durch die einzeln erfahrenen Momente ihres Streits, machen „Sinn“, „bedeuten“ über alles Bezeichnen hinaus, sind jeweils „Wort“ in einem Entbrennen, Erglühen und Leuchten; glücklichsten Falls in einem Gesicht mit Augen, einem sprechenden Mund; in einem Körper, der fast Musik wäre, da oder dort, mühelos bewegter und bewegender Einklang in einem Gelenk. „Nur noch der innere Ton müßte wachsen“, heißt es in dem „Monolog des Zuschauers vor den Marionetten“ von Konrad Weiß (1927), „und nur die unhörbare letzte Musik müßte zunehmen, so wäre der neue Adam geschaffen, bestehend wie Fleisch und Blut und wie durch die Kraft, welche das Wort und die Musik miteinander austauschen. Es wäre ein Leib wie Adams und wie der Geschichte…“
„Nur daß“, fährt dieser Dichter im Anblick der vollkommenen Gliedermänner fort – „nur daß uns dieses ganze Schicksal nicht gegeben ist… Und so ist die letzte Musik für uns nicht hörbar; aber sie bewegt alle Zeit nach sich hin.“ Auch davon geht etwas durch diese Dichtung. Und die Person des einzigen in ihr genannten Menschen hat etwas damit zu tun: Boris de Schloezer (Witebsk 1881 – Paris 1969), der Schwager Skrjabins, ein Bewunderer Strawinskys und in seinen musikphilosophischen Aufsätzen der fünfziger Jahre einer der frühesten Fürsprecher der seriellen Musik. Sein Hauptwerk, Introduction à J.-S. Bach, essai d’ esthétique musicale, erschien 1947 (deutsche Übersetzung von Horst Leuchtmann, Hamburg 1964). Mit der Nennung dieses Freundes, mit dem Bericht von seinem Sterben, mit der Frage an die Erde nach der unhörbaren Musik, die wie ein innerer Glanz seine Züge erhellte, kontrastiert, unmittelbar darauf, in einem offenkundig autobiographischen Kontext der Tod des vergifteten Hundes zu Valsaintes. Beides gehört zusammen: jene innere Musik und die in allem Äußeren heute verstummte, das Leuchten auf dem Gesicht des Sterbenden und die „bittere nächtliche Erde“, die das Tier in seinem Todeskampf aufscharrt.
Die fünf Strophen übrigens des zweiten „Satzes“, deren erste drei refrainartig mit den Worten „Plus avant que le chien“ einsetzen, waren, einer mündlichen Mitteilung des Dichters nach, der Keim des Ganzen; das Stück, das sich, nach mehreren Jahren der Stummheit, unerwartet einstellte, sich gleichsam auftrug, ohne fürs erste zu sagen, wohin es wollte. Hier erscheint auch schon die Gestalt des passeur, der in der Übersetzung, notgedrungen, der „Schiffer“ oder der „Schiffsmann“ heißt, während das französische Wort, genauer und abstrakter zugleich, nur denjenigen bezeichnet, der hinüberfährt, der übersetzt; hier also den Verstorbenen, der aufbricht in das unbekannte Land jenseits des Flusses, welcher die Lebenden von den Toten trennt. Er dann ist der für uns nicht zu enträtselnde „Zeuge des Feuers“, eines anderen Feuers; vielleicht, liest die Seiten des Buches, das man ihm mitgibt, wie die Ägypter es auf Papyrus ihren Toten in den Sarg legten oder als Sprüche auf die Mumienbinden schrieben, mit denen sie den Leichnam umwickelten. Aber findet der übersetzende „drüben“ ein anderes Land, eine andere Erde?
Bonnefoy ist ein Dichter des Hiesigen, ein Dichter der Erde, dieser einzigen Erde, wie der späte Rilke, wie Konrad Weiß; ein Dichter des Geschicks der Erde, des Geschicks des Menschen auf dieser Erde. Was das im einzelnen heißt und welche Lehre das einschließt, ist nicht so leicht zu sagen. Die schon erwähnte coprésence liefert ein Schlüsselwort; gewiß auch le simple, das Einfache, das auch das Konkrete, das Wahre, das Heilige wäre: Brot und Wein, ein Baum, ein Weg, doch nicht minder die Salzbüchse in der Küche, der Schwamm, der Kalksack. Als hinge das Schicksal der Erde von uns ab, und als wüßten wir dies. Es hängt von uns ab; wir wissen es. Es hängt von unserem Blick ab. Sehende müßten wir werden. Sähen wir die Dinge sich erhellen wie von dem Morgenlicht einer inneren Musik, sähen wir, schürten wir die Flamme noch in dem Geringsten, dem Nichtigsten, wir sähen, was uns trägt und hält: die (wie auf Berninis Tabernakel in Sankt Peter) „gewundenen Wolkensäulen“, die „Feuer-Pfeiler“ des Nichts-und-alles.

Ein Wort noch über Bonnefoys dichterische Ahnen und Herkünfte sowie über einige Besonderheiten seiner poetischen Verfahrensweise. Drei Namen, allen voran, müssen genannt werden: Baudelaire, Mallarmé. Rimbaud. Letzterem hat Bonnefoy 1961 ein ganzes Buch gewidmet, seine umfangreichste Arbeit; gewiß nicht seine bedeutendste, verglichen mit den späteren Essays, doch vielleicht in der Bündelung der Ansätze und Aussichten eine seiner aufschlußreichsten. Baudelaires „Fleurs du Mal“, Rimbauds „Illuminations“ und „Une Saison en enfer“ sind für Bonnefoy Stiftungsurkunden der modernen Poesie; sie werden vorausgesetzt und liefern für seine Bild- und Wortwelt einen Hintergrund, der, auch ohne ausdrückliche Bezugsnahme, mitspricht. Hinzukommen als Initiatoren (neben Malern der Renaissance, des Barock, der Moderne), als Verwandte, von denen er sich abkehrt, und mit deren Forderungen er sich dennoch weiterhin auseinandersetzt, die Surrealisten.
In ihrer Nachfolge beginnt Bonnefoy um 1947 mit reimlosen Prosagedichten. Doch schon in dem ersten Gedichtbuch treten strophische Gebilde hinzu, häufig in Zehnsilbern oder klassischen Alexandrinern mit gelegentlichen Reimen und Assonanzen. Die Prosa verschwindet dann aus den beiden folgenden Büchern; vierzeilige Strophen, in Alexandrinern mit regelmäßiger Zäsur nach der sechsten Silbe, herrschen vor; einige Gedichte geben sich, der Verszahl nach, als Sonette; auffällig sind zwei kurzzeilige liedhafte Gebilde. Verwandte Kurzstrophen, wie sie bei Rimbaud und Mallarmé nicht selten sind, begegnen uns in dem dritten Gedichtbuch, wo außerdem als neue Form die bereits erwähnten Inschriften erscheinen. Die Langzeilen sind weiterhin meist Alexandriner; die Reime sind seltener geworden, fehlen jedoch keineswegs.
Das Auffälligste nun in dem vorliegenden Gedicht ist das Zurücktreten des Alexandriners und das entschiedene Vorwalten der vers impairs, der Verse mit ungerader Silbenzahl und dementsprechend asymmetrischer Zäsur. Fast völlig verschwunden ist der Reim; zugenommen haben die lied- und spruchhaften Kurzstrophen, nun vorwiegend aus Sechs- und Viersilbern in mehr oder weniger regelmäßigem Wechsel bestehend. Das gleiche metrische Schema herrscht auch in der Mehrzahl der Strophen vor, die insistierend das „Plus avant que le chien…“ des zweiten Satzes aufnehmen und abwandeln. Das einzige Gedicht, soweit ich sehe, in dem – und das dürfte kein Zufall sein – der klassische Alexandriner sich noch einmal hörbar vordrängt: „Je voulais l’enrichir…“, bringt diese Versart als ein Zeichen ins Spiel; handelt es doch von der Versuchung zur Scheinvollendung der endgültigen Form. Auf die eher erzählenden, argumentierenden, rezitativischen Stücke der Dichtung, vorwiegend Zehnsilber mit wandernder Zäsur und häufigem Enjambement, dürfte der englische Blankvers nicht ohne Einfluß gewesen sein.
Das Entscheide selbstverständlich sind nun nicht diese metrischen „Sorten“ und ihre Differenzen, sondern ihr Mit-, In- und Gegeneinander durch das Gedicht hin, der rhythmische Vollzug mit seinen Bögen, Verschränkungen, Stockungen, Brüchen, die diesen korrespondierenden thematischen Durchführungen, Reprisen, Variationen und Kontrafakturen – was alles, zusammen mit den syntaktischen Übergriffen Verspannungen und Kerbungen, eine poetische Diktion bewirkt, die in manchem, und das ließe sich an Beispielen zeigen, der Sprache Hölderlins oder Kleists nahekommt. Sie entspringt wohl auch einer verwandten Intensität des Gemüts, und dem gleichen Verlangen, des Konkreten in seiner bewegten Individuation – nicht minder jedoch in seiner Verklammerung sowohl als seiner Übergänglichkeit – habhaft zu werden.
Es wäre nun ein vergebliches Bemühn, wollte der deutsche Übersetzer diese metrischen Besonderheiten, die für das französische Ohr aus seiner Gewöhnung und durch Rückbezüge eine sinngebende Funktion haben, nachzubilden versuchen. Er kann nur, an eine seit Goethe „freiere“ Behandlung von Vers und Strophe gewöhnt, seine Aufmerksamkeit darauf richten, die gliedernden Verschiebekräfte des deutschen Satzes zu mobilisieren. Versagen muß er es sich, in den Grund zu greifen, Spontaneität zu simulieren; und darf doch, bei allem auferlegtem und eingehaltenem Abstand, nicht nur nachsprechen, wenn das, was er aufs Papier setzt, etwas mehr als nur ein Scheinleben haben soll. Solches existentielle „mehr“ – und also unausweichlich auch „anders“ – in seinem Tun ist unerläßlich, um im Leser wenigstens eine Ahnung zu wecken davon, was in dem Original, über das Mitteilbare hinaus, sich ereignet. Zu Hilfe dabei kam ihm, so hofft er, ein meditativer Grundzug Bonnefoys, der dem Nachsinnenden zu einer Strömung wurde, von der er sich getragen fühlte. Hat er sich dabei, möglicherweise, oft zu sehr auf ihrer Oberfläche gehalten, so geschah es aus Scheu, dem Dichter hineinzureden.
Ein Kompromiß also? Ja, unausweichlich, und nein zugleich: eine Faszination, ein Abenteuer, ein Aufbruch; unaufhörlich von Zweifeln und Anfechtungen begleitet; ein Exerzitium, das nicht mehr beansprucht, als den Leser in Bewegung zu setzen, ihn seinerseits auf den Weg zu bringen. Der „Sinn“ wandert, durch die Worte, von Sprache zu Sprache, von Freund zu Freunden.

Friedhelm Kemp, Nachwort

 

Selbstreflexion und Öffnung

Yves Bonnefoy hat sein poetisches Werk ausgehend von einem surrealistischen Beginn in der Nachkriegszeit in kritischer Distanz zum Surrealismus und in der Nähe zu Paul Celan, Jacques Dupin, André du Bouchet, Philippe Jaccottet u.a. erarbeitet. Gegenüber Dichtungskonzeptionen, die sich endlicher Wirklichkeit entgegensetzen und ihrer ,forme close‘ (so besonders gegenüber Paul Valéry) hat Bonnefoy die Bewegung seiner Dichtung als Zuwendung zu einem ,ici et maintenant‘, als ,réalisme profond‘, getragen von einem ,amour des choses mortelles‘ charakterisiert, dessen noch zögernden Beginn er in Baudelaires Werk gesehen hat, und der gerade in einem Aufnehmen der Endlichkeit in einem ständigen Gegeneinander von ,forme‘ und ,non-formel‘ eine neue, nicht mehr entfremdete Wirklichkeitsbeziehung eröffnen soll. Der Fortgang von Bonnefoys Dichtung von Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953) über Hier regnant désert (1958) und Pierre écrite (1965) zu Dans le leurre du seuil (1975) kann als eine immer neu ansetzende Bewegung beschrieben werden, in der Aufsuchung und Aufnahme dieser anderen Wirklichkeit einen Raum möglicher ,presence‘ zu erkunden und zu ,gründen‘ (,fonder‘), wobei Bonnefoy seine Intention immer entschiedener von anfangs noch – von ihm selbst so genannten – ,gnostischen‘ Tendenzen, von einer ,negativen Theologie‘ ablöst und in bewußter Aufnahme der Tradition der Dichtung des späteren Hölderlin, Rimbauds und des Spätwerks von Rilke diese neue Erfahrung in Strukturen ,hierseiender‘ Wirklichkeit einbezieht. Dans le leurre du seuil, das schon in seinem Titel das Motiv der Schwelle, Ort des ,Zwischen‘, bzw. des Übergangs, verfremdet zum Thema macht, – ,leurre‘ bezeichnet das in Form eines Vogels gearbeitete rote Lederstück, das mit einem Köder versehen, den Falken auf die Faust des Falkners zurückleiten soll, ebenso den künstlichen Köder der Angel, und allgemein Lockspeise, von daher ,Falle‘, ,Betrug‘, ,Täuschung‘ – ist in dieser sich über einen langen Zeitraum erstreckenden und sich, ein für Bonnefoys Konzeption der Dichtung zentrales Moment, in Lebenszusammenhängen überprüfenden Entfaltung, die von zahlreichen dichtungstheoretischen Arbeiten und Untersuchungen zur bildenden Kunst begleitet ist, in denen Bonnefoy sein Werk immer mehr in den Kontext einer Kritik des epochalen Nihilismus und seiner Destruktivität gestellt hat, der am weitesten vordringende und zugleich reflektierteste Versuch, da in ihm die Erfahrung einer ,présence‘, einer Einheit von Wissen und Sein, Sein und Bedeutung nach ihrer anfänglich direkteren Bindung an die Todeserfahrung, wie Bonnefoy in einer Befragung durch Le Monde formuliert hat, mehr als in den vorausgehenden Dichtungen als eine ,unité vécue‘1 in einen Lebenszusammenhang aufgenommen und in ihrer Beziehung zu ihm reflektiert ist. Dies wird auch darin sichtbar, daß in der großangelegten, in sieben sich selbst wieder in verschiedene Einheiten untergliedernden Abschnitten aufgebauten Dichtung die noch relativ große Einheitlichkeit und Stilisiertheit der Sprechweise des früheren Werkes zugunsten einer Vielfalt des Sprechens aufgegeben ist, in der ekstatische Äußerung, eher reflektierende bzw. berichtende Formen und an sakrale Sprache erinnernde Wiederholungssequenzen nebeneinander stehen und in die auch Wörter der Alltagssprache (,telévision‘, ,fourgonette‘ / ,Lieferwagen‘, ,cuisine‘, ,macon‘ u.a.) wie auch auf eine außerpoetische Realität verweisende Namen (so der Name des Musiktheoretikers Boris de Schloezer; ,montagne de Vachères‘ u.a.) aufgenommen sind. Bonnefoy hat der Dichtung ein Zitat aus Shakespeares Wintermärchen „They look’d as they had heard of a world ransom’d, or one destroyed“ vorangestellt, das ihre Grundspannung von Rettung bzw. Zerstörung einer Welt und damit den universellen Anspruch des Gedichts deutlich macht. Seine in einem von Beginn an interpersonalen Raum einer Beziehung zu einem andern sich vollziehende Bewegung einer aufbrechenden Distanz von Sinn und Wirklichkeit, die über eine in das Unbekannte einer Todeserfahrung unternommenen Suche zu einer ekstatischen ,présence‘ – Erfahrung (im Teil ,La Terre‘) führt: – „Je crie, Regarde, / la lumière / Vivait là près de nous! … /“ (…) „Je crie, Regarde, / Le signe est devenu lieu“ – „Ich rufe, Sieh, / das Licht / da, bei uns, lebte es! … /“ (…) „Ich rufe, Sieh, / das Zeichen ist der Ort geworden“ (62f., 70f.) – und sich in deren reflektierender Integration in ein geschichtliches, auf die Utopie einer ,présence‘ bezogenes, ihre Gefährdetheit einbeziehendes Bewußtsein fortsetzt (insbesondere in der Aufnahme von Motiven aus Shakespeares Wintermärchen, wie in die Dichtung, die sich damit auch in eine geschichtliche Kontinuität stellt, auch andere Motive aus bildender Kunst und Literatur, so z.B. Poussins Gemälde Moise sauvé des eaux (1638), Mondrians Bild Le Nuage rouge und Mallarmés Tombeau de Verlaine, eingearbeitet sind), läßt dabei von Beginn an einen realen Ort, ein in Umgestaltung befindliches ,maison‘ in einer durch andeutende Nennung eines Namens (,montagne de Vachères‘) als wirkliche gekennzeichneten Landschaft aus den verschiedenen Sprechperspektiven heraus sichtbar werden, ein in die Dimension des ,inconnu‘ reichender Ort eines gemeinsamen Seins („… Cette maison … / … / … Irrévelée, / Trop grande, trop mystérieuse pour nos pas, / Ne faisons qu’effleurer son épaule obscure“ –: „dieses Haus … / … /… Unoffenbart, / zu groß, zu geheimnisvoll für unsere Schritte; laßt uns nur seine dunkle Schulter streifen“ (122 f., 124 f.)), in dem, Inkarnation des Offenen, des Möglichen, die Geburt und Präsenz eines Kindes – im Kind hat Bonnefoy, wie er in einem anderen Zusammenhang formuliert, die „in sich selber einzig wahre, einzig offenbare ,Erscheinung‘ dessen, was in der letztlich unreifen (im frz. Text ,naif‘, G. B.) Vorstellung Gottes sich immer wieder sucht und verliert“2 gesehen – eine zentrale Bedeutung zukommt. Diese Bewegung der Suche und Integration wird in dem abschließenden Teil „L’épars, L’indivisible“ / „Das Zerstreute, das Unteilbare“ in einer umfangreichen Sequenz von mit „Oui, par…“ / „Ja, bei…“ eingeleiteten, an sakrale Sprache erinnernden Sätzen, die dem Differenzaufbruch des Anfangs gegenüberstehen, in ein diesem Prozeß als ganzem zustimmendes Bewußtsein aufgenommen, das sich in dem als ,Trug‘ reflektierten und so aufgehobenen ,Trug der Schwelle‘ – einem möglichen Eintritt in ein dem Endlichen gegenüber anderes, als das Bonnefoy in der von Beginn an zugleich Dichtung reflektierenden Bewegung des Gedichts auch das vom ,désir‘ erzeugte, Totalität setzende ,Bild‘ (,L’Image‘) verstanden hat – zugleich in einer erneuerten Erfahrung der Schwelle weiß, nun gerade einer Geöffnetheit für das erscheinende Endliche, ,Hierseiende‘: „Oui, par l’arche brisée / Du seuil / Dont nous avions trouvé la pierre manquante / – Passe, fleuve de paix, fais refleurir / L’oeillet de cette rive“ – „Ja, bei dem geborstenen Bogen / der Schwelle / dessen fehlenden Stein wir gefunden hatten – fließe, Friedensfluß, laß sie erblühen wieder, / die Nelke dieses Ufers“ (126 f.) und, bereits im vorhergehenden Teil („Les Nuées“ / „Die Gewölke”): „… / De l’enfant qui joue sans limite sur le seuil / Tu accomplis le voeu puisque tu acceuilles / La terre, qui excède le désir“ – „… / das Kind, das grenzenlos auf der Schwelle spielt. / – du erfüllst ihren (unter anderen evozierten Erscheinungen, auch des Kindes, G. B.) Wunsch, weil du / die Erde aufnimmst, die das Begehren übertrifft“ (106f.) Sinnfülle und Entzug, Totalität und Punktualität, die Sphären des Universellen, des poetischen Worts und des empirisch Wirklichen verbindet das Gedicht abschließend in einer dialektischen Struktur, die in der Verknüpfung von Präsenz und Absenz auf einen nicht mehr im ,Bild‘ vorgestellten, wohl aber durch seine Vermittlung evozierten Raum ,hierseienden‘ und zukunftsbezogenen Lebens verweist, den zu erschließen man als die bedeutende Leistung von Bonnefoys selbstreflexiver, sich immer in einem Lebenszusammenhang und als ,approche‘ verstehenden Dichtung bezeichnen kann: „Les mots comme le ciel / Aujourd’ hui, / Quelque chose qui s’assemble, qui se disperse. // Les mots comme le ciel, / Infini / Mais taut entier soudain dans la flaque brève“ – „Die Worte / wie der Himmel heute, / sich versammelnd, sich zerstreuend. // Die Worte wie der Himmel, / unendlich, / jäh aber ganz in kurzer Pfütze“. (138f.). –
Mit dem sprachlich vielstimmigen und in seiner Bedeutungsintensität auch gefährdeten Dans le leurre du seuil hat Friedhelm Kemp, der mehrfach französische Lyrik der Moderne übertragen hat und von dem aus Bonnefoys Werk bereits die Übersetzungen der Dichtung Hier regnant désert und des Prosastücke vereinigenden Bandes Rue Traversière vorliegen, einen sicher extrem schwer zu übertragenden Text übernommen, dem er, wie er im Nachwort darlegt, unter der Zielsetzung, nicht nur durch bloßes ,Nachsprechen‘ ein Scheinleben zu erzeugen, in einem Verfahren des bei aller gesuchten Textnähe auch Sinnverschiebungen und -veränderungen einschließenden Nachgestaltens gerecht werden will. Es soll diesen Versuch in seinen gelungenen Passagen nicht diskreditieren, wenn konstatiert wird, daß es Kemp zuweilen nicht glückt, das bei Bonnefoy spannungsvoll Verbundene, Alltäglichkeit, Reflexion und Intensität der auf die ,présence‘-Erfahrung bezogenen Sprache vor einem Auseinanderfallen zu bewahren und auch manche Sinnverlagerung bzw. -verschiebung problematisch erscheint. Von dem beschriebenen Prinzip des Nachgestaltens her, das der Übertragung zugrundeliegt, ist wohl auch zu verstehen, daß Kemp ein wichtiges Bauprinzip der Bonnefoyschen Dichtung, die wiederholende Verwendung von so an Intensität gewinnenden und Verweisungen erstellenden Wörtern, insgesamt – auch an Stellen ohne ersichtliche sprachliche oder kontextuelle Notwendigkeit – in einem eher Variationen ins Spiel bringenden Verfahren (so z.B. das häufige ,barque‘, ,Kemp‘ ,Nachen‘, ,Kahn‘, ,Barke‘) aufzunehmen scheint. Zu kritisieren ist der den Leser in eine falsche Richtung weisende Untertitel des Bandes, ,Gedichte‘, der statt der in den franzöischen Ausgaben enthaltenen Bezeichnung ,Poeme‘, ,Dichtung‘, ,Gedicht‘, steht.3 Eine kenntnisreiche und erschließende Einführung in die Dichtung, die sie in das Gewebe des sich vielfach reflektierenden Gesamtwerks von Bonnefoy sowie in geschichtliche Zusammenhänge europäischer moderner Dichtung (u.a. Hölderlin, Rilke, Eliot u.a.) stellt, und in die Dichtung aufgenommene Realitätsbezüge und -verweise erläutert, gibt Kemps Nachwort, mit dem der Band neben biographischen und bibliographischen Hinweisen zu Bonnefoy abschließt. In der anstehenden breiteren Rezeption des bedeutenden und kühnen Versuchs Bonnefoyscher Dichtung und Reflexion unter Einbeziehung der kritischen Potentiale moderner Sprach- und Dichtungskritik, die er in der sich in ihrem ,leurre‘-Charakter selbst reflektierenden poetischen Sprache in sein Werk aufgenommen hat, in einer als Zeit wachsender Bedrohung erfahrener Gegenwart, dem von ihm erinnerten Wort Hölderlins vom ,dichterischen Wohnen‘4 folgend, die Möglichkeit einer freien, nicht entfremdeten Weltbeziehung des Menschen zu erkunden und offenzuhalten, stellt die zweisprachige Publikation von Dans le leurre du seuil einen wichtigen Schritt dar, auf den bald weitere Übersetzungen folgen sollten.

Götz Braun, Park, Heft 26, Dezember 1985

Dichter der jüngeren Generation

– Das Erfahren von Sprache und Welt bei Jean Tortel, Yves Bonnefoy und André du Bouchet. –

(…)

Die gegenwärtige Lyrik erfährt bei ihrem Entstehen stets die Fremdheit des Wortes, durch das sie sich verwirklichen soll, sowie die Ferne der Welt, die in der Sprache Ausdruck finden könnte, Daher leben diese Dichter in einer fortwährenden Dialektik lyrischen Empfindens, aus der die Botschaft ihrer Poesie hervorgeht, nämlich jene, daß die Möglichkeit des Lebens und der Sprache in der Realität des Todes und des Schweigens zu finden ist.
Niemand unter den jüngeren zeitgenössischen Lyrikern Frankreichs hat diese Wesenszüge tiefer seinem Werke aufgeprägt als Yves Bonnefoy, der hinsichtlich Natur und Dichte seiner Lyrik in unmittelbarer Nachfolge René Chars steht. Seine Dichtung Du Mouvement et de l’immobilité de Douve5 wird am eindringlichsten durch jene Grundnote der Suche gekennzeichnet, die in der jüngeren französischen Lyrik bestimmend ist. Wie Edouard Glissants Les Indes6 zeigt Bonnefoys ,Douve‘-Dichtung eine dialektische Tendenz. Bei Glissant entspricht das dialektische Moment der dargestellten geschichtlichen Wirklichkeit. Demgegenüber ist die dialektische Bewegung bei Bonnefoy nicht auf die äußeren Ereignisse beschränkt. Das Gedicht ist hier der Ort einer Erfahrung, der Zugang zu einem Geheimnis, nicht aber die einfache Übertragung eines Gefühls –, einer Idee.
Wenn diese Dichtung eine zusammenhängende Meditation über das Bewußtsein vom Tode durch die sprachliche Schöpfung hervorbringt, so stellt sie nicht so sehr eine poetische Ausmalung dieses Bewußtseins dar, als vielmehr den Raum, in welchem der Dichter es am Ende eines inneren physischen und geistigen Kampfes entdeckt.7 ,Douve‘, die seltsame Gestalt dieser Dichtung, ist zugleich der Tod selbst und die Poesie, eine bestimmte Frau, ein Seelenzustand oder eine Idee. Sterbend, tot, wieder lebend, mit der Natur verschmolzen, bald Kraut, bald Feuerstein, oder eins mit dem Bewußtsein und der Sprache, beweglich und unbeweglich, Mänade, Phönix, Salamander, weiblicher Körper oder halb verblichene Freske auf den Mauern einer Kapelle, in ihrer Doppelsinnigkeit und in jener Vielzahl der Metamorphosen verkörpert ,Douve‘ das poetische Wort selbst.8 Die Poesie wird zum Thema dieser Dichtung. Zu Beginn jedoch erscheint die Poesie vereitelt, ist ,Douve‘ tot. Dieser Tod wird zu allem, was im Bereich menschlicher Erfahrung sich als negativ darbietet, in Beziehung gesetzt: physische Zerstörung, Schweigen, Ohnmacht des Wortes, Abwesenheit; Tod und Dichtkunst werden identisch, und Bonnefoys Dichtung ist zunächst ein Grabgesang:

O douée d’un profil où s’acharne la terre
Je te vois disparaître.

 

L’herbe nue sur tes lèvres et l’éclat du silex
Inventent ton dernier sourire
.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 25)

Statt einer endgültigen Vision der Verzweiflung erfährt der Dichter angesichts des Nichts das Ereignis der Wiederauferstehung. Erst in einem dialektischen Prozeß, der erkennen läßt, daß zwischen Abwesenheit und Gegenwart, Schweigen und Sprache ein Übergang besteht, und mehr noch, daß Sprache sich nur auf Schweigen, Leben nur auf Tod gründen kann, erhält Bonnefoys Dichtung Sinn und Bewegung. Eine Gegenwart, die des verklärten Realen, kann die ewige Abwesenheit des Absoluten erträglicher werden lassen. Du Mouvement et de l’immobilité de Douve ist ein Aufweis dieser Abwesenheit; Hier régnant désert9 weist einen möglichen Weg zur Anwesenheit; Pierre écrite10 ist der Gesang jener endlich umfaßten und gefestigten Gegenwart:

On a réconcilié la fièvre. On a dit au cœur
D’être le cœur. Il y avait un démon dans ces veines
Qui s’est enfui en criant.

 

(„Art de la poésie“, Pierre écrite)

Es ist eine Gegenwart, die sich im lebendigen Mittelpunkt des Menschen, im organischen Zentrum seines Fühlens und Denkens, verwirklicht, dem Ruf des dichterischen Wortes Folge leistend.
Die unbestimmbare und unaufweisbare Eigenschaft des Objektes, jenes ,unwahrscheinliche‘ Absolute, das Bonnefoy „présence“ (,Anwesenheit‘, ,Gegenwart‘) nennt, ist nicht durch begriffliches Denken zu begründen, weshalb diese Lyrik eine unmittelbare Evidenz durch Aufweis von Gebärde, Physionomie, Nuance, Gewebe oder Leidenschaft erstrebt und von allen traditionellen Ergebnissen wie Farbe, Wesen, Eigenschaft oder Begleiterscheinung absieht, die ein analytisches Erforschen des Dinges darbietet. Daher unternimmt Bonnefoy in jedem seiner Gedichte unaufhörlich den Versuch, eine unmittelbare Erfahrung des ,unwahrscheinlichen‘ Absoluten zu erlangen. Was logischen Mitteln verwehrt ist, bleibt den schöpferischen Kräften des Traumes und der Phantasie vorbehalten. Das Gefühl der Anwesenheit wird dennoch nicht durch einen naiven und glücklichen Akt der Phantasie hervorgerufen. In bewußter Abkehr von Eigenschaften, die ein verstandesmäßiges Erforschen in den Dingen zu erkennen anstrebt, nämlich Gesetzmäßigkeit und Klarheit, läßt Bonnefoys Dichtung Formen erstehen, die ein Gefühl von Wirrwarr, Flüchtigem, Zerrissenheit, Dichte und Undurchdringbarkeit erwecken. Unter allen Dingen ist es der Stein, der in dieser Lyrik eine bestimmende Rolle spielt, denn er erscheint als eine absolute Nacht der Materie.11p.c., S. 213 Ohne Lebenszeichen, ohne inneren Raum, aus dem die Kraft eines Ausdrucks schöpfen könnte, weist der Stein durch seine Dichte jeden Gedanken ab und entmutigt alle Versuche des Durchdringens und der Verwandlung. Die Gedrängtheit dieser trägen Masse ist schwindelerregend, weshalb ,Douve‘ die Anwandlung befällt, die alles überwindende ,Hypnose des Steins‘ mitzuempfinden, die vielleicht in die vollkommene und rohe Ursprünglichkeit des Seins führen könnte:

Quelquefois, disais-tu, errante à l’aube
Sur des chemins noircis,
Je partageais l’hypnose de la pierre,
J’étais aveugle comme elle
.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 53)

In L’Improbable12 wird der Stein in seiner ,irréfragable présence‘ und damit als strengstes Äquivalent für die Allgemeingültigkeit eines Begriffs gesehen, während er in Du Mouvement et de l’immobilité de Douve als Ort der Anwesenheit des Todes erfahren wird: 

Regarde, diras-tu, cette pierre:
Elle porte la présence de la mort
.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 65)

In Pierre écrite, wo der Rolle des Steins noch der Sinn des Monuments zukommt, wird dieser – ein Stein mit Inschrift, ein sprechender Stein – zum Überbringer einer Botschaft. Ein Winkel des Geheimnisses der Welt scheint erleuchtet; der Stein, als Freund der Toten, versöhnt sich mit dem Tod. Die Botschaft wird indessen erst allmählich kund; ein vielfältiger Dialog scheint sich zwischen Stein und Dichter auszuweiten. Es ist auffallend, daß viele Gedichte dieser Sammlung den Titel „Une pierre“ tragen, einige andere wiederum mit „Une voix“ bezeichnet werden. In der Tat sind „pierre“ und „voix“ als Doppelgänger zu betrachten; die ,Stimme‘ stellt gleichsam einen anderen Grad des dunklen Bewußtseins dar. Der starren Beharrlichkeit des Steins setzt Bonnefoys Dichtung die unsichtbare Beweglichkeit des Windes entgegen, der, unendlich offen und leer, ohne Antlitz und Gestalt, eine Art agressiver Faszination der Abwesenheit verkörpert.13 Der Wind wird hiermit zu einem dem Stein gleichwertigen imaginären Zeichen. Der Wind, der als ein Nichts oder als „le seul vent de finitude“, als „stérilité“ oder „nuit de vent“ (Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 55, 57, 66) erfahren wird, entfaltet sich als die lebendige Verneinung und eine das Erlebnis des Todes einleitende Kraft. Als fühlbarste Formen des Chaotischen und Zufälligen, als Bilder eines unendlichen Gewebes, in denen die Auflösung des Seins in eine Verflechtung ohne Anfang und Ende sichtbar wird, ersinnt Bonnefoys Lyrik Erscheinungen aus dem Bereich des Pflanzlichen: Gras, Blattwerk, Wald.14 Das Gras wird als das alles verheerende Gestaltlose, als die sinnlose Beständigkeit einer zerstörerisch einwirkenden Dauer erfaßt, die in Spalten und Fassaden eindringt, um Gestalt und Ausdruck entstellend zu verdecken. Ein Zerstreuen oder vielmehr ein Auflösen des Seins in ein endloses Geflecht und Gewebe wird durch ,Douve-Wald‘ verkörpert, bald zu ,Douve-Fluß‘ geworden, um sich dann wiederum in eine gänzlich träge und unendlich geteilte Materie, den Sand, zu verlieren, der eine wahrhaft verstreute Realität und die totale Verneinung jeder Einheit darstellt. Durch ein Eintauchen und Verschlungenwerden in Wasser und Sand gelangt ,Douve‘ zu ihrem wesentlichen Selbst: ,Douve‘ ist nunmehr eine unbestimmbare und unermeßliche Passivität, eine unbewegliche Bewegung (,mouvement‘ und ,immobilité‘ zugleich): 

Douve sera ton nom au loin parmi les pierres,
Douve profonde et noire,
Eau basse irréductible où l’effort se perdra
.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 76) 

Die imaginäre Suche in Bonnefoys Lyrik erreicht ihr Ziel in einer wesentlichen Widersprüchlichkeit, in einer paradoxen Wende, die sich im Zentrum des Augenblicks vollzieht, wenn dessen Flüchtigkeit den höchsten Grad erreicht hat, wobei der Augenblick unbeweglich zu werden scheint; eine lebendige Zeitspanne der Unbeweglichkeit aber ist Bonnefoys „éternité de présence“. Das Sein bekundet sich in der Blöße und Flüchtigkeit des Jetzt, das Heil geht aus Zerstörung hervor, der Tag entsteigt der nächtlichen Verwirrung:

Tu as pris une lampe et tu ouvres la porte,
Que faire d’une lampe, il pleut, le jour se lève.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 78) 

Archetypische Figuren greifen die Paradoxie des Seins auf: Mänade, Kassandra, Phönix, Salamander. Neben diesen mythologischen und allegorischen Figuren, die eine Art Ontologie des Paradoxen einbeziehen, greift Bonnefoy unmittelbarere Formen auf, die, ohne in die Nähe des Begrifflichen zu geraten, das plötzliche Hereinbrechen der Gegenwart fühlbar werden lassen. Dies geschieht durch das Bild des Schreis oder das des Gesangs eines Vogels. In solcher Offenbarungsweise des Seins charakterisiert Bonnefoy den Versuch der Natur, von der beharrenden Trägheit der Materie abzulassen. Schrei und Gesang erscheinen als unmittelbare Folge einer Zusammenballung von Materie. Es handelt sich hierbei um eine zur festen Einheit gewordene Kraft, die sich über die Trägheit einer chaotischen Welt der Materie erhebt. Das Schlußgedicht der Sammlung Hier régnant désert, „L’oiseau des ruines“, läßt begreifbar werden, daß der Vogel, der sich aus dem Felsen zu lösen scheint, in Wahrheit aus diesem geboren wird und die lebendige, organische Fortsetzung der kompakten Masse eines Felsendaseins ist:

L’oiseau des ruines se sépare de la mort,
Il nidifie dans la pierre grise au soleil,
Il a franchi toute douleur, toute mémoire,
Il ne sait plus ce qu’est demain dans l’éternel.

Losgelöst von aller Vergangenheit des Empfindens und der Erinnerung, in Unwissenheit angesichts des Werdenden des Morgens einer Ewigkeit – verwirklicht sich der Vogel in reiner Gegenwart, in einem Sein, das sowohl ein Bewußtsein von Vergangenem und die darin unaufhörlich erwachenden Regungen des Gefühls als auch ein Erwarten von Zukünftigem aufgegeben hat. Das Tempus des Verbs – „il a franchi“ – deutet Stillstand und Vollendung eines Seins an, das, nur auf sich selbst – auf seine statische Anwesenheit – bezogen, die Möglichkeit des Werdens („il ne sait plus ce qu’est demain…“) außer acht gelassen hat.
Innerhalb der drei Gedichtsammlungen Bonnefoys erfolgt eine stete Wiederkehr bestimmter Bilder, die ihren Inhalt durch ein Ineinandergreifen und ein inneres Orchestrieren fortwährend bis zu einem Punkte vertiefen, an dem Vergleichendes und Verglichenes sich vermischen und einswerden, wenn die Metapher in der realen und erlebten Identität aufgeht. Die Wiederaufnahme der immer gleichen Schlüsselwörter, die teils in ihrem konkreten, teils in symbolischem Sinne verwendet werden, hat zur Folge, daß die materielle Realität von einem Widerhall metaphysischen oder seelischen Erlebens erfüllt wird. Durch die in Bonnefoys Lyrik unaufhaltsam vollzogene Identifizierung von Gegenstand und Bild – der Mensch wird, lebend oder tot, nicht mit dem Laubwerk verglichen, sondern mit ihm gleichgesetzt – tritt zutage, wie sehr die dichterische Phantasie in einer pantheistischen Anschauung wurzelt.15 Es handelt sich dabei um einen Pantheismus existentieller Prägung, in welchem beispielsweise der Schlaf, in dem Maße wie er die Berührung mit der lebendigen Welt der Natur aufhebt, als Tod erfahren wird, demzufolge während des Schlafes der Baum als „arbre d’absence“ gilt:

Eaux du dormeur, arbre d’absence, heures sans rives, Dans votre éternité une nuit va finir.

 

(Pierre écrite, S. 19)

Den Tod selbst zeichnen der Natur gemäße Bilder wie „fruits qui tombent“ oder „plages vides“. (Pierre écrite, S. 18) Wenn der Tod nicht mehr besteht, so deshalb, weil es dem in vollendeter Harmonie mit der Natur lebenden Menschen erlaubt ist, in seine eigene Natur, in der die Welt enthalten ist, einzugehen, „puisque tout est en nous“, oder in fortwährender Berührung mit der Unendlichkeit an der Allnatur teilzuhaben wie jedwede Frucht, welche die Unbegrenztheit ihrer Art schon in sich trägt: „le fruit qui illimite l’arbre“; die Allnatur als integrierende Einheit aller Dinge drängt den Tod in die Abwesenheit und Ferne:

Vaguent au loin les morts au désert de l’écume, Il n’est plus de désert puisque tout est en nous

 

(Pierre écrite, S. 12) 

Die Dichtung Bonnefoys wird zu einer Art mystischer Kontemplation, deren Ziel die Offenbarung der universalen Anwesenheit, der absoluten Einheit ist. Da die fühlbare Wirklichkeit Bonnefoy außerhalb des Ausdrückbaren zu liegen, jenseits aller sagbaren Bedeutung zu bestehen scheint, wird die begriffliche Sprache als unfähig erachtet, die Anwesenheit des Seins zu erfassen. Der Dichter ist demnach außerstande, das Wesen des Seins zu benennen, jedoch ist er bestrebt, sich ihm zu nähern, es mittels der Suggestionskraft von Worten wachzurufen. Hierbei wird sich Bonnefoy der Gefahr des begrifflichen Denkens bewußt und verwirft mit Heftigkeit ein Konzeptualisieren der Dichtung, das er bei Mallarmé und Valéry verwirklicht sieht.16 Während bei Mallarmé durch den Akt der Sprache ein Gedanke, eine Idee an die Stelle eines Gegenstandes tritt und die Dichtung als ,un mensonge glorieux‘, als ein System von Begriffen hervorgeht, sucht Bonnefoy die Wahrheit des Wortes, ist er darum bemüht, den sinnlichen, realen Gegenstand durch die Sprache darzustellen, den Gegenstand selbst und nicht die abstrakte Vorstellung desselben wachzurufen.17 Desgleichen zeigt sich Bonnefoys Gegensatz zu Valéry, der die rein abstrakte Vorstellung eines Gegenstandes, d.h. dessen Begriff, erstrebt, wohingegen Bonnefoy den in seiner Individualität erfaßten Gegenstand beansprucht.18 Bonnefoys Anspruch steht zugleich im Gegensatz zu surrealistischen Tendenzen, denn sein Blick ist auf die endlichen, realen Gegenstände der Nähe gerichtet, ohne jemals nach einem schimärischen Anderswo zu suchen:

Il ne faut pas chercher le plus vrai réel dans un ailleurs chimérique, mais dans chaque être et dans chaque chose, en les saisissant dans leur finitude éclairante, dans leur mort. (Rimbaud par luimême)19

Bonnefoy findet in den Dingen eine Art Offenbarung: der Gegenstand, der in seiner individuellen, einmaligen, vergänglichen Realität und in seiner unersetzbaren Einzigartigkeit erfaßt wird, enthüllt die Anwesenheit des Seins in seiner Gesamtheit. Bonnefoy ist gefangen von dem flüchtigen und individuellen Aspekt eines Gegenstandes, von dessen Besonderheiten und Unregelmäßigkeiten sowie von allem, was dem Gegenstand eine Einzigartigkeit verleiht, durch die dieser sich von dem begrifflichen Sein unterscheidet. Daher ist der Dichter auch durch den augenblicklichsten, vergänglichsten Aspekt des Blattes ergriffen – sein leichtes Rauschen im Wind:

O dans le bruissement du feuillage de l’arbre Soit le masque aux yeux clos du rêve déposé!

 

(„L’épaule“, Pierre écrite)

Bonnefoy erfährt den Reiz vergänglicher und einzigartiger Dinge, deren Kern oftmals sogar ungreifbar erscheint; ebenso wird seine Aufmerksamkeit auch durch Gegenstände von einer gewissen Dichte und Undurchdringbarkeit wie der Stein in Anspruch genommen. Die äußerste Einfachheit des Steins zieht Bonnefoys Interesse an. Fest und hart, völlig berührbar, ist sein rauher Stoff der begrifflichen Welt gänzlich entgegengesetzt. Der Charakter des Nicht-Begrifflichen offenbart sich in der realen und konkreten Natur des Steins, in seiner Nüchternheit und Blöße, seiner unebenen Oberfläche und unregelmäßigen Form sowie in den vielfältigen Tönungen seiner Farbe. Es ist von Wichtigkeit, zu bemerken, daß die Gegenstände eine große Rolle in Bonnefoys poetischer Suche spielen. Bonnefoy, der das begriffliche Vorstellungsvermögen verabscheut, stützt sich auf seiner Suche nach dem Sein auf völlig reale, sinnliche, zumeist berührbare oder zumindest sichtbare Gegenstände, um über diese sich der sinnlichen, wahren Realität zu nähern, von der er sich ausgeschlossen fühlt. Vorerst gilt es, die Gegenstände aus der begrifflichen Vorstellung zu lösen, in die man sie eingefangen hat. Das Sein in seiner Fülle wird für einen kurzen Augenblick mittels eines in seiner Individualität erfaßten konkreten Gegenstandes wahrgenommen. Die Gegenwart des Seins ist sowohl in dem Schrei des Vogels als auch auf dem Blatt des Efeus oder dem Schaum der Woge eingefangen. Von der Erfahrung der Anwesenheit des Seins führt der Schritt zur integrierenden Einheit aller Dinge:

On touche dans le sensible l’unité profonde de tout.

 

(L’Improbale, S. 27)

In Pierre écrite hat Bonnefoy die Nähe der Einheit, die Verewigung des Flüchtigen am eindringlichsten verwirklicht. So erlangen die in ihrer eigenen Flüchtigkeit und absoluten Einmaligkeit erfaßten Gegenstände wie der Stein, das Blatt, das Laubwerk, der Baum oder spontane Äußerungen wie der Schrei des Vogels oder Elemente wie das Wasser und das Feuer einen intensiven poetischen Wert. Sie erwecken Bonnefoy die tiefere Wirklichkeit und enthüllen die Anwesenheit des Seins.
Die Gegenstände werden zumeist in ihrer Note des Vergänglichen, unter einem Zeichen sich anbahnender Zerstörung oder des Zerfalls wahrgenommen, denn ihre wahre Existenz wird erst in dem Bewußtsein ihrer bedrohten Endlichkeit, „leur finitude éclairante“, voll erfaßbar. Blatt, Laubwerk, Frucht und Baum werden von unermeßlichem poetischem Wert, weil sie als der Zerstörung geweihte Dinge erscheinen: „Le pays du début d’octobre n’avait fruit Qui ne se déchirât dans l’herbe…“ („La parole du soir, Pierre écrite); „Dieu qui n’es pas,… Renonce-toi en nous comme un fruit se déchire…“ („La Lumière, changée, (Pierre écrite); „Cime affreuse des arbres crevassée Par le gel!“ (Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 60). Das Mal der Zerstörung, auf dem Gegenstand der Betrachtung wahrgenommen, wird von Bonnefoy in eine unmittelbare Beziehung zur Suche nach einer tieferen, jenseits der äußeren Erscheinungen liegenden Wirklichkeit gesetzt. Diese Betonung der Aspekte der Zerstörung gipfelt in dem Thema des Todes, dessen Rolle es ist, die Anwesenheit des Seins durch eben jene Verneinung, deren Ursache der Tod selbst darstellt, zu gewährleisten. Das Todeserlebnis des Dichters gilt als ein unaufhörlicher Versuch, das, was nur Endlichkeit ist, als vernichtet zu erfahren, um durch das Wort die wahre Anwesenheit des Seins zu begreifen. In der Zerstörung des vergänglichen Wesens findet sich das wirkliche Sein wieder. In dem Augenblick, da der Dichter von dem Gefühl des Todes und der Abgeschiedenheit erfaßt ist, wird er sich der Wirklichkeit des allumfassenden Seins bewußt. Diese ,reinste Gegenwart‘ erfordert, um verwirklicht zu sein, das Erlebnis des Todes, des Zerreißens der Materie:

La lumière profonde a besoin pour paraître
D’une terre rouée et craquante de nuit.
………
Il te faudra franchir la mort pour que tu vives,
La plus pure présence est un sang répandu.

 

(Du Mouvement et de l’immobilité de Douve, S. 42) 

Der Tod wird in Bonnefoys Dichtung demnach nicht als eine endgültige Zerstörung oder Vernichtung gesehen; er ist vielmehr eng mit dem Wesen des Seins verbunden, denn angesichts der Allheit des Seins sind die Grenzen, die der Tod zu setzen scheint, verwischt, und der Tod selbst, der somit seine zerstörerische Note verliert, wird in der unbegrenzten und unteilbaren Gesamtheit des Seins aufgehoben. Im Verlauf dieser Dichtung wandelt sich das Klima des poetischen Todesgefühls. In Du Mouvement et de l’immobilité de Douve ist die heftige Wirkung der Zerstörung, die vom Tode ausgeht, allerorts wahrnehmbar. Wie diese so ist auch die folgende Gedichtsammlung Hier régnant désert von der Heimsuchung des Todes erfüllt.
In Pierre écrite hingegen erfolgt, ganz im Sinne der als Motto vorausgehenden Shakespeare-Verse („Thou mettest with things dying; I with things new born“), eine Wende zum Leben, wobei mehr als zuvor der Reiz der in ihrer Flüchtigkeit und Vergänglichkeit einzigartig bestehenden Dinge den Dichter gefangen hält.

(…)

Ferdinand Simonis: Nachsurrealistische Lyrik im zeitgenössischen Frankreich, Carl Winter Universitätsverlag, 1974

 

 

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Zum 90. Geburtstag des Autors:

Elisabeth Edl und Wolfgang Matz: Yves Bonnefoy zum neunzigsten Geburtstag
Akzente, Heft 3, Juni 2013

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Yves Bonnefoy: La Parole poétique. Vortrag am 17.11.2001 innerhalb des Projektes Université de tous les savoirs.

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