Alain Lance: Rückkehr des Echos

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alain Lance: Rückkehr des Echos

Lance-Rückkehr des Echos

DEUTSCHLAND EIN LEBEN LANG

Und trotzdem kam ich nie dazu
In Eiselfing eine Unterkunft zu suchen
In der Bentwischer Post schöne Briefmarken zu
aaaaakaufen
In Dobra eine Spätlese zu bestellen
In Prebitz ein Brecht-Gedicht vorzutragen
In Windischeschenbach meine Zigarre aufzurauchen
In Hüttenrode einem Oratorium zu lauschen
In Quakenbrück über Politik zu diskutieren
In Klanxbüll vom Eichelhäherruf geweckt zu werden
Zu vergessen wozu ich nach Irsch gekommen war
Und kein Lexikon zu finden in Zwota 

Übersetzung Gabriele Wennemer und Richard Pietraß

 

Trennzeichen 25 pixel

 

Nachwort 

Aus der Stimmenvielfalt der gegenwärtigen französischen Dichtung ist mir ein Tonfall besonders vertraut, weil ich sein Entstehen erlebt habe, seit ein junger zutrauender Mensch vor mehr als fünfzig Jahren in meine leipziger Studentenbude trat. Ich avisierte diese neue Stimme im Poesiealbum 114 Alain Lance:

So sensibel wie provokant … intim und öffentlich, wütend und ironisch, realistisch und surreal.

Aber wovon spricht sie? aus welcher Wirklichkeit, welcher Erfahrung?
Alain Lance wurde 1939 im normannischen Bonsecours bei Rouen geboren, in den Tagen des „drôle de guerre“, des Sitzkriegs, wuchs im 5. Pariser Arrondissement auf in der Zeit der deutschen Besatzung und der Befreiung, studierte Germanistik an der Sorbonne gegen Ende des Algerienkriegs, der ein Trauma blieb. Wehrersatzdienst, im Iran: postalisch chiffriert „ein bunter Teppich mit dunklen Flecken darin“, und der Lehrdienst ließ ihn die moderne persische Poesie entdecken. Er wog die beiden deutschen Staaten ab und ging ein Jahr als Übersetzer zu Echo d’Allemagne in Ostberlin: wo er auch begann, Gedichte zu übertragen. Ich seh es noch… (siehe unten). Es folgten Jahre als Deutschlehrer an der Pariser Industrie- und Handelsschule. Doch die enge Beziehung zum Deutschen (sein Vater, Kriegsgefangener, hatte ihn angehalten, gerade diese Sprache zu lernen) führte ihn als Leiter in die französischen Kulturinstitute Frankfurt am Main und Saarbrücken. Und das Vertrauen der französischen Autoren hob ihn ins Amt des Direktors der Maison des écrivains.
Seine ersten Gedichte erschienen 1961 mit einem Geleitwort von Philippe Soupault, einem der Gründer des Surrealismus, der im gleichen Alter mit Proust und Apollinaire Bekanntschaft gemacht hatte. Es war eben die Zeit, als sich ganze Dichtergruppen um neue Zeitschriften sammelten. Tel Quel, Change, action poétique, wie die Namen verraten: die Zeit eines Wandels, eines Aufstands gegen die Tradition. Zahllose Literaturblätter blühten auf und vergilbten, als sollte mit Lautréamonts Parole ernstgemacht werden: „Die Poesie soll von allen gemacht werden“ – und für einen Moment wurde es tatsächlich ernst, als die Sprüche der Mai-Revolte aus dem Pflaster schlugen. In diesen Wirbel sah sich der Debütant gestellt, vor allem an die militante Bande der action poétique attachiert, die alsbald zivile Kraft gewann als arbeitender Freundeskreis, der Enormes unternahm, die Kenntnis der poetischen Avantgarden zu verbreiten. Hier traf er bedeutende Dichter wie Jacques Roubaud und Maurice Regnaut.
Seit 1970 erschienen in steter Folge schmale Bände, Les Gens perdus devienmement fragiles (etwa: Die verlorenen Leute werden brüchig), L’Écran bombardé (: Der bombardierte Bildschirm), Les Réactions du personnel (: Personalreaktionen), letzterer 1977 im Verlag Editeurs francais réunis, in einer von Louis Aragon gegründeten Reihe.
Henri Deluy:

Eine Lyrik, wie es sie in Frankreich praktisch nicht mehr gibt und die doch auf dem Boden heutigen Schreibens bleibt. Mit einer Ader Fatrasie und einer Ader politischer Kampflyrik, in Bitterkeit oder Spott.

 

(Fatrasie: eine alte volkstümliche Wurzel der absurden, subversiven Diktion.)

Natürlich, man war In Sicherheit, „Man durchblätterte unter Glas entlegene Explosionen“, aber Lance sah die Verhältnisse mit Unbehagen:

Ein Kronzeuge zurückgeworfen von der Flut
Ein Sommer dicht von Zweifelnden besetzt

Er durchquerte diese Städte, Teheran Dublin Berlin, „Und andere Berichte erwarten dich, und du rottest / In diesen Aufmärschen fort“, durch den Pariser Mai und den Prager Frühling – ein nahverwandter Lebensweg; und er erlebte, wie wir, die deutsche Vereinigung und in einem Februar den „Krieg / Der in unsere Schädel schneidet / Weiche Rüben“ (und das „Schweigen der Schlemmer“). Da war ein Großreich untergegangen, und wir erwarten, zerstreut im Desaster, das Ende des andern. 1999, auf dem Flug von Paris nach Zürich (wir trafen uns dann in Frauenfeld), notierte Lance:

Das Jahrhundert hatte viel Blut zu verlieren
Es scheint, das Maß ist nicht voll.

Das war Noch vor dem Ende eines Jahrhunderts, und er reflektierte seine Lage, verfremdet in der Maske eines petit-bourgeois: 

Er hatte zweifellos die Katastrophe gesehen, aber weigerte sich darüber zu reden. Übrigens handelte es sich wohl lediglich um einen Zwischenfall. Und die Nachbarn waren allesamt auch nicht gut drauf, sie litten an Leibesfülle, der löchrigen Zeit oder der hinfälligen Hoffnung, die keiner mehr annahm zur Reparatur. Er setzte also seine Arbeit fort, eingerichtet am Rand der Ruinen, wo der Wortschutt zusammengeglaubt wird.

Gérard Noiret sagte es wieder, über den Band Distrait du désastre, 1995:

Alain Lance ist vielleicht der einzige französische Dichter, den man heute als politisch bezeichnen kann.

So lese ich ihn nicht, das macht ihn nicht aus, es ist noch immer der robuste, turbulente, anspruchsvolle Geist des Quartier Latin: dieser erstaunlichen irdischen Mischung von Leben. Nicht nur Résistance, sein Naturell lässt ihn immer wieder Renaissance erleben, wie das „Gedicht für Renate“ wunderbar zeigt. Sein Freund Claude Adelen spricht es bündig aus:

Alain Lance hat sich nie drum gesorgt, Avantgardist zu sein, sein Rhythmus ist ihm so eigen, dass der freie Vers vom Affekt skandiert wird, aber er kann auch ohne weiteres eine Oulipo-Maschine anwerfen oder sich auf den Zauber der Metaphern einlassen oder ins Traumlabyrinth der Prosa tauchen.

 

(Oulipo: die berühmte Spielschule und „Werkstatt für potentielle Literatur“.)

Und Lionel Ray:

Alain Lance gibt nur das Wesentliche zu lesen. In diesem kleinen unanfechtbaren Band Distrait ist ein sicherer und besonderer Reiz, etwas Anmutiges, sacht Beunruhigendes. Ein rarer, vielleicht einzigartiger Ton.

Da hatte er längst seinen Rang, seine Stimme gefunden. 

Ruhelos ergründe ich
Das begrabene Wort.

Es folgten weitere Bände; für Temps scriblé, 2000, erhielt er – es hätte Soupault gefreut – den Prix Guillaume Apollinaire. 2007 erschienen seine deutsch-deutschen Erinnerungen Longtemps l’Allemagne. 2001 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste gewählt.
Und neben allem eine Hauptarbeit, das Übersetzen. Ich sehe noch, wie es begann: wir saßen an einem Tisch nebeneinander, griffen mit den Zähnen eine Zeile, brachen sie ab und schmeckten sie, er sprachengewandt, ich lediglich findig, das Wasser rann von der Stirne an dem warmen Tag, während wir ein Massiv durchstiegen. Heute bewältigt er (beidhändig: mit seiner Frau Renate) Romane, Christa Wolf, Ingo Schulze.
Dieses Buch versammelt ältere und neue Gedichte, eine willkommene Rückkehr des Echos. Erscheinungsort und -jahr binden die Texte beinah festlich zusammen, denn es kommt in Leipzig heraus, wo Alain Lance ein Jahr Student gewesen und mit einer Kiste doppelter deutscher Klassik abgereist war, und er hält es im Alter von achtzig in Händen. Voilà! – Wir haben Renate Lance-Otterbein zu danken für die Mitarbeit an den Übersetzungen, und Michael Faber, der die Arbeit eines gediegnen Verlagshauses fortsetzt. 

Volker Braun, Nachwort

 

 

Lyrik neu

„Aus der Stimmenvielfalt der gegenwärtigen französischen Dichtung ist mir ein Tonfall besonders vertraut, weil ich sein Entstehen erlebt habe, seit ein junger zutrauender Mensch vor mehr als fünfzig Jahren in meine Leipziger Studentenbude trat“, schreibt Volker Braun im Nachwort zum Band Rückkehr des Echos von Alain Lance. Der 1939 geborene Dichter, Übersetzer, Literaturhausleiter, Vermittler zwischen der deutschen und französischen Kultur nennt uns diesmal ältere und neue Gedichte in seiner Rückkehr des Echos als markante Punkte eines langen Lebens. Mithilfe seiner Gattin Renate Lance-Otterbein konnte dieser einmalige Band in Deutschland, genauer noch in Leipzig, erscheinen: So hat Lance die Stadt als Student besucht und ist, wie Braun schreibt, „mit einer Kiste doppelter deutscher Klassik abgereist“. Nun darf er im stolzen Alter von 80 Jahren vorliegenden Band in Händen halten. Ein schönes Beispiel ist etwa das Gedicht „Paris – Zürich – Frauenfeld: 22. April 99“, das ausgezeichnet in die heutige Zeit passt: „Der Berg föhnt ein Schneepapier / Zuflucht für die Poesie / Landung ohne Turbulenzen / Der Krieg hält zwei Stunden von hier…“, und zum Schluss steht „Das Jahrhundert hatte viel Blut zu verlieren / Es scheint, das Maß ist nicht voll“. Lance ist sowohl ein poetischer als auch ein politischer Denker und ein Dichter, wie es hierzulande nur noch wenige gibt.

Nils Jensen, Buchkultur, Heft 190, 3/2020

 

Angela Sanmann: „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance

Rückkehr des Echos – Große Fuge: Volker Braun und Alain Lance lesen aus ihren Gedichten und präsentieren sich gegenseitig. Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München am 16.5.2022

 

 

Zum 80. Geburtstag von Volker Braun:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

Zum 85. Geburtstag von Volker Braun:

Jörg Schieke: Claudia Roth würdigt Schriftsteller Volker Braun: Literatur, die Schwachstellen aufdeckt
mdr, 7.5.2024

Erik Zielke: Schriftsteller Volker Braun: Der Zweifler
nd, 6.5.2024

Cornelia Geißler: Keine Rede, keine Blumen – aber eine ermutigende Dichtung
Berliner Zeitung, 7.5.2024

Peter Neumann: „Die Geschichte macht keinen Stopp“
Die Zeit, 5.5.2024

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Instagram + LinklisteKLGPIADAS&D + Archiv 12 + IZA 1 & 2 + Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2Anmerkung zum GBP
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotosdeutsche FOTOTHEKDirk Skibas AutorenporträtsGalerie Foto Gezett + gettyimages + IMAGOKeystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

 


Volker Braun – 50 Jahre Autor im Suhrkamp Verlag.

 

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Volker Braun: Salut, Alain Lance
der Freitag, 17.12.1999

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + deutsche FOTOTHEK + IMAGO

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Alain Lance

 

Alain Lance Rückkehr des Echos im Gespräch mit Volker Braun und Richard Pietraß im Literaturforum im Brecht-Haus am 3.11.2021.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

Politik

Lob killt Kritik. – Pol im Kitt. – Kilt lockt Blick.

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Planet Lyrik an Erde

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Freie Hand

Haupts Werk

Gegengabe

0:00
0:00