ROBINSON
Manchmal weint er wenn die Worte
still in seiner Kehle stehn
Doch er lernt an seinem Orte
schweigend mit sich umzugehn
Und erfindet alte Dinge
halb aus Not und halb im Spiel
Splittert Stein zur Messerklinge
schnürt die Axt an einen Stiel
Kratzt mit einer Muschelkante
seinen Namen in die Wand
Und der allzu oft Genannte
wird ihm langsam unbekannt
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Christa Reinig
ist eine der großen Autorinnen der heutigen deutschen Literatur; dieses Lesebuch sammelt ihre exemplarischen Texte aus dreißig Jahre: Grimmige Poesien, phantastische Satieren und radikale Erzählungen von Frauen und Männern, die aus der Rolle fallen.
Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1985
Christa Reinig: Feuergefährlich
Dieses Lesebuch bietet einen lockeren Querschnitt durch das Schaffen der Autorin aus drei Jahrzehnten. Dabei handeln die Texte ganz richtig „über Frauen und Männer“, im weiteren Zusammenhang aber noch über einiges mehr: Natur, Geschichte, Kindheit, Liebe. Reinigs bisher wohl wichtigste Prosaarbeit, der Roman Entmannung (1976), ist in der Sammlung nicht vertreten; doch läßt sich auch ohne ihn ein Eindruck vom hohen Anspielungsreichtum und vom Sprachwitz ihres Werks gewinnen. Reinig bedient sich mit Vorliebe solcher Stilmittel und Genres, die eine Distanzierung von herkömmlichen Denk- und Darstellungsmustern erlauben. Das reicht von der Parodie bis zur Polemik und übt vor allem, in der Prosa wie im Gedicht, die Kunst der lakonischen Kürze. Seit sich die Autorin (Jahrgang 1926) in den 70er Jahren bewußt dazu entschloß, der Verleugnung ihres „weiblichen Ich“ beim Schreiben abzusagen, beharrt sie mit besonderem Eigensinn darauf, die alten Geschichten aus Bibel, Märchen und Literatur anders zu erzählen. So wird denn die Erfahrung der Verletzbarkeit dieses Ich nicht verschwiegen, schon gar nicht beschönigt, sondern zum Einsatz des literarischen Spiels selbst gemacht:
Nun gut, dachte ich, was ihr haben wollt, das sollt ihr haben.
Das Ergebnis ist, wie dieser Band exemplarisch vorführt, in vielen Fällen ebenso unterhaltsam, wie es nachdenklich stimmt.
Johanna Bossinade, Deutsche Bücher, Heft 1, 1986
Aufruf zum Männermord
Zu ihrem 50. Geburtstag überraschte die in München zurückgezogen lebende Christa Reinig mit der Aufforderung an die Frauen, die Axt zu gebrauchen und den Mann zu töten. Sie verpackte diese Aufforderung 1976 in ihren zweiten Roman, der den bezeichnenden Titel Entmannung trägt. Es war Christa Reinigs literarischer Einstieg in den bundesrepublikanischen Feminismus, aus dem ein Jahr zuvor Verena Stefans Buch Häutungen hervorgegangen war. In Rezensionen zollten sich Christa Reinig und Verena Stefan gegenseitig Lob. Christa Reinig schreibt in ihrem Roman:
Man muß nicht Biologie studiert und über den abgebrochenen Chromosomensatz philosophiert haben. Es genügt, abends um acht die Tagesschau einzuschalten und den Herren der Schöpfung beim Regieren, Erigieren und Dirigieren zuzusehn, um einen Verdacht zu spüren, daß in der Naturgeschichte etwas schiefgelaufen ist.
Christa Reinig, wie man sie bisher nicht gekannt hatte. Was bisher als ein Wesensmerkmal ihres vorwiegend aus Gedichten bestehenden literarischen Werks gerühmt worden war: die Doppelbödigkeit, mit der die Bosheit dieser Welt beschrieben wird, einmal in sanfter Weise, dann in listigem Gewand oder auch mit schnoddrigen Wendungen. Ihre radikale Eindeutigkeit in Entmannung ist neu. In einem Interview sagt sie:
Es gibt im Buddhismus den Spruch „Töte den Buddha“. Darüber muß ich erst lachen, dann entsetze ich mich davor – und dann plötzlich weiß ich, ich habe den Buddha getötet. Ich bin durch die Undurchdringlichkeit dieser einzigartigen historischen Figur, dieses ewigen Vorbilds, hindurchgeschritten wie der Magier durch die Wand.
Daß sich Christa Reinig des Themas „Unterdrückung der Frau durch den Mann“ annahm, lag nicht einmal so fern, da es immer die Außenseiter waren, mit denen sie sich in ihren Büchern beschäftigte: mit dem stummgeschlagenen Bruder, dem alten Piraten, dem Bandenchef Bomme, mit Abel, Robinson und dem Henker. Leben vollzog sich bei der Schriftstellerin Christa Reinig sehr oft zwischen Zuchthaushaft, Prügel, Folterung, Verbannung und Hinrichtung. Sie schreibt:
Kein wort soll mehr von aufbau sein
aaakein wort mehr von arbeit und altersrente
aaahört weg – ihr helden – ich rede allein
aaafür asoziale elemente
für arbeiter die nicht mehr arbeiten wollen
aaafür die stromer und wüsten matrosen
aaafür die sträflinge und heimatlosen
aaafür die zigeuner und träumer und liebestollen
für huren in häusern mit schwülen ampeln
aaafür selbstmörder aus zerstörungslust
aaaund für die betrunknen die unbewußt
aaaein stück von einem stern zertrampeln
ich rede wie die irren reden
aaafür mich allein und für die andern blinden
aaafür alle die in diesem leben
aaanicht mehr nach hause finden
Die Frau am Rande der männlichen Welt. Christa Reinig akzeptiert das, Gerede von einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau nicht:
Das Wort Partner hat mir nie geschmeckt. Mein Chef, mein Untergebener, sind das meine Partner? Der Verkehrsteilnehmer, der im anderen Auto sitzt, ist das mein Partner? Mann und Frau als Partner? Viele Männer heiraten Frauen, wenn sie jung und hübsch sind, und verlassen sie, wenn sie alt und häßlich sind. Viele Frauen heiraten Männer, wenn sie Ernährer und Beschützer sind, und verlassen sie, wenn sie arbeitslos und invalide sind. Das ist dann Partnerschaft so wie beim Kartenspiel. Der andere muß aussteigen, weil seine Taschen leer sind.
Christa Reinig stammt aus Berlin. Dort wurde sie 1926 in einem Arbeiterviertel geboren. Während des Krieges machte sie eine Blumenbinderlehre. Und als der Krieg zu Ende war, arbeitete sie auf dem Bau, um in den Besitz der Lebensmittelkarte für Schwerarbeiter zu kommen. Ihr Abitur holte sie 1953 auf der Arbeiter- und Bauernfakultät nach, studierte dann Kunstgeschichte und christliche Archäologie und wurde 1958 wissenschaftliche Assistentin im Märkischen Museum. Erste Gedichte waren bereits zehn Jahre vorher in der satirischen DDR-Zeitschrift Ulenspiegel erschienen. Christa Reinig gehört der Gruppe Zukunftssachlicher Dichter in West-Berlin an und besuchte als Ostberlinerin die Sitzungen, solange es ging. In einer Fortsetzungsserie wurde in der DDR-Presse eine Erzählung Christa Reinigs gedruckt und vorzeitig abgebrochen, als sie sich weigerte, inhaltliche Korrekturen vorzunehmen.
Christa Reinig publizierte fortan im Westen. In der Eremitenpresse erschien 1960 ihr erster Gedichtband Die Steine von Finisterre. Drei Jahre später erhielt die 37jährige den Bremer Literaturpreis zugesprochen. Von der Preisverleihung kehrte Christa Reinig nicht nach Ostberlin zurück. Sie lebt seitdem in der Bundesrepublik. Eine Lyrikerin und Erzählerin mit kleinen Auflagen.
„Einst habe ich geäußert“, sagt sie, „daß die kommunistischen Diktaturen verkappte Anarchien sind, und habe mich für diese Äußerung von links und rechts angreifen lassen müssen. Heute ist die Verderbnis bei uns angekommen. Dieses krebsmäßige Verfaulen, das, als ich noch im Osten lebte, mich fast körperlich anrührte, das empfinde ich jetzt auch im Westen. Die Wälder faulen, die Meere faulen, die Gewässer, die Fische in den Flüssen, der Erdboden fault.“ In einem Gedicht von ihr heißt es:
ich rufe den menschen
antworte mir
ich rufe es schweigt
nichts antwortet mir.
Jürgen Serke, aus Jürgen Serke, Frauen schreiben, Fischer Taschenbuch Verlag, 1982
Erkennen, was die Rettung ist
(…)
Maria-Luise Gansberg: Wann hast du mit dem Buddhismus angefangen?
Christa Reinig: Den ersten Schub bekam ich als Lehrling. Ich las neben Karl May sehr viele Reisebeschreibungen. Was hat meine Mutter für Geld ausgegeben! Jedes Weihnachten, zu jedem Geburtstag lag die Neuerscheinung über Tibet, die Mongolei, Indien, China auf meinem Tisch. Aber Karl May hat sie mir nie gekauft. Den mußte ich von meinem Taschengeld bezahlen. Jedenfalls bekam ich sehr früh unglaublich viele Informationen über Buddhismus, allerdings völkerkundlich gefärbt. Nach dem Krieg hörte ich eine Sendung, in der ein russischer Offizier, der in den Westen übergetreten war, sagte: „Wenn der Haß dem Haß antwortet, wo soll der Haß enden. Das ist ein Spruch von Buddha.“ Heute weiß ich ganz fachlich, wieviel Buddhismus bei den Russen eingeflossen ist, von den Nihilisten bis zu den Marxisten. Aber damals war ich ganz platt, daß ein Russe mit Buddha kommt. Und es hat mir gefallen. Dann kam der nächste Schub. Ein Freund von mir der in der Weimarer Republik ein Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes war, hatte die Schnauze voll und wollte sich aus der Partei schmeißen lassen. Aber die Partei wollte ihren verdienten Genossen nicht loswerden. Er war Gefängnispädagoge. Er hätte auch christlich sein können. Aber er wußte, daß er dann gefährdet ist. Er ließ sich ein Parteiverfahren auf den Hals laden. Es war ein Wagnis ohnegleichen. Und er sagte: Liebe Genossen, ihr müßt mich rausschmeißen denn ich bin Buddhist. Dann gab es eine marxistisch-buddhistische Diskussion. Und er blieb Sieger. Es war noch in der Stalinzeit, und sie haben ihn laufenlassen müssen. Und ich dachte: Das also gibts, es gibt ein Argument, das stärker ist und marxistische Argumente stechen kann. Dann lernte ich japanische Haikus kennen und mit ihnen den japanischen Zenbuddhismus. Das war 1953. Ich habe nach den Büchern geatmet und meditiert. Das war gefährlich. Du darfst das nicht ohne Anleitung und Überwachung tun. Ich bin übereifrig und unbedacht in okkulte Erlebnisse abgerutscht, ohne daß ich mir das, was ich an mir beobachtete, erklären konnte. Ich driftete wieder ab. Erst 1968 begann ich regelmäßig und systematisch buddhistische Literatur zu studieren. Ich begann damit, daß ich mich frühmorgens in den Buddhasitz niederließ. Dann las ich alles, was aus dem Pali-Buddhismus ins Deutsche übersetzt war. Ich schaffte mir auch eine Pali-Grammatik an, denn ganz ohne Vokabeln geht es nicht. Jeden Tag las ich etwa von 7 Uhr bis 12 und machte mir Notizen. Dann aß ich die erste und letzte Mahlzeit des Tages, auch Fleisch oder Wurst. Ich war damals nicht vegetarisch. Dann wieder Meditation, spazierengehen, Geld verdienen, notwendige geschäftliche Unternehmungen. Abends wieder meditieren. Ich brachte nichts durcheinander. Wenn ich den südlichen Buddhismus studierte, interessierte ich mich nicht für andere Formen. Ich übte bei einem thailändischen Mönch. Wenn ich Zen machte, machte ich Zen und war auf japanisch eingeschworen und machte einige vorschriftsmäßige Sesshins mit einem japanischen Meister. Der Zufall fügte es, daß ich gerade über der Beschäftigung mit dem tibetischen Buddhismus dem Dalai Lama die Hand schütteln durfte. So fügte sich eines zum anderen. Aber wenn ich in der Straßenbahn saß, waren um mich Leute, die waren Katholiken, und was bin denn ich? Eine Sektiererin? Was ist eigentlich ein Buddhist? Bin ich denn Buddhistin? Ich will doch gar nichts anderes sein. Aber ich kanns nicht sein. Denn Buddhismus ist etwas, das es gar nicht gibt. Da gibt es einen Zen-Spruch: „Töte den Buddha!“ Und plötzlich war alles weg wie eine Seifenblase. Es war, als wäre es nie gewesen. Es hat mich von einem Tag zum anderen nicht mehr interessiert. Es bleibt der Buddhismus als einzigartige Erfahrung. Dieses erstaunliche Alles-zu-Ende-gedacht-Haben. Die vollkommenste, geschlossenste Ideologie, die es gibt. Und plötzlich ist da nichts.
Gansberg: Und wann war diese Erfahrung „Töte den Buddha“?
Reinig: 1974. Ich habe an meiner Lebensbeschreibung gearbeitet. Da war unheimlich viel Buddhismus drin. Durch diese Arbeit bin ich vieles losgeworden. Ich fand mich auf einer Anderen Seite wieder. Ich bin durch etwas hindurchgegangen. Es gab eine Zeit, da war der Buddhismus ein fanatischer Ernst. Plötzlich wars ein Spiel. Ich war frei. Und diese Freiheit war auch eine Befreiung vom Buddhismus. Ich konnte schon gar keinen europäischen Quatsch mehr lesen: Das einzig Wahre stand in den buddhistischen Schriften. Gegen diesen Druck habe ich einen Band Scherzgedichte gemacht: Papantscha. So, dachte ich, jetzt lynchen mich die Buddhisten. Aber das taten sie nicht, sie lachten.
Gansberg: Wie war deine Erfahrung von 1964. Du fandest dich plötzlich im kapitalistischen Westen wieder auf dem freien Literaturmarkt, und mußtest von der Literatur leben. Wie kamst du zurecht?
Reinig: Zunächst hatte ich einen schönen Batzen Geld in der Hand. Das ist schon immer sehr gut.
Gansberg: Den Bremer Literaturpreis?
Reinig: Ja, aber ich hatte nichts. Keine Wohnung, keine Kleidung, nichts, gar nichts. Ich mußte Pfennigfuchserarbeiten machen. Du bist ja nun bekannt, und dann heißt es: Schreiben Sie was für diese Anthologie, schreiben Sie was für jene Anthologie, wir brauchen einen Essay über „Springbrunnen“, schreiben Sie etwas zu dem Thema: „Ein Mensch geht verloren“ beantworten Sie die Frage: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Dann habe ich Lesereisen beantragt. Ich habe innerhalb von sechs Wochen in achtundzwanzig Städten gelesen, manchen Tag zweimal hintereinander. Ich dachte, jetzt bin ich eine Geschäftsfrau, und kaufte mir eine große Geldtasche, wie sie in meiner Kindheit die Gemüsemarkthändlerinnen hatten. Ich habe mit Literatur Geld verdient und fragte mich: Ist es das, was du wolltest? Nee, das ist es nicht. Aber die Kasse muß stimmen. Literarisch war es die Gefahr des Zugrundegehens. Nicht drüben, sondern hüben lauerte die Gefahr der künstlerischen Vernichtung. Aber ich hatte gute Freunde. All die alltäglichen Angelegenheiten, die es im Osten gar nicht gibt, von der auch der Ostler, der sich intensiv mit westlichen Dingen beschäftigt, gar nicht ahnt, daß es sie gibt: Versicherungen, Bausparvertrag, Umsatzsteuer. Was machst du, wenn eine französische Gräfin im Vorübergehen sagt: „Besuchen Sie mich mal in Paris?“ Oder wenn ein Agent dich mit Telegrammen bombardiert: „Unterschreiben Sie Vertrag.“ Wie sehen überhaupt die Verträge aus, die ich eventuell niemals unterschreiben darf. Wie ist das, wenn eine nette Dame vor der Tür steht und mir einen Teppich verkaufen will? Das kann doch ein Ostler nicht wissen. Oder es klingelt, und es kommen zwei Herren vom Wohnungsamt, und wenn sie wieder gehen, stellst du fest, daß deine Brieftasche und dein Bankbüchlein fehlen. Es gibt Dinge, die können dir im Osten einfach nicht passieren. Aber im Westen sind sie so alltäglich, daß du einen Menschen brauchst, der dir erzählt, was im freien Westen alles möglich ist. Ich habe gute Berater gehabt, die mich in die alltäglichen Einzelheiten des westlichen Lebens eingewiesen, meine ersten Schritte kontrolliert haben, so daß mir viel Böses, das ungeleiteten Ostlern passiert, nicht passieren konnte. Trotz diesem ständigen „Christa, paß auf dich auf!“ hab’ ich dann noch jeden Mist gemacht. Um ein Haar habe ich das, was ich eigentlich wollte, gute Literatur machen, im Westen verwirkt.
Gansberg: Was meinst du damit „… jeden Mist gemacht“? Also auch Dinge, die gedruckt worden sind?
Reinig: Nur! Es gab keine Anthologie ohne Christa Reinig. Die Kasse muß klingeln. Natürlich habe ich mein Auge gleich aufs TV geworfen. Aber da haben sie mich nicht rangelassen. Zum Glück, kann ich sagen. Das ist die große Gefahr: Geld verdienen müssen mit Literatur.
Gansberg: Du bist öfter bei der Gruppe 47 gewesen?
Reinig: Ein einziges Mal. Ich bin öfter eingeladen worden. Aber ich habe nur an der Tagung in Schweden teilgenommen.
Gansberg: Warum?
Reinig: Die Richtung hat mir nicht gepaßt.
Gansberg: Hängt das vielleicht auch damit zusammen, daß du überhaupt einen Widerstand gegen Gruppen oder eben Ideologien wie den Marxismus nicht von der guten Seite her kennengelernt hast, daß du eine Individualistin bist?
Reinig: Kann ich nicht sagen. Ich glaube, ich kann sehr fanatisch sein, kann mich in etwas hineinsteigern. Mein Leben ist gepflastert mit Ideologien, durch die ich hindurch mußte wie durch die Masern.
Gansberg: Aber für dich allein?
Reinig: Glaub’ ich nicht. Wenn irgend etwas in meinem Sinn läuft, kann ich ganz schön Mitläuferin sein. Stell dir vor, du bist Kumpel unter Kumpeln, Schriftsteller unter Schriftstellern, das klebt von Schweiß zu Schweiß zusammen, und das Große Geld kommt angerollt. Das könnte mir schon gefallen. Ich versuche mir einzureden, daß ich richtig bin. Und plötzlich vertrage ich das Klima nicht. Das ists. Es ist gar nichts, über das ich mir den Kopf zerbreche. Ich hab nur das Gefühl: Hier muß ich raus!
Gansberg: Mitte der sechziger Jahre hast du einen Verlagswechsel vollzogen. Du bist vom Fischer Verlag weg und zur Eremitenpresse gegangen.
Reinig: Ich hatte das Manuskript fertig. Das war Orion trat aus dem Haus. Ich wußte, das ist die beste Prosa, die ich geschrieben hatte. Ich dachte: Da werden sich die Fischerleute aber freuen. Pustekuchen! Die Fischerleute haben sich überhaupt nicht gefreut. Der damalige Lektor hat mir den Text so zusammengestrichen, daß nichts mehr übrig blieb. In diesen Streichungen erkannte ich eine gewisse Zielstrebigkeit. Es waren die Pointen weggestrichen. Damit war die jeweilige Geschichte kaputt. Es brauchte sie gar nicht zu geben. Eine Geschichte hieß „Zwillinge“. Sie beginnt mit dem Satz: „Sie wußte nicht, daß sie ein Zwilling war.“ Und das ist die Pointe. Die Geschichte beginnt mit der Pointe. Dann wird erzählt, was die Frau, die nicht weiß, daß sie ein Zwilling ist, erlebt mit einem wildfremden Menschen, der sie doch gar nichts anzugehen scheint. In dieser Geschichte war ausnahmsweise nichts geändert. Außer einem: Der erste Satz war gestrichen. Ich reagiere nicht schnell. Ich habe eine gewisse Transusigkeit, in der ich erst einmal alles einstecke, was mir widerfährt. Ich gehe davon aus, daß die andere Seite recht hat, sieh da! Ich hab’ mich wieder einmal geirrt. So, dann versuche ich, es anders zu machen, umzudenken. Manchmal hat die andere Seite tatsächlich recht. Dann ist mir ja nichts Böses widerfahren. Aber meistens komme ich plötzlich aus dem Mustopf. So auch hier. Ich nahm die Korrekturen hin und überlegte mir, wie ich den Rest, den der Lektor mir gelassen hatte, mit einer Rahmenerzählung hinbekommen könnte. Das tat ich ein ganzes Wochenende, sechsunddreißig Stunden bis in den Schlaf hinein. Dann erkannte ich, daß ich im Recht gewesen bin. Da gabs einen Briefwechsel. Ich schrieb, daß ich nicht einen Satz, nicht ein Wort ändern würde. Der Lektor schrieb zurück: „Ich will Sie doch vor der Kritik bewahren.“ Ich schrieb: „Ihre Aufgabe ist es, mich der Kritik auszusetzen, nicht mich zu bewahren. Und wenn ich verrissen werde, dann will ich für meinen Mist verrissen werden, nicht für den Mist, den der Lektor gemacht hat. Denn auf dem Buch steht mein Name und nicht Ihrer.“ Der Lektor: „O.k. Ich nehme das Manuskript, wie es ist, und drucke alles so, wie Sie es wollen.“ Ich schrieb: „Das können Sie nicht. Sie müssen das Buch, das Sie von mir drucken, verkaufen, und das können Sie nur, wenn Sie davon überzeugt sind.“ Er: „Wir wollen aber trotzdem Freunde bleiben.“ Ich: „Einverstanden.“. So war ich aus dem Fischer Verlag heraus. Aber wohin mit mir? Wie wärs mit Otto F. Walter? Der wollte mich schon mal für seinen Verlag, aber da hatte ich schon mit Fischer abgeschlossen. Jetzt wollte ich zu Walter gehen. Zunächst hatte ich mit den Eremiten verabredet, daß ich auf der Frankfurter Buchmesse eine Lesung abhalten würde. Ich kam auf die Messe, da hatten die Fischerleute überall herumerzählt: Die Reinig hat ein neues Manuskript, das ist die letztunterste Kacke. Da dachte ich: Als Bettlerin will ich nicht vor Walter erscheinen. Und ich guckte mir die Eremiten an, wie sie fleißig und zielstrebig ihre Arbeit taten. Das gefiel mir. Aber ich hielt den Mund. Denn auch vor ihnen wollte ich nicht als Bettlerin erscheinen. Abends war meine Lesung. Ich glaube, es wäre eine ganz normale Lesung geworden mit normalem Publikum und normalen Reaktionen. Aber durch die Agitation der Fischerleute wurde sie einzigartig. Die Leute kamen in Massen, alle wollten Christa Reinig untergehen sehen. Und sie standen auf Krakeel. Ich hab’ dir ja erzählt, daß ich eine routinierte Vorleserin bin. Ich fing also mit etwas Harmlosem an, gewissermaßen zum Anwärmen. Dann aber, als sie zuhörten, spielte ich meine beste Trumpfkarte aus, was ich gewöhnlich nicht machen würde. Aber hier mußte ich raus. Ich las die lustigste Geschichte, die ich hatte. Da lachten sie schon beim harmlosesten Sätzchen los. Normalerweise hätten sie ein Hihi und Haha gemacht. Aber am Ende der Geschichte grölten sie nur noch und schlugen sich auf die Schenkel. Jetzt hab ich einen gewissen Trick. Den mach’ ich nicht immer, aber wenn ich mich mächtig fühle, mach’ ich es so: Nachdem sie alle schön eingelacht sind und eigentlich nichts anderes mehr können als lachen, wirds bei mir ernst. Es kommt was Super-Tragisches. In diese Tragödie wird zunächst einmal weitergelacht. Aber dann hört ein Lacher nach dem anderen auf, das Lachen wird immer dünner, und dann ist es ganz still. Es ist, als ob es kälter geworden ist. Und dann weiß ich, daß ich gut bin, und das Publikum weiß es auch. Und weil ich ein netter Mensch bin, wirds dann wieder lustig, und zum Schluß müssen wir alle wieder lachen. Das wars. Und du glaubst es nicht. Es war nicht ein gewöhnlicher Erfolg. Es war ein tosender Beifall. Sie umarmten mich. Jemand riß mir das Maul auf und schüttete mir ein Glas Bier hinein, das mußte ich einfach schlucken. Das war natürlich nicht die übliche Christa-Reinig-Lesung. Diese Wirkung hatten mir die Fischerleute beschert.
Jetzt war ich nicht die einzige Autorin. Nach mir ging ja die Dichterlesung weiter. Ich dachte bei mir, mehr Feinde, als ich habe, kann ich mir nicht leisten. Am anderen Morgen ging ich zu meinen Kollegen und sagte: „Sehen Sie mal, Sie werden andere Lesungen haben mit größeren Erfolgen. Aber für mich ist es auf Tod und Leben gegangen. Wenn gestern etwas anderes gelaufen wäre, wäre ich raus aus der deutschen Literatur.“ Und sie verziehen mir. Es gibt ein schönes Wort: „Das Schweigen hüten.“ Du mußt dein Schweigen hüten wie ein Hirt seine Schafe. Ich hatte das Schweigen gehütet. Die Eremiten glaubten, daß dieses Manuskript trotz allem, was vorgefallen war, denn doch noch bei S. Fischer angenommen würde. So waren es die Eremiten, die zu mir kamen und fragten, ob ich nicht ihre Autorin sein wollte. Da sagte ich fröhlich: Ja, das will ich. Es war für mich die Lösung aller Probleme. Meine Kollegen sahen das anders. In dem Augenblick, als ich Autorin eines Kleinverlags war, zählten sie mich nicht mehr zu den Ihren. Sie nennen es: „Na, du bist ja nicht professionell.“ Aber ich hatte es mir von allen Seiten überlegt und fand: Die Eremiten sind nicht der erste beste Verlag. Sie sind die Zukunft.
Gansberg: Und sie haben dich nie gedrängelt?
Reinig: Ich konnte machen, was ich wollte. Die andere Seite ist, daß ich dann auch Mist machte. Aber daß ich nicht lektoriert wurde, hat sich für meine besten Werke ausgezahlt. Ich kann eine Garantie unterschreiben. Alles, was unter dem Namen Christa Reinig in meinen Büchern steht, ist von mir. Welcher Autor kann das schon? Allerdings sind Dinge passiert. Ich habe Fremdwörter falsch geschrieben. Ich sagte: „Fridolin, das mußt du doch korrigieren.“ Sagt er: „Ich dachte, du wolltest es so haben.“ Es war die absolute Narrenfreiheit. Aber ich glaube nicht, daß sie mir geschadet hat. Ich habe einen inneren Kompaß, und der hat mir angezeigt: Weg von S. Fischer hin zu Eremiten.
Gansberg: Nach deinem Verlagswechsel vom Fischer Verlag zur Eremitenpresse hast du dich bei den Eremiten immer sehr wohl gefühlt. Dennoch ergab sich mit der Zugehörigkeit zur Frauenbewegung, mit der neuen Produktion, die eine entschieden feministische wurde, auch wiederum ein Verlagswechsel. 1979/80 erscheint, wenn ich es richtig sage, zum ersten Mal ein Buch von dir sowohl bei den Eremiten als auch im Münchner Verlag Frauenoffensive. Es ist der Gedichtzyklus Müßiggang ist aller Liebe Anfang. Ist das jetzt ein endgültiger Wechsel zu Frauenoffensive?
Reinig: Zunächst gab es damals keinen Wechsel zu Frauenoffensive. Sondern wir hatten abgesprochen, daß die Taschenbuchausgaben von der Eremitenpresse an Frauenoffensive gegeben werden. Allerdings hatten wir Diskussionen zu dem Thema: Liebe Eremiten, eure Autorin ist jetzt Feministin, wie gehts mit uns weiter? Die Eremiten sagten: „Wir sind ja doch auch Feministen.“ Auf dieser Basis habe ich erst einmal durchgesetzt, daß die Taschenbuchausgaben an Frauenoffensive gingen. Jetzt hatte ich ein Problemchen am Hals, das war älter als die Frauenbewegung: Was mache ich, wenn meine Eremiten in Richtung Porno (heute nennen wir es Macho-Sex) abdriften. Ich kann doch den Eremiten nicht die Freundschaft aufsagen, nur weil da etwas erscheint, auf das ich „zickig“ reagiere. Daß meine Frauenehre beleidigt werden konnte, dachte ich nicht, denn ich glaubte, daß ich mit meinem Sauersein auf Macho-Sex einer weiblichen Randgruppe angehörte. Schließlich bin ich auch kein Kind von Traurigkeit. Ich trat die Flucht nach vorn an und versuchte mich selbst an einigen Soft-Porno-Texten. Aber irgendwie ging mir die Sache gegen den Strich. Dann trat der Streitfall ein, 1981. Ich war mit der Ausstattung meiner Bücher durch die Eremiten immer zufrieden, und wir hatten ein Abkommen, daß ich ihnen da nicht dreinrede. Ich verließ mich darauf, daß ein Buch bei den Eremiten auch eine bibliophile Kostbarkeit sein würde. Da erschien mein Text Mädchen ohne Uniform ausgestattet mit Grob-Porno-Graphiken. Ich konnte es nicht fassen! In einem Buch von mir und einem feministischen Text Abbildungen von Frauen, die statt der Gesichter Geschlechtsteile hatten. Weiber mit Mösenfressen in der Sprache der Macho. Auch die anderen Abbildungen waren frauenfeindlich. Dann hatte ich stundenlange Telefonate. Ich sagte: „Kannst du nicht begreifen, daß du damit meine Ehre gekränkt hast?“ – „Nö.“ – Er konnte überhaupt nicht begreifen, wovon die Rede ist. Das sind eben die zwei Sprachen, die Frauen und Männer nicht gemeinsam haben, der große Unterschied. Und da ging es eben nicht weiter.
Gansberg: Du wolltest damals den Kontakt mit dem Verlag abbrechen?
Reinig: Fridolin sagte: „Es kommt mir vor, als seist du gestorben.“ Ich dachte, na, gestorben bin ich nicht, aber mir kommts vor wie eine Scheidung. Das wars auch. Es war just wie eine Ehetrennung. Und wenn alles auseinanderdividiert ist, dann kann man wieder „Guten Tag“ sagen. Ich kannte die Offensivefrauen seit 1976. Ich hatte auch einmal gesagt: „Wenn ich von den Eremiten weggehe, komme ich zu euch.“
Gansberg: Das war nicht der erste Fall einer pornographischen Graphik. Auch bei dem Buch Entmannung haben sich die Eremiten einiges geleistet.
Reinig: Ja, Abbildungen von Frauen, mit durch die Brustwarzen gezogenen Ringen. Damals habe ich gelacht und gesagt: „Da hat das männliche Unterbewußtsein zurückgeschlagen.“ Ich habe ihnen zugebilligt, daß sie nicht wußten, was sie taten. Und außerdem fand ich die Graphiken sehr gut. Sie waren sado-masochistisch, aber ästhetisch. Und ein gutes Kunstwerk hat immer recht. Da dachte ich: Was solls!
Gansberg: Ich möchte jetzt auf das Jahr 1971 zurückgehen. Da hattest du einen schweren Unfall und bist von einem Arzt falsch oder gar nicht behandelt worden. Die Folge war eine schwere Körperbehinderung aus unterlassener Hilfeleistung. Mit diesem Datum hat sich dein Leben geändert. Und das hat sicherlich auch Folgen für die Produktion gehabt.
Reinig: Ich bin von einem Tag auf den anderen aus der Welt gewesen. Die Geschäftsfrau mit der Geldtasche gab es nicht mehr. Keine Lesereisen. Keine Maschinenschreibe. Ich konnte ja nicht mal an einem Schreibtisch sitzen und in die Maschine tippen. Nicht auf die Straße gehen, nicht in Bibliotheken, Bücher ausleihen. Ich hatte mir einen Bücherständer angeschafft, so daß ich im Liegen lesen konnte. Ich lag den ganzen Tag lang auf der Erde und guckte in die Röhre. Ich tat nichts als fernsehen. Ab und zu kamen Freunde, packten mich ins Auto und fuhren mich zur medizinischen Behandlung. Tagelang sah ich keinen Menschen. Wenn ich einkaufen gehen mußte, hatte ich einen Taschenspiegel, damit ich wenigstens die Ampel an der Kreuzung sehen konnte. Dann bekam ich eine Spezialbrille. Die wurde extra für mich gebaut. Fast ein Jahr wurde daran herumgebastelt. Dann bekam ich sie auf die Nase und wagte mich wieder in die Stadt. Ich stand vor einer U-Bahnstation. Ich kannte die U-Bahn noch gar nicht. Ich kannte München nur ohne U-Bahn. Alle Verkehrswege hatten sich verändert. Ich dachte, ich wills doch einmal wagen. Ging vorsichtig die Treppe hinab und stand auf dem Bahnsteig. Ich dachte, ich wills auch weiter wagen. Ich steige einfach ein, fahre eine Station, gehe auf die andere Seite hinüber und fahre mit dem Gegenzug wieder zurück. Ich legte mir jeden Schritt ins Unbekannte, das es ja war, im Kopf zurecht. Dann brauste der Zug heran, ich stieg ein und tat, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Gansberg: Wann hast du die Brille bekommen?
Reinig: Das kann ich jetzt gar nicht mehr… Der Unfall war 1971, ich glaube, ich bekam die Brille 1973. Damit wurde ich wieder beweglich. Ich kann zwar nicht reisen. Aber ich kann mich in München einigermaßen zurechtfinden. Wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich immer einen Stadtplan bei mir. Damit komme ich irgendwie durch.
Gansberg: Du fährst auch zur Staatsbibliothek?
Reinig: Die Zeit ohne Bücher war schrecklich. Auch die Strecke zur Staatsbibliothek habe ich mir Schritt für Schritt erarbeiten müssen.
Gansberg: Wie hat sich in der Auseinandersetzung mit deinem Schicksal deine literarische Arbeit verändert? Ich denke an dein Buch Die himmlische und die irdische Geometrie.
Reinig: Zunächst einmal ist das zur Realität geworden, was mir von Zeit zu Zeit angehängt wurde, daß ich zu meinem Vergnügen das Papier schwärze. Nun war ich wirklich aus der Literaturszene heraus. Wenn ich jetzt noch schrieb, wars ein Hobby, ein Zeitvertreib. Die Frage ist, warum ichs überhaupt tue. Vielleicht aus Gewohnheit, weil ichs nicht lassen kann? Ich hatte plötzlich einen anderen Grund zu schreiben. Zunächst einmal lebte ich in dem Glauben, daß mir ein Unrecht geschehen war. Das, was du hier vor dir siehst, ist nicht die Folge eines Unfalls oder das Ergebnis eines Wirbelsäulenrheumas, wie ich es ja vordem schon gehabt habe. Es ist auch nicht ein ärztlicher Kunstfehler. Es ist einfach unterlassene Hilfeleistung. Ich lag im Bett, und jeden Tag ging der Schwarm der Ärzte an mir vorbei, der Chefarzt sagte mit schon angehobenem Bein: Na, wie gehts? Und wenn ich sagte: Ich habe Schmerzen, war er schon am nächsten Bett. Die Lieblingsbeschäftigung der Ärzte, schmerzlindernde Mittel zu verordnen, nicht einmal das! Dann sagte ich: „Ich möchte in das Unfallkrankenhaus Bergedorf überstellt werden.“ „Machen wir!“ sagte er in seinem üblichen schnellen Vorübergehen. Am nächsten Tag hielt ich ihn auf. Ich veranlaßte ihn, an meinem Bett stehenzubleiben, und fragte ihn, ob er meine Überführung nach Bergedorf veranlaßt hatte. Das Krankenhaus war in Mölln in Schleswig-Holstein. „Sehen Sie!“ sagte er, „wenn wir Sie nach Bergedorf überstellen sollen, dann müssen wir das in München beantragen, wo Sie doch wohnen. Und ehe wir die Antwort aus München haben, sind Sie hier sowieso längst raus.“ Audienz beendet. Und ich lag da. Zunächst bekam ich die Möglichkeit, in das Sanatorium einer Möllner Ärztin zu kommen, die mich soweit auf die Beine stellte, daß ich überhaupt nach München gelangen konnte. In München hatte ich einen guten Arzt, zu dem ich wieder ging. Er war sehr verzweifelt und tat alles, um mich überhaupt existenzfähig zu machen. Eigentlich war ich ja ein Fall fürs Pflegeheim. Aber du siehst mich hier in meinem Puppenstübchen, und einigermaßen gehts weiter. Wenn ich mir hätte meinen Wunsch erfüllen können, ich hätte die Ärzte des Krankenhauses Mölln verklagt. Aber dann wären genau die Ärzte, die mir geholfen haben, hineinverwickelt worden, sie hätten gegen ihre Kollegen aussagen müssen. Alle meine Freunde waren so lieb und nett und klagten: Ach, was für ein Unglück ist dir widerfahren. Dann antwortete ich nicht mit diesen glatten Worten, die ich jetzt zu dir sage, sondern etwas diplomatisch verpackt: „Ich bin kein Unglücksfall, sondern ein Verbrechensopfer.“ Und schon ging der eiserne Vorhang runter, und ich wußte: Christa, du bist allein. Dann rollte eine uralte Tante von mir im Rollstuhl an und sagte: Ich habe deinen Fall genau studiert. Du kannst dein Recht bekommen. Ich mache das mit dir. Ich geh’ mit dir vor Gericht. Ich steh’ dir bei. Da dachte ich: „Nein, das ist nicht der richtige Beistand.“ Aber irgendwie wollte ich es nicht auf sich beruhen lassen. So schrieb ich die Dinge auf, die dann in dem Buch stehen. Es sollte doch nicht vergessen sein.
Gansberg: Jetzt möchte ich dich nach deinem Wohnviertel fragen. Du wohnst seit fast zwanzig Jahren im Münchner Norden. Kannst du dieses Viertel ein bißchen beschreiben?
Reinig: Die ältesten Bewohner können sich noch daran erinnern, daß dies ein Dorf war. Als ich hierher zog, war alles aufgerissener Bauplatz mit einigen kleinen Häuschen. Ich bin jahrelang durch Bauschutt und Mörtel gewatet. Das Wahrzeichen unserer Gegend sind die BMW-Werke. Das bedeutet, daß alle Leute, die hier Grund und Boden als Eigentum haben, total verratzt sind. Eine Straße weiter kannst du die Luft nicht mehr atmen, wenn du nur von der Bushaltestelle zur Wohnung eilst. Hier ist es etwas besser. Weil wir eine schöne Grünanlage haben, kann ich das Fenster öffnen und bekomme etwas Atemluft. Außerdem bin ich nicht so empfindlich. Pauli, die ja täglich hier ist, leidet sehr, wenn sie auch nur zum Müllcontainer oder zum Parkplatz geht. Für viele Leute ist die Umweltverschmutzung einfach nicht mehr auszuhalten. Hier wird also alles versammelt, was woanders keine Wohnung finden kann, zunächst ich, dann die Obdachlosen, dann die Gastarbeiter, nun die Asylanten. Und du wirst lachen. Es geht gut. Es gab Zeiten, da haben sich die Bewohner hart gegen die Obrigkeit gewehrt. Es gab Bürgerinitiativen, kirchliche Hilfsorganisationen, Rote Hilfe, Spontis, Alternative, KP-ML. Aber wie das so ist mit dem Aufstand der Massen: Die da oben lassen einfach die Zeit vergehen. Später im Frauenzentrum traf ich Frauen, die schon als Spontifrauen gegen die Zustände bei BMW gekämpft hatten. Nun kämpften sie als Feministinnen weiter, und das ist auch schon wieder zehn Jahre her. Die Leute, die die Macht haben, haben auch die Zeit. Und das Volk geht nach Hause.
Gansberg: Und du fühlst dich wohl in diesem Viertel?
Reinig: Ja.
Gansberg: Es gibt einen Widerspruch, den ich nicht auflösen kann. Auf der einen Seite hast du einen scharfen Blick für gesellschaftliches Unrecht, auf der anderen Seite hast du dich vehement gegen politische Befreiungsbewegungen gewehrt, die sich ideologisch auf den Marxismus berufen.
Reinig: Als ich hier ankam, war ich ein bundesbürgerlicher Chauvinist.
Gansberg: Aber du warst doch noch gar nicht Bürger?
Reinig: Doch, ich war im Osten ein Bundesbürger. Ich kannte diesen Staat gar nicht, habe mich aber total mit ihm identifiziert, deshalb wollte ich ja hierher. Und deshalb, vermutlich, haben sie mich auch ausreisen lassen. Für mich ist die Bundesrepublik die Arche Noah, deshalb reagiere ich auch empfindlich auf die Leute, die in diese Arche ein Loch schlagen wollen. Ich sehe nicht die Rettungsboote, in die wir dann umsteigen. Ich bin Feministin. Warum bin ich Feministin? Weil ich die Meinungsfreiheit habe, es öffentlich anzusagen. Die hätte ich in der DDR nicht. Das ist doch schon was wert. Schau dir nur mal an, was ich veröffentlicht habe. Hätte ich das in der DDR auch veröffentlichen können? Nicht einmal mein Geschimpfe gegen dieses Macho-System. Ich kämpfe gegen das kapitalistische Macho-System. Könnte ich das unter der roten Fahne?
Gansberg: Und mit unserer Linken?
Reinig: Ich war Sozialdemokratin. Jetzt bin ich Feministin. Das ist meine Partei, obwohl ich sie gar nicht wählen kann.
Gansberg: Du wolltest also nicht bei unseren Linken mitmachen?
Reinig: Ich will dir was sagen: Eines Tages hörte ich auf, alles rosa zu sehen. Eines Tages fing ich an, die Misere hier zu begreifen. Dann ging ich in den Flur und suchte den Lichtschalter. Ich fand ihn nicht. Ich stand im Dunkeln und suchte, und dann erkannte ich: Ich hatte den Lichtschalter da gesucht, wo er einst in Ostberlin in der Milastraße war. Und da wußte ich, ich bin im Westen angekommen. Die Wunde hatte sich geschlossen. Mein neues Leben schloß nahtlos an das alte Leben an. Solange ich hier herumhackte und das westliche Leben genoß, war ich eben ein Ostflüchtling und weiter nichts. Und eines Tages war ich hier zu Hause, so als wäre ich hier geboren. Und genau da hörte mein bundesbürgerlicher Chauvinismus auf, und es war mir auch egal, ob Deutschland Fußballweltmeister wurde oder nicht.
Gansberg: Ich habe den Eindruck, daß du wenig Marx oder Engels oder Luxemburg gelesen hast.
Reinig: Das ist eine gewisse Trotzreaktion. Marx und Engels las ich nicht, weil es mir abverlangt wurde. Genau wie ich Shakespeares Lustige Weiber von Windsor nicht kenne, weil es nämlich meine vorgeschriebene Prüfungslektüre war. Beschreiben Sie die Entstehung der frühkapitalistischen Gesellschaft in England anhand von Shakespeares Lustige Weiber von Windsor. Auf diesen Shakespeare wollte ich gern verzichtet haben. Einmal ging ich in die Ostberliner Staatsbibliothek und wollte Rosa Luxemburgs Reden und Aufsätze ausleihen. Ich dachte: Endlich ein Buch, das ich mir nicht genehmigen lassen muß. Ich lieh mir gern Bücher aus dem Giftschrank aus: Sex und Crime, Raymond Chandler und Magnus Hirschfeld, für alles mußte ich eine Sondergenehmigung beantragen. Vieles bekam ich gar nicht heraus, sondern durfte es nur im Lesesaal einsehen. Manches wurde mir abgeschlagen. Musils Mann ohne Eigenschaften durfte ich im Lesesaal schmökern. Auch Simone de Beauvoir war mir im Lesesaal erlaubt. Die Gründe, die ich erfand, waren außerordentlich phantasievoll. Ich mußte mich anstrengen, mir etwas einfallen zu lassen. Ich dachte, für Rosa muß ich mir nichts einfallen lassen. Ein Buch mit einem roten Punkt auf dem Rücken wurde durch den Raum getragen. Ich grinste, das ging mich heute nichts an. Das Buch kam auf mich zu: Rosa Luxemburg aus dem tiefsten Giftschrank geholt. Es gab auch Bücher mit blauem Punkt. Die waren nicht so explosiv. Ich weiß nicht, was mir eingefallen ist. Jedenfalls mußte ich mir von der Bibliotheksdirektion eine Sondergenehmigung holen, um Rosa Luxemburg lesen zu dürfen. Nun, wenn mir damals jemand gesagt hätte, du bist nicht marxistisch, – dann hätte ich das nicht geglaubt. Ich hatte sogar einen Vorbehalt. Wenn ich meinen Studienkollegen von der Arbeiter-und-Bauernfakultät beim Spinnen zuhörte, dachte ich, ihr seid die Idealisten, ich bin Materialistin, ihr seid die Phantasten, ich bin Dialektikerin. Ich glaube, so um 1952 war ich ein wenig auf die DDR versessen. Aber 1953 gingen die Parteikämpfe los, da kriegte ich auch eins aufs Dach. Da verging mir der Spaß an DDR und Arbeiter-und-Bauernfakultät.
Gansberg: Du schreibst, daß du eine Phase als Anarcho-Syndikalistin hattest, was hast du da gelesen?
Reinig: Zunächst die Bücher aus Mutters Giftschrank: Upton Sinclairs Boston, die Geschichte von Sacco und Vanzetti. Dann Upton Sinclairs Die goldene Kette. Zu einer Zeit, in der ich die einfachsten Formalitäten der Dichtkunst nicht kannte, war ich doch durch Sinclair schon über die gesellschaftlichen Zusammenhänge belehrt. Trotz meiner Abscheu, mich politisch einzuordnen, hätte ich niemals „poesie pur“ machen können, sondern immerdar „literatur engagée“. Dann der frühe Gorki, der noch nicht marxistische, der Nietzscheaner Gorki, ungeheuer nihilistisch. Wobei das Wort Nihilist und die Erzählungen, die ich im Familienkreis von diesen Nihilisten hörte, mich tief beeindruckten, sie hatten beinahe die Wirkung von E.A. Poe. Poes Im Strudel des Maelstroms, kein politisches Werk, nichts von Anarchismus. Und doch eine Geschichte, nach der ich mein Leben eingerichtet habe. Ich war dreizehn Jahre alt, da dachte ich, so wie der Matrose, der im Strudel des Maelstroms von seiner schnell rotierenden Kiste auf das langsam laufende Faß überwechselt, so will ich es machen. Im Untergang erkennen, was die Rettung ist.
Nach dem Krieg ging alles so schön durcheinander. Du konntest dir dein Schicksal aussuchen und es jeden Tag neu anfangen. Wenn dir eine Situation nicht gefiel, konntest du sie an den Nagel hängen wie einen alten Mantel. Viele Bücher vom alten Malik Verlag kamen mir damals unter die Hände. B. Traven bekam ich auch frühzeitig zu lesen. Das Totenschiff. Die mexikanischen Geschichten, das war ein Thema, dem ich sehr aufgeschlossen war. Die Dinge, die damals in Mexiko geschahen, waren für uns sehr wichtig. Die mexikanischen Revolutionen, die ja schon vor der russischen Revolution losgingen, kannten die deutschen Arbeiter. Ich habe soviel Negatives über mein deutsches Proletariat gesagt. Ich kann nun sagen, sie hatten ein Geschichtsbewußtsein. Sie wußten, was in Süd-, in Mittelamerika geschehen war. Ich weiß eigentlich nicht, wo das wichtige Land Mexiko im heutigen menschlichen Selbstverständnis geblieben ist. Mitten in der Nazizeit hatte ich Fotos der Wandgemälde von Diego Rivera angesehen. Sie waren mir unvergeßlich. Dann gab es einen französischen Dichter Jean Giono. Er hatte ein landwirtschaftliches Kollektiv aufgebaut, mit dem er Schiffbruch erlitt. Ich glaube, ich habe fast alle seine Bücher gelesen. Dann Bakunin, Kropotkin, Sorel, die anarchistischen Theoretiker.
Gansberg: Die hast du freiwillig gelesen?
Reinig: Wenn es sie gab, wenn ich sie erwischte. Auf alle Fälle habe ich alles verschlungen, was es über sie gab. Gefressen hab’ ich das. Und ich stand mutterseelenallein damit. Mit wem sollte ich darüber reden? Mit niemand. Und ich fühlte mich gut.
Gansberg: Das kann ich verstehen. Aber wie ist das mit dem Prager Frühling und 1968, die Liquidierung des Prager Frühlings?
Reinig: Dem geht der Aufstand in Ungarn voran. Ich habe ihn nicht miterlebt. Ich bin mit einem der letzten Züge von Budapest abgefahren. Als wir in Berlin ankamen, wurden wir mit Geschrei begrüßt. Alle wollten von uns wissen, was da läuft. Und wir wußten von nichts, staunten selbst. Aber wir hatten Dinge gesehen, so daß es uns einleuchtend erschien. Das konnte nicht anders als explodieren. Doch wir, die wir nur Durchreisende waren und nicht mitten in der Situation steckten, konnten es nicht voraussehen. Wir konnten es hinterher betrachten: Na ja, war ja auch nichts anderes drin. In politischen Situationen mußt du drinstecken. Die westlichen Fachleute östlicher Länder gibt es nicht. Die herumreisenden Journalisten und Korrespondenten werden von den Ereignissen überrascht wie die Meteorologen vom Wetter. 1964 kam ich in die Bundesrepublik und sagte jedem, der es wissen oder nicht wissen wollte, wie es meiner Meinung nach mit den Volksdemokratischen Verhältnissen stand. Das interessierte keinen oder nur in der Hinsicht, mir das Maul zu stopfen. Ich paßte nicht in die Richtung. Außerdem hatte ich etwas Besseres zu tun, als über den Osten zu schwafeln. Und dann 1968? Da war ich schon vier Jahre aus dem Schlamassel heraus. Und plötzlich kamen sie an: Ja, du mußt das doch wissen? Nein, ich weiß nichts, ich bin zu lange von drüben raus. Ich bin doch eine ganz gewöhnliche Westlerin. Ja, aber du hast doch damals gesagt, geschrieben … Auch heute noch passierts, daß ich vorgestellt werde: Das ist die Christa Reinig, die aus dem Osten zu uns kam. Bei Befragung würde sich herausstellen, daß die Eltern von dem, der so redet, zwei Jahre früher als ich „zu uns gekommen sind“. Nein, das lag hinter mir.
Gansberg: Ich möchte es polemisch ausdrücken: Statt Marx hast du die buddhistische Lehre sehr stark rezipiert, und ich glaube, du hast auch viel Schopenhauer gelesen.
Reinig: Ja, Schopenhauer.
Gansberg: Die Lehre Buddhas, soviel ich weiß, gründet sich auf den Satz von der Leidhaftigkeit des menschlichen Daseins. Bist du aufgrund eigener Leiderfahrung zum Buddhismus gekommen?
Reinig: Nein, sondern vom Sehen. Ich hatte schon von den Gesprächen, von den Büchern erzählt, die mich mit Buddhismus infiltrierten, doch von Gesprächen und Lektüre kannst du wieder abkommen. Du hörst was anderes, liest andere Bücher. Aber meine Entscheidung lief über das Sehen. Ich will einen solchen Augenblick schildern. Ich bin im Frankfurter Zoo und denke an alles, nur nicht an die buddhistischen Vier Wahrheiten vom Leiden. Da sehe ich, wie einige Küken aus Eiern schlüpfen. Ein Ei ist geschlossen, ein Ei hat bereits ein herausgepicktes Loch, und ab und zu siehst du ein Schnäbelchen erscheinen. Ein Küken ist dabei, die Eierschale zu durchbrechen. Da ich mir Zeit genommen habe, will ich erleben, wie ein Küken geboren wird. In einem fürchterlichen Kraftaufwand befreit sich das Küken aus der Schale und fällt auf die Schnauze. Und dann liegt es da, und weißt du, wie es aussah? Wie ein sterbender Mensch. Der Augenblick des Geborenwerdens ist gleich dem Augenblick des Sterbens. Es war ein heulendes Elend. Es stand auf, fiel hin, stand auf, fiel hin. Der ganze Körper pumpte Atem. Die Dunen klebten wie die nassen Haare eines zu Tode Gefolterten an seinem Körperchen. Nach einiger Zeit konnte es sich aufrecht halten und ein paar Schritte wackeln, und nach abermals einiger Zeit würde es so hübsch aussehen, daß die Fotografen es für die Wochenendausgabe filmen könnten. Ich aber ging davon und dachte: Wer anders kann mir das erklären als Buddha?
Dann kennst du ja die Walt-Disney-Filme, wo die Maus über die Katze und der Frosch über die Schlange siegt. Aber ich kannte auch die sowjetischen Tierfilme, die sehr viel näher an der Wahrheit sind. Der Materialismus hat eben auch seine Meriten. Jedenfalls schummeln sich die sowjetischen Tierfilmer nicht so über die Trostlosigkeit der Naturvorgänge hinweg. Es war ein Film über die Arktis. Gezeigt wurde der Kampf einer Robbenmutter gegen einen Eisbären. Es war ein grauenhafter Kampf mit vorhersehbarem Ende. Der Eisbär verspeiste die Robbenmutter und trollte sich. Da tauchte das Robbenjunge auf. Und wie gings weiter? Wozu hatte die Robbe diesen Kampf gekämpft, um ihr Junges zu erhalten, damit über ihrem Opfer das Leben ihrer Gattung weiterging. Nun, es würde nicht weitergehen. Das Junge, sofern nicht von einem anderen Eisbären mit dem Gnadentod bedacht, würde einen noch schrecklicheren Tod sterben als seine Mutter. Die Natur, die in Ordnung ist, gibt es nicht. Leben ist Kanibalismus, denn Leben frißt Leben, anders kann es sich nicht erhalten. Ich sitze hier, mir gehts gut. Ich bin Vegetarierin, ich kille nichts als Kohlköpfe. Ich fühle mich behaglich. Aber im Grunde ist alles Nichts.
Gansberg: Eigentlich ist Leben schrecklich und leidvoll und es lohnt sich auch nicht. Es kann auch gar nichts geändert werden. Das ist, glaube ich, die Essenz der buddhistischen Lehre.
Reinig: Ja, sieh zu, wie du durchkommst.
Gansberg: Für dich allein?
Reinig: Ich war Mitglied der buddhistischen Gesellschaft. Das waren kluge Köpfe. Sie haben mir vieles erklärt das ich trotz meines intensiven Studiums nicht von selbst verstehen konnte. Einmal wollte ich sie verärgern. Ich sagte: „Na, wenn ich in Asien wäre, dann wäre ich Christ.“ Da lachten sie hellauf. Sie hatten keine Illusionen. Priester sind Ausbeuter, Mönche und Nonnen leben von anderer Hände Arbeit. Die Laien müssen bluten, damit die Geistlichen geistlich sein können. Das ist überall dasselbe. Leben ist Leiden. Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Unser Mephisto ist ein Buddhist. Und wenn ich den strengsten Regeln des Buddhismus folge, muß ich asozial werden.
Gansberg: Die Mönche sind ausbeuterisch?
Reinig: Der Klerus ist ausbeuterisch. Das wissen wir seit zweihundert Jahren. Die Frage ist, warum es überhaupt noch Religionen gibt? Warum wachsen in allen Religionen die Priester immer wieder nach, obwohl sie doch mehr nehmen als geben? Weil sie etwas zu geben haben, auf das wir nicht verzichten können. Und wir zahlen ihnen jeden Preis.
Gansberg: Du hast einen Wandteppich an der Wand, der buddhistische Motive darstellt. Kannst du die mal beschreiben?
Reinig: Die längste Zeit meines Lebens waren mir Antiquitäten ein Greuel. Aber du siehst, was aus meinen Grundsätzen geworden ist, hier eine Buddhafigur, dort eine tibetische Kalenderplatte und an der Wand unübersehbar ein tibetisches Thangka. Ich hab es nicht gewollt. Ich wollte nicht zu denen gehören, die den tibetischen Flüchtlingen ihre Kostbarkeiten um ein Butterbrot entreißen. Aber wenn ich es nicht nehme, nehmen es andere. Und bei mir werden sie dann geehrt. Aber ich muß auch etwas damit anfangen können. Mit diesem Thangka konnte ich zunächst nichts anfangen. Auf den ersten Blick stellt es einen Reiter auf einem Elefanten dar. Sagen wir mal den Elefantengott Ganesha. Was zum Teufel ist mir der Elefantengott Ganesha? Nichts, und ich wollte auch kein Thangka. Außerdem ist das Ding so zerfetzt, daß es fast von selbst von der Wand fällt. Ich wollte es nicht. Aber ich hatte Blut geleckt, eines kommt zum anderen. Genau der rote Faden, den doch der Buddhist zerschneiden soll. Jedenfalls kaufte ich das Ding und hängte es an die Wand und dachte: Was ist das? Auf den zweiten Blick war das aber nicht der Elefantengott Ganesha. Das war ein Buddhawesen. Ein Bodhisattwa, der auf einem Elefanten reitet, das ist Samantabhadra. Dazu muß etwas über den Polytheismus gesagt werden. Es gibt eine Religionsform, die ist aus dem Gedächtnis der Menschen völlig herausgefallen. Du bist entweder Atheist oder Monotheist oder Pantheist. Aber die Menschen sind ursprünglich Polytheisten. Die Griechen sagten: „Alles ist voller Götter.“ Ein Buddhist würde sagen: „Alles ist voller Buddhas.“ Es gibt Buddhas der Zeit und des Raumes. Jede Farbe hat einen anderen Buddha. In allen sechs Welten gibt es Buddhas. Auch die Höllenwelt ist nicht von Buddhawesen verlassen. Der dort ist also der Bodhisattwa Samantabhadra, ein Buddhawesen der fernsten Vergangenheit. Er ist so fern, daß ihn das Leid der Welt nicht mehr bekümmert. Es geht ihn alles nichts mehr an. Samantabhadra ist die Erscheinungsform der letzten Entrückung, der tiefsten Zeitlosigkeit. Er hat vier Hände, das sind die vier Himmelsrichtungen, zwei sind über der Brust zusammengelegt, insgesamt hält er in seinen Händen drei Lapislazuli-Schalen. Das Lapislazuliblau gilt bei allen alten Völkern als die heiligste aller Farben. Die drei Schalen enthalten die drei Kleinode des Buddhismus: den Buddha, die Lehre, den Orden. Samantabhadra ist umkreist von sechs sitzenden Buddhas. Die Zahl sechs bedeutet immer die sechs Welten, in denen jedes Leben wiedergeboren werden kann. Die Welt der Götter ist die Welt der Dummheit, die Welt der Dämonen ist die Welt des Zorns, die Welt der Hungergeister ist die Welt des Geizes, die Welt der Hölle ist die Welt des Hasses, die Welt der Tiere ist die Welt der Angst, die Welt des Menschen ist die Welt des Hochmuts. Allein aus der Welt des Menschen kann der Buddha geboren werden. Daher lassen sich die Götter als Menschen gebären, um die Chance zu bekommen, sich zu erlösen. Wie soll ich, wie soll ich in unserer groben Sprache das zum Ausdruck bringen, um was es geht? Zunächst ist es in Büchern über Seelenwanderung zu lesen. Aber, aber. Damit deine Seele wandern kann, mußt du erst einmal eine haben. Und im Buddhismus hast du keine Seele. Du bist ein zusammengesetztes Etwas, das sich dauernd verändert. Was dich zusammenhält und dir die Illusion von dir selbst als Einheit beschert, ist deine Erinnerung. Wenn dir einer ein Loch in den Kopf schießt und dir die Erinnerung ausbläst, dann bist du ein Ding. Aber immerhin ein leidendes Ding. Und angenommen irgendein Etwas war einst eine ägyptische Prinzessin, dann zu anderer Zeit wurde es wiedergeboren als französische Wäscherin und jetzt ist es eine amerikanische Sammlerin von buddhistischen Altertümern. Dann ist doch die Voraussetzung einer solchen Wanderung, daß es Zeit und Raum gibt. Aber nach Ansicht des Buddhismus sind Zeit und Raum Illusionen. (Und lies Kant, der sagt dir dasselbe.) Und wenn es Zeit und Raum in der wahren Wirklichkeit gar nicht gibt, kann es auch keine Verwandlung von einer Existenzform in die andere geben. Und wenn es nicht Zeit und Raum gibt, kann es auch keine Wirklichkeit, kein Wirken, keine Kausalität geben. Wenn dir genug geschwindelt hat, kehren wir zur faßbaren Illusion zurück. Da ist Samantabhadra allem weltlichen Tun entrückt, und um ihn kreisen die Buddhas der sechs Welten. Das bekam ich auf Anhieb heraus und freute mich sehr. Denn nun hatte ich eine Beziehung zu dem Ding, das ich doch gar nicht haben wollte. Aber damit sind die Bilder noch nicht zu Ende. In der rechten unteren Ecke siehst du einen Menschen auf einem Löwen reiten, er schwingt ein Schwert. Das ist ein anderer Bodhisattwa, ein Wesen auf dem Weg zur Buddhaschaft. Es ist Manjushri, der Beschützer der Weisheit. Mit seinem Schwert schneidet er den Gedankenfaden durch, mit dem du dich einspinnst, um dich vor der Wahrheit zu retten, der Wahrheit, daß all dein Denken Illusion ist. In dem Großen Weisheits-Sutra heißt es: Das Weltall ist leer. Aber wenn es nicht mit Barmherzigkeit gefüllt wird, ist es die Hölle.
Jetzt kommt die Figurengruppe der linken unteren Ecke. Wir sehen ein kleines Menschlein, das zu einem zweiten Elefanten emporschaut. Und nun spielt der Zufall sein Spiel: Ich hatte mich mit besonderer Vorliebe mit dem Avatamsaka-Sutra, dem japanischen Kegon-Sutra beschäftigt. Die Grunderzählung gleicht einem Märchen. Das brave Kind Sudhana macht sich auf den Weg, um den Turm des Maitreya, dem Buddha der Zukunft zu erreichen. Es kommt der Buddha der allernächsten Zukunft: Maitreya, der Liebevolle. Sudhana, das brave Kind, will nicht auf ihn warten, sondern zieht ihm entgegen. Zunächst einmal nimmt es die Belehrung des weisen Manjushri entgegen. Das Kind Sudhana ist von der rechten Ecke des Bildteppichs zur linken Ecke hinübergelaufen. Wir sehen es an der linken Ecke. Es steht vor dem Elefanten, dem Reittier des Samantabhadra. Den Rest der Geschichte kennen wir aus dem Avatamsaka-Sutra. Das Kind wurde darüber belehrt, daß es auf dem Weg dreiundfünfzig Lehrer bekommen würde. Der moderne Europäer würde „Guru“ sagen. Und alle Asiaten lachen sich kaputt, wenn sie das Wort „Guru“ hören. Das Wort Guru hat aus euroamerikanischer Dummheit einen schlechten, anrüchigen Klang bekommen. Nennen wir die dreiundfünfzig Leute, denen das Kind begegnen wird, einfach „Lehrer“. Diese Lehrer sind Verkörperungen von Buddhas. Drei von ihnen kennen wir schon. Am Anfang des Weges steht Manjushri, am Ende des Weges wird Samantabhadra stehen. Das ist der Augenblick, den uns das Thangka zeigt.
Jetzt will ich den Rest der Geschichte hinzufügen. Das Kind, das auf dem Weg zum Turm des Maitreya von einem Lehrer zum anderen geleitet wird, begegnet Männern und Frauen, Mönchen und Laien, Heiligen und Sündern, Königen und Bettlern und einer Göttin und einem Gespenst, und alle sind sie Buddha und alle sind sie Lehrer. Das heißt, der Bösewicht, der mir eine vor die Birne knallt, auch er ist Buddha, auch er ist Lehrer, und er ist ich. Und das ist das Ende der Geschichte. Das Kind Sudhana erkennt, daß es den Turm Maitreyas nie verlassen hat. Es war immer in diesem Turm, in dem alle Dinge alles und eines ist. Jedes ist es selbst, und jedes ist alles zugleich. Als ich das lernte und las, erschien es mir als ein schönes Märchen, mit dem mir die Lehren des Buddhismus klargemacht werden. Heute gibt es die Holographie, und diese holographische Technik vermittelt uns die Geschichte vom Turm des Maitreya. Jeder Teil ist er selber und enthält alle anderen Teile in sich. Er ist auch alle anderen Teile.
Jetzt kommt der zweite Zufall. Wer sich mit dem Avatamsaka-Sutra beschäftigt, kommt meist nicht auf die Idee, daß es in der tibetischen Kunst davon Abbildungen gibt. Die berühmtesten Abbildungen finden sich am Tempel von Borobudur auf Java. Dann gibt es Kunstwerke in China und Japan. Aber in Tibet sucht man wohl weniger nach dem Avatamsaka-Sutra. Zufällig hatte ich mich ausgiebig mit Tibet beschäftigt, und da gibt es den großen Reformator Tsong-khapa, den Begründer der sogenannten „gelben Kirche“, dessen Oberhaupt der Dalai Lama ist. Und genau mit diesem Tsong-khapa hatte ich mich befaßt und wußte, daß Tsong-khapa sechs Erleuchtungen hatte. Wenn sich ein Mensch zu einem großen Werk berufen fühlt, dann sucht er nach Bestätigungen. Er forscht in sich, ob er auf dem rechten Weg ist, ob er auch ein Recht hat, große Dinge zu tun. Tsong-khapa suchte sein Recht in der Meditation, und er erkannte sich selbst in verschiedenen Buddhaformen. Er sah sich selbst, wie er in der Verkörperung des Samantabhadra auf dem Elefanten ritt. Und dies ist dieses Thangka. Das heißt, dieses Thangka ist Teil einer Serie. Es muß noch fünf andere Thangkas geben, auf denen dargestellt ist, wie Tsongkhapa sich als fünf andere Buddhas erfährt.
Es ist hier eine Geschichte über die andere geschoben. Zugrunde liegt die Geschichte von Samantabhadra, dem Bodhisattwa der Vergangenheit. Dann kommt die Erleuchtung des Tsong-khapa, der sich selbst als Samantabhadra erfährt. Dann aber tritt das Kind Sudhana in die Geschichte ein und geht auf den Weg, den ihm das Avatamsaka-Sutra vorschreibt: Es trifft auf Samantabhadra, und das ist Tsong-khapa. Neben Tsong-khapa sitzen auf dem Elefanten noch zwei andere Gestalten: Das sind die Buddhas Sonnengesicht und Mondgesicht. Durch ihre Gegenwart erscheint Tsongkhapa noch in anderer Funktion, nämlich als der Medizinbuddha, der Lapislazuli-Buddha. Und das ist keine Nebensache, wie die Lapislazuli-Schalen in der Hand der großen Hauptfigur des Bildes zeigen. Das alles siehst du nicht, wenn du davor stehst. Du siehst ein kaputtes Ding, Blau in Blau, erkennst, daß es etwas Tibetisches ist, das steht ja jetzt in jeder Wochenzeitschrift über Kultur und Völkerverständigung, und ich bin auch schon verhöhnt worden. Es kamen Gäste, die spotteten: „Was hast du denn da für einen Lappen an der Wand?“ Ich schätze, der Lappen ist aus dem 18. Jahrhundert. Das nebenbei. Und er ist geweiht. Alle tibetischen Kunstwerke werden geweiht, genau wie in der katholischen Kirche. Pauli, als Niederbayerin, weiß, was das bedeutet. Wir könnten den Stoff, die zerfetzte Seide, mit der das Bild eingefaßt ist, ersetzen. Aber wir tuns nicht. Pauli sammelt sogar die Stücke, die abbrechen oder abfallen, und hebt sie auf. Das Thangka geht vor unseren Augen kaputt, so wie wir kaputtgehen. Es stirbt mit uns und wir mit ihm. Es ist noch sehr viel mehr darauf zu sehen. Oben am Himmel schweben die Apsara, die Himmelfrauen. Wie in allen uralten Kulturen, werden die Himmelsmächte als weiblich dargestellt. Das ist ein künstlerisches Unikat, ein einmaliges Stück. Manchmal frage ich mich, wie ich überhaupt dazu gekommen bin.
Gansberg: Es wollte wohl zu dir.
Reinig: Damals ging es mir nicht gut. Da brauchte ich einen solchen Glücksfall.
Gansberg: Ich komme jetzt zu einem anderen thematischen Schwerpunkt, zur Produktionsweise. Ich zitiere einen Satz von dir aus einem Essay, den du kürzlich veröffentlicht hast: „Lyrik ist Arbeit.“ Da heißt es: „Mein Leben ist mein Thema und die Erinnerung meine Materie.“ Was heißt das konkret?
Reinig: Konkret ist, daß ich hier sitze. Ich sitze hier und erzähle. Ich kann nichts anderes tun als erzählen. Ich mache den Mund auf und sage etwas. Das, was ich sage, sage ich aus meinem Gedächtnis. Wenn ich kein Gedächtnis hätte, würde ich nichts sagen. Die Grundäußerungsform ist unabhängig von künstlerischer Einübung. Was ich sage, ist vielleicht interessant, vielleicht ermüdend. Auf alle Fälle ist es kein Kunstwerk. Nehmen wir eins meiner Gedichte, das auch von Literaten, die mir nicht wohlgesonnen wären, als Kunstwerk bezeichnet würde: „Der alte Pirat“. Das hängt mit meiner Biographie zusammen. Wenn ich nicht kindlicherweise davon geträumt hätte, Matrose zu werden, zur See zu fahren, Seefahrerbücher gelesen hätte, hätte ich das Gedicht nicht machen können. Das Thema „Zur See fahren“, die Erinnerung allerdings aus Büchern geschöpft. Lektüre aus Lektüre entstanden. Oder „Der Henker“. Ich bin als Kind und später noch als Lehrling Abonnent der Zeitschrift Abenteuerliche Welt gewesen. In dieser Zeitschrift gab es die Autobiographie eines französischen Sträflings aus Guayana. Er erzählt die Geschichte eines Henkers, der, als Mörder zum Tode verurteilt, das Kommando über seine eigene Hinrichtung übernimmt. Allerdings wurde er guillotiniert. Die Guillotine findest du dann wieder in dem Gedicht vom blutigen Bomme, das an einem anderen Ort meiner Erinnerungen angesiedelt ist, darüber habe ich schon gesprochen. Im Grunde hängt die Hochschätzung des Sich-erinnern-Könnens mit dem Studium des Buddhismus zusammen. Was ist der Mensch? Von einem Tag zum anderen verändern sich meine körperlichen Zustände. „Heute rot, morgen tot“, heute gesund, morgen ein Krüppel. Eben hungrig, eine Stunde später aufgrund unvernünftiger Eßgier nun nicht mehr hungrig, aber mit Magendrücken und Sodbrennen behaftet. Das ist der Körper. Aber er ist noch viel stabiler als der Geist. Die Gedanken, die durch dich hindurchgehen, von denen du dir einbildest, daß du sie denkst, obwohl du doch nicht verhindern kannst, daß sie sich selber denken, sie sind noch viel kurzlebiger als körperliche Vorgänge. Einst hatte ich lange Haare, jetzt trage ich die Haare kurz. Einst hatte ich dunkle Haare, nun habe ich graue Haare. In sieben Jahren bleibt keine Zelle meines Körpers erhalten. Alle sieben Jahre habe ich einen garantiert neuen Körper. Mein Personalausweis ist abgelaufen. Er ist ungültig. Eventuell habe ich eine Namensänderung beantragt. Ich bin meine Erinnerung. Ich bin nichts als meine Erinnerung. Und diese Erinnerung ist das Regenfaß, aus dem ich schöpfe.
Gansberg: Das ist vielleicht ein Satz, den du 1971 noch nicht so gesagt hättest. Du hast die beiden Gedichte aus den Steinen von Finisterre erwähnt, „Der Henker“ und „Der alte Pirat“. Das ist Poesie. Und es enthält auch deine Selbstaussage. Das heißt, du kleidest dich in männliche Masken. Es fällt mir schwer, das mit deinem Selbstverständnis, daß du die Summe deiner Erinnerungen bist, zusammenzubringen.
Reinig: Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen, noch ehe das Problem des weiblichen Selbstverständnisses mit dem Feminismus auf die Tagesordnung kam. Ich fand das gleiche bei Annette Droste-Hülshoff. Ich habe eine Gedichtauswahl von Droste-Gedichten herausgegeben und dazu ein Vorwort geschrieben. Das Buch erschien, laß mich nachdenken, 1969. Da habe ich in dem Vorwort das Problem angerissen, daß Annette sich selbst in ihren Gedichten als männlich anreden läßt. In einem „Ich“-Gedicht sagt ein Schäfer zu ihr: „Herr!“ Ich hätte es nicht bemerkt, wenn ich es nicht an mir selbst beobachtet hätte. Und ich hätte es in meinen eigenen Angelegenheiten nicht analysieren können. Aber mit Annette als Objekt meines Denkens und Forschens bekam ich das Problem klar heraus, die Schwierigkeit einer Dichterin, sich in der Literatur als weibliches Ich darzustellen.
Gansberg: Du hast dich eben maskiert?
Reinig: Ich mußte es wörtlich nehmen, so wie ich es darstellen konnte. Ich war der „Henker“, der „alte Pirat“, und ich war männlich. Ich ließ diese Dinge durch mich hindurchlaufen, so lange, bis ich mich mit meinen Figuren identifizieren konnte. Anders konnte ich das Gedicht gar nicht machen. Bei dem Henker habe ich laut aufgelacht und gedacht, das ist ein toller Scherz. Und die Leute haben geschrien, ach, wie schrecklich, was hast du für ein schlimmes Gedicht gemacht. Bei dem alten Piraten traten mir die Tränen in die Augen. Ach, was für ein schreckliches Schicksal, er tat mir leid, ich tat mir leid. Aber die Leute haben gelacht und gesagt, ach, was für ein lustiges Gedicht, was hat doch die Dichterin für einen goldenen Humor. Sollte ich hinter meinen Lesern herlaufen und ihnen erklären, nein, ihr Lieben, das habe ich doch ganz anders gemeint? Es gibt einen Augenblick, da ist Gedichte veröffentlichen so etwas ähnliches wie Brötchen verkaufen. „Der Kunde hat immer recht.“ So ist aus dem traurigen Piraten ein lustiger Pirat und aus dem lustigen Henker ein schrecklicher Henker geworden.
Gansberg: Ich konfrontiere dich mit einem zweiten Satz, auch aus „Lyrik als Arbeit“: „Im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern komme ich nicht ohne Literaturgeschichte aus.“ Was meinst du damit?
Reinig: Damit habe ich schnurgerade auf Gottfried Benn gezielt, der behauptet hat, nicht ganz wörtlich, der Künstler komme aus dem Nichts. Alles, was vorher war, hat für ihn keine Gültigkeit. Dµ mußt wissen, daß in meinen Anfängen Benn als ein literarischer Richter galt. Benn hat dies gesagt, und Benn hat das gesagt. Und ich hab’ gedacht: Das ist doch Spinne. Was bin ich ohne die Menschheitsdämmerung, was bin ich ohne das Benn-Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“? Eine alte Dame, die sehr klug war und aus deren Reden ich viel gelernt habe, sagte einmal im Vorübergehen „Alles Wissen ist geklaut!“ Ich war in dem Betrieb ein Lehrling, sie eine Angestellte, fast eine Vorgesetzte. Ich wußte noch gar nicht, was aus mir werden würde. Dieser Satz ist einer der Sprüche, die ich auffing und die haftenblieben. Jeder Wissenschaftler weiß, daß er auf den Schultern seiner Vorgänger steht, und vielleicht hat er sich vorgenommen, ihnen auf den Kopf zu treten. Aber das gilt auch für den Dichter. Ich bin nichts ohne die, die vor mir gedichtet und gedacht haben. Und das gilt auch für Gottfried Benn.
Gansberg: Ja, er hat sehr deutlich gesagt, daß Heinrich Mann und Nietzsche für ihn sehr wichtig gewesen sind.
Reinig: Natürlich. Ein Dichter steht immer auch in einer Tradition.
Gansberg: Und das bedeutet, sich unter Umständen abzuarbeiten an Autoren, die für dich wichtig gewesen sind?
Reinig: Ganz richtig.
Gansberg: Welche Autoren und Autorinnen haben dich vor allem beeinflußt?
Reinig: Vor allem Else Lasker-Schüler. Allerdings bekam ich sie nicht in ihrem Einzelschicksal als Frau und Dichterin, sondern als Genossin der Menschheitsdämmerung: Benn, Karl Kraus, Heym, Trakl. Und da gab es bei mir eine gewisse Unbehilflichkeit. Ich würde nicht sagen: Schüchternheit, denn unter den Zukunftsachlichen Dichtern gab es kein Mundverbot. Aber ich dachte etwas, das ich nicht in Worte umsetzen konnte. Mit heutigen Begriffen. „Also diese Else, die sagt doch einfach, was Sache ist, aber dieser Benn und die anderen, die viel angesehener sind, die schwafeln doch bloß herum.“ Das konnte ich damals nicht sagen, aber ich empfand es. Lasker-Schüler als große Realistin. Dann darf ich Rilke nicht vergessen. Bei den Zukunftsachlichen mußte ich ihn vergessen. Es durfte ihn gar nicht geben: Aber was kannte ich denn schon groß außer Eichendorff, Brentano und die Klassiker? Von Rilke habe ich gelernt, modern zu sein. Fremdwörter nicht zu scheuen, sie sogar in den Reim zu setzen. Und ich habe Rilke-Augen bekommen. Wenn ich frühmorgens zur Arbeit ging, und die erleuchtete S-Bahn zog über die Brücke zum Bahnhof Friedrichstraße, dann dachte ich: Wie würde Rilke das sagen? Wenn ich auf der Straße saß und mein Pausenbrot aß, dann kamen die jungen Spatzen, fast noch Küken, und hüpften ein eigentümliches Hüpfen. Sie bewegten sich so, daß du es eben nicht benennen könntest. Es war fast, als ob sie von einem leichten Windhauch emporgehoben würden. Und ich dachte: Wie würde das in einem rilkeschen Gedicht benannt werden? Und dieser Rilke, das war das erste, was mir die Zukunftsachlichen austrieben. Außerdem war die kritische Bemerkung „du rilkst!“ ein Schimpfwort. Ein Dichter, der rilkte, war das letztunterste. Kürzlich las ich ganz neugebackene Gedichte, sogar Sonette (gibts also wieder, war auch eine Zeitlang aus der Mode), da sah ich mit Erstaunen: Der rilkt ja zum Gotterbarm! Aber außer mir merkte es keiner. So sehr ist Rilke aus der Literatur herausgefallen. Ich durfte nicht rilken. Und es war auch gut so, daß ich das überwunden habe.
Gansberg: Ich muß auch sagen: Von Rilke merkt man in deinen Gedichten nichts mehr.
Reinig: Ich hab’ nicht allein Rilke getreulich nachgeahmt. Ich hab’ mich auch an Ringelnatz versucht. Wenn ich einsam und allein in meinem stillen Kämmerlein saß, dann dachte ich: Das ist doch so wunderbar, dieser Ringelnatz ist ein großer Lyriker, wie macht er das bloß? Wie bekommt er diesen lyrischen Ringelnatzton heraus. Das muß ich probieren. Aber diese Versuche hat niemand je gesehen. Keiner durfte wissen, daß Christa Reinig auch geringelnatzt hat. Aber es hat mir wahnsinnigen Spaß gemacht.
Gansberg: Wie steht es mit älteren Autoren etwa aus der Antike oder aus dem 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert?
Reinig: Alles, was 18. Jahrhundert ist, hebe ich zweihändig hoch: Voltaire, Lessing, Kant, der junge Goethe, das ist alles so unglaublich gut und nicht ein bißchen verstaubt. Ich glaube, im 19. Jahrhundert sind sehr viel mehr die Motten drin als im 18. Jahrhundert. Kürzlich lese ich wieder einmal den Werther. Ich denke: Warum liest du das eigentlich? Liest du das, weil es von Goethe ist, oder liest du den Goethe, weil er den Werther geschrieben hat? Letzteres! Der Werther ist so unheimlich gut. Ich kann nicht drüber weg. Ich muß es dir vormachen: Es ist Weihnachtstag, und Lotte und Albert, eine brave Familie, packen die Weihnachtspäckchen aus. Albert erbricht die Briefe und liest Lotten daraus vor. Es kommt ein Bote und bringt eine Nachricht. Sie wird zwischen die Post genommen. Die Nachricht ist vom besten Freund der Familie, von Werther. Er meldet, daß er eine Reise machen muß und keine Waffen habe, daher erbitte er sich von Albert die Duellpistolen. Die hängen in der guten Stube an der Wand. Albert und Lotte blicken sich einen Augenblick an, und dann sagt Albert: Na, gib sie ihm: Lotte nimmt die Pistolen von der Wand und pustet den Staub runter, und der Botenjunge zieht mit den Dingern ab, und die Welt ist in Ordnung. Verstehst du? Die Welt ist nicht etwa durch das, was Albert und Lotte soeben taten, in Unordnung gebracht worden, wie moderne Romantiker glauben. Sie ist auch nicht gewaltsam in Ordnung gebracht, wie rustikale Moralisten glauben könnten. Nein, die Welt ist in Ordnung, so wie sie ist. Sie war niemals aus der Ordnung. Alles läuft wie geölt und kommt da an, wo es ankommen muß. Und wenn du jetzt nachliest, was ich erzähle, dann steht es gar nicht geschrieben. Und das ist Literatur. Literatur ist nicht das, was ich schreibe, sondern was ich nicht schreibe. Der ganze Goethe besteht aus dem, was er nie geschrieben und gesagt hat. Und das 18. Jahrhundert hatte diese Gabe, daß das Geschriebene und Gesagte das Negativ war, aus dem du die Wirklichkeit bekommst.
Gansberg: Und was ist es da, ist es die Aufklärung, also die Botschaft, oder ist es die Art, wie das formal gemacht ist, ist es der Witz, die Kritik, die Heiterkeit?
Reinig: Die Heiterkeit, ohne albern zu werden, die Wahrheit zu sagen, ohne sich zu überanstrengen, Aufklärung als Botschaft, aber nicht als Martyrium.
Gansberg: Natürlich nicht.
Reinig: Ich finds toll!
Gansberg: Und dann hast du auch wohl de Sade gründlich studiert?
Reinig: Gründlich studiert würde ich nicht sagen. Das könnte allein ein Mediziner, ohne zu kotzen. Aber ich hab’ schon genau hingeschaut und mit sehr viel Langeweile (grauenhafte Dinge sind auf die Dauer langweilig), also ich hab’ mich gelangweilt. Aber von Zeit zu Zeit war ich fasziniert. Es gibt übrigens in der deutschen Literatur eine Entsprechung zu de Sade. Das sind Schillers Räuber, besser könnte es de Sade auch nicht. Dann gibt es die anderen Autoren dieser Zeit, den Polen Jan Potocki, den ich als einen meiner Lieblingsautoren angemeldet habe. Ich hab’ darüber geschrieben. Die Handschrift von Saragossa. Dann Beckfords Vathek, beide waren aristokratische Jakobiner, das gibt eine gute Mischung. Und auch was sie gemacht haben: die Geschichte von 1001 Nacht zu travestieren. Wenn ich originale islamische Märchen lese, langweile ich mich zu Tode. Aber wenn Potocki und Beckford den Islam benutzen, um den europäischen Aberglauben zu paralysieren, dann ist das amüsant. Und dann kommt die Gegenreformation in die Sache hinein. Die Antiaufklärung. Daß Balzac kein Freund der französischen Revolution war, hat sich vielleicht herumgesprochen. Er war das, was man heute einen Reaktionär nennt. Und das war sichtbarlich ein guter literarischer Standpunkt. Aber als den größten europäischen Roman würde ich Manzonis Verlobte nennen. Das Buch habe ich so oft gelesen, daß ich plötzlich um die Ecke gucken konnte. Ich sah nicht allein das, was der Autor sah, sondern auch das, was er nicht sehen wollte: daß der Große rettende Unbekannte die Mafia war, daß der Händedruck zwischen dem Kardinal und dem Großen Unbekannten der Filz zwischen Mafia und Kirche ist. Und vor allem, daß dieser Roman das traurigste Happy-End der Literaturgeschichte hat, indem nämlich Manzoni schreibt, wie es in der Ehe weiterging. Das Happy-End wäre gewesen, daß die Liebenden sich nicht gekriegt hätten.
Gansberg: Wie stehts mit zeitgenössischen Autoren, Autorinnen, Kollegen?
Reinig: Da gibt es die einzige, einsame Ingeborg Bachmann. Ich habe lange Zeit mit ihren Texten nichts anfangen können. Sie war ein anderer Mensch aus einem anderen Leben. Selbst wenn wir uns begegnet sind, haben wir nicht gewußt, was wir miteinander reden sollten. Was sie schrieb, habe ich nicht verstanden. Erst als ich Feministin war, las ich zufällig „Undine geht“, und da war ich reif, diesen Text zu verstehen. Ich begriff. Sie hatte zu ihrer Zeit Themen aufgegriffen und gültig behandelt, die außer ihr niemand erkannte, ich jedenfalls nicht.
Es gibt für mich eine Faustregel, nach der ich mir klarmache, ob etwas gut ist oder nicht. Normalerweise lebt jeder Schriftsteller und jede Schriftstellern in einer eigenen Welt, und dieses übern Zaun gucken und antworten müssen, was halten Sie von der oder dem? ist schon sehr mühselig. Wenn ein Kollege mich nicht mag, habe ich dafür Verständnis. Wenn er sich über mich einen Text abringen muß und getadelt wird, du bist der Christa Reinig aber nicht gerecht geworden, nehme ich ihn in Schutz. Es ist im Grunde eine Zumutung, daß Schriftsteller über andere Schriftsteller schreiben müssen. Aber manchmal denke ich: Dieses Buch dieses Gedicht, das hätte ich gern gemacht. Und das ist das Zeichen. Zwei Bücher gibt es, die ich gern gemacht hätte: einmal Thomas Bernhards Verschwörung und zum anderen Peter Handkes Wunschloses Unglück. Solche Bücher hätte ich gern geschrieben.
Gansberg: Du sagtest, Bachmann hat vieles früh erkannt. Kannst du das an einem Text festmachen?
Reinig: Nehmen wir die Texte „Undine geht“, „Probleme. Probleme“, „Ihr glücklichen Augen“. Es sind nicht meine Themen. Denn wenn ich beschließe, daß ich Literatin werde – oder überhaupt Künstlerin –, dann gehört doch dazu, daß ich beschließe, den Männern nicht zur Verfügung zu stehen. Denn diese Beschäftigung mit den Männern ist verlorene Zeit, das kannst du dir mit einer Uhr ausrechnen: Kleider einkaufen, Schminkzeug besorgen, ankleiden, anmalen, ausgehen, flirten, quatschen, ins Bett, hinterher waschen, ankleiden, wieder quatschen. Stell dir vor, was du in dieser Zeit alles hättest machen können. Aber wenn du dir diese Zeit einsparst, dann verlierst du den Erlebniswert. Ich hätte gesagt: „Was hat sie denn, worunter leidet sie?“ Und plötzlich ist das ein gelebtes, ein verarbeitetes Leiden. Etwas Ausgesätes, das Früchte getragen hat. Zunächst haben mir die Texte nicht gepaßt.
Gansberg: Bei der ersten Lektüre?
Reinig: Es verging die Zeit von vielleicht zwanzig Jahren. Und dann war sichtbar: „Undine geht“ ist ein Jahrhunderttext.
Gansberg: Wie ist es mit anderen prominenten Frauen: Virginia Woolf, Djuna Barnes?
Reinig: Ich habe mir große Mühe gegeben. Aber Virgima Woolf ist mir zu fein gesponnen. Ich bin halt etwas rustikal.
Gansberg: Ist dir auch zu langweilig?
Reinig: Das Wort wollte ich vermeiden. Ja, und Djuna Barnes? Nachtgewächs ist sehr gut übersetzt. Ist auch im Deutschen einzigartig gut.
Gansberg: Ja, Hildesheimer!
Reinig: … und ich habe es mit großer Begeisterung gelesen. Aber das war hinter der Mauer. Da ist ein anderes geistiges Klima. Die Abgeschlossenheit, beinahe so was wie Einzelhaft. Da war ich von Nachtgewächs wie berauscht. Das ist heute vergangen. Ich bemühe mich sehr, sie hat auch in letzter Zeit eine Auferstehung erlebt. Aber ich habe keinen Draht mehr. Ich finde es gut, daß sie jetzt groß rauskommt. Aber für mich ist es Historie.
Gansberg: Und nun kennst du die Texte ja schon?
Reinig: Das spielt keine Rolle. Wenn ich auf ein Buch abgefahren bin, lese ich es wieder und wieder.
Gansberg: Und Anna Seghers?
Reinig: Sie hat mich sehr beeindruckt. Besonders das Siebte Kreuz. Aber dann war sie eben die Staatsvertreterin. Wenn du mit dem Leben, das du führen mußt, nicht einverstanden bist, und kriegst es auch noch dichterisch eingerührt, dann vergeht dir alles. Ich bin aber auch ein Opfer der Arbeiter-und-Bauernfakultät. Das war wieder die Schizophrenie, von der in anderen Zusammenhängen die Rede war. Ein gewisses Mißbehagen, das sich nicht äußern kann, kommt plötzlich aus anderer Richtung. Du kannst doch als Arbeiter-und-Bauern-Studentin nicht sagen: Hört auf mit dem Quatsch, ich kann diesen Sozialistischen Realismus nicht verkraften. Sondern du sagst: Pah, diese Anna Seghers, die ist ja nicht realistisch genug. Du glaubst gar nicht, wie Anna Seghers und auch Brecht von uns bemeckert wurden.
Gansberg: Von euch?
Reinig: Ja, da saßen wir in unseren blauen Hemden…
Gansberg: Das waren die Arbeiterverräter?
Reinig: Genau. Wir waren so was von dogmatisch. Da wir nicht dagegen sein durften, wiesen wir einfach nach, daß die anderen dagegen waren. Die kotzen mich an, warum kotzen sie mich an? Weil sie nicht fortschrittlich genug sind. Wir sind Walter Ulbrichts Rote Garden, und was ist denn der Brecht? Du glaubst nicht, was es für Diskussionen gegeben hat. Und wir waren richtig, und wer nicht so war, war falsch.
Gansberg: Das hast du schon im Interview mit Rudolph gesagt. Ich verstehe es bis heute nicht: Ihr kamt aus dem Proletariat und dachtet, dieser Brecht, Oberschichtskind, hat zwar seine Klasse verraten, aber das genügte euch nicht?
Reinig: Was ich gedacht habe, weiß ich. Ich dachte, leck mich… Hauptsache, ich kann studieren. Was die anderen gedacht haben, weiß ich nicht. Und ich konnte doch sehen, daß der Brecht gute Gedichte gemacht hat. Aber die anderen sahen es merkwürdigerweise nicht. In der Unterrichtsstunde wurde uns nachgewiesen, daß der Brecht das Ding mit der Dichtkunst nicht richtig verstanden hat, aber der Ilja Ehrenburg, der für mich ein Kitschjö ist, der war ein großer Dichter. Und dann wurde ein Brechttext auseinandergenommen. Das war der „Verwundete Sokrates“, der sich einen Dorn in den Fuß tritt. Brecht hätte nichts versäumt, wenn er diesen Text nicht gemacht hätte, aber nun war er eben da, und die Studenten hackten unter Anleitung der Dozenten drauf herum. Unsere Aufgabe war: einzusehen, daß dieses Werklein literarisch völlig mißlungen ist, was meine Mitstudenten mit grunzendem Genuß taten. Dann setzten wir uns auf eine grüne Wiese, mit dem Po ins nasse Gras. Dozenten waren nicht dabei. Ob das ein Zufall war? Jedenfalls, wir waren unter uns. Und dann ging ein Getobe los über diesen Arbeiterverräter Brecht. Diese Arbeiter-und-Bauern-Studenten benahmen sich wie ein blutrünstiger Hornissenschwarm. Dann hieß es: Das Brecht-Theater, damals noch im Deutschen Theater, veranstaltet eine Aufführung einzig und allein für die FDJ.
Gansberg: Es waren Proben zu Brechts Mutter nach Gorki?
Reinig: Keine Proben. Es war ein fertiges Stück. Ich hätte es von mir aus nicht angesehen. Dazu war mir Gorki zu heilig. Aber nun sah ich es doch. Die Weigel fand ich gut, aber das Stück drumrum nicht. Trotzdem wars kein Grund für das, was nun kam. Nach der Vorstellung sollte es eine Diskussion geben, und Brecht sollte sich vor seinem Publikum verantworten. Für was verantworten? Ich zerbrach mir nicht den Kopf. Ich war auch nicht neugierig. Plötzlich, ohne mich darauf vorbereitet zu haben, hatte ich Lust, das Theater zu verlassen. Ich dachte: Leckt mich doch alle… Es wurde hell, ich ging davon. Die Studenten zogen nach der anderen Seite, dahin, wo ihr vermeintliches Opfer auf sie wartete. Ich weiß also nicht, wie es weiterging. Aber da ich Assistenten aus dem Berliner Ensemble kannte, haben sie es mir erzählt. Brecht hat sich gar nicht viel gefallen lassen. Er hat sich die ersten blöden Bemerkungen angehört, ist aufgestanden und davongegangen. Das war die große Hinrichtung, die die Arbeiter-und-Bauern-Studenten an Brecht zu vollziehen gedachten.
Später konntest du dann den politischen Zusammenhang erkennen. Es ging um das Stück Lucullus, da wollte ihn die Partei in den Griff bekommen, und wir, die wir mit unseren blauen Hemden das Theater füllten, so daß das ganze Theater Blau in Blau war, sollten die Zange sein.
Gansberg: Aber ihr habt im Grunde von Brecht nicht sehr viel gekannt?
Reinig: Nein. Ich jedenfalls nicht. Heute weiß ich, was mir an Brecht nicht gefällt, sein Macho-Gehabe. Aber damals habe ich das gar nicht ausdrücken können. Es gab Augenblicke, da dachte ich, wie kannst du einen so großen, so guten Dichter so ablehnen, so grundsätzlich nicht mögen? Dann durchbrach ich diese Vernagelung an dem Balladentext „Legende von der Entstehung des Tao-Te-King“. Dieses Gedicht mußte mir einfach gefallen. Ich bin das brave Arbeiterkind auf der braven Arbeiter-und-Bauernfakultät. Ich mag Brecht nicht, die anderen mögen ihn auch nicht. Da sind wir uns doch ausnahmsweise einig. Es war wie eine Torsion, eine Drehung um die eigene Achse. Was da in diesem Theater stattfand, das war die Nacht der Langen Messer, die Bücherverbrennung, da sprang ich auf und rannte raus.
Gansberg: Wie steht es mit schwulen Autoren, gibt es da welche, die dich beeinflußt haben?
Reinig: Nehmen wir Proust. Von dem hätte ich nie eine Zeile gelesen, wenn ihm nicht der Ruf des Schwulseins vorausgelaufen wäre. Und dann lese ich den Anfang, und der ist einzigartig, und ich lese die Abschnitte über seine Kindheit. Und daß er dann auch noch schwul ist oder über schwule Dinge schreibt, das ist plötzlich marginal. Das ist Nebensache. Außerdem fand ich die Verdrehung von schwulen Männern in lesbische Frauen blöd. Genau da ist er nicht gut. Dann Oscar Wilde. Das Bildnis des Dorian Gray las ich als Berufsschülerin. Ich hätte überhaupt nichts davon verstanden, wenn man mir was vom Fall Oscar Wilde erzählt hätte. Kürzlich las ich es wieder. Es ist ein so gutes Buch. Und jedes Wort wahr. Ich glaube nicht mehr, daß es in dem Gerichtsfall Oscar Wildes um Homosexualität gegangen ist. Ein Dichter, der so unverblümt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt, hat sich seine Hinrichtung verdient. Allerdings war Oscar Wilde absolut lesbenfeindlich, wie viele Schwule, wie Henry James in seinem Bostonians, wie Sergej Eisenstein in seinem Oktjabr. Also schwul ist nicht lesbisch. Schwulsein ist unter Umständen auch Frauenfeindschaft. Dann weiß ich nicht, was ich da noch an schwulen Autoren… vielleicht Tennessee Williams, auch sehr frauenfeindlich. Oder die Frauen sind falsch dargestellt, so wie ein schwuler Autor sein würde, wenn er eine Frau wäre. Ich weiß nicht, was ich da noch…
Gansberg: Baldwin, oder?
Reinig: Naja!
(…)
aus: Erkennen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie-Luise Gansberg und Mechthild Beeerlage, Verlag Frauenoffensive, 1986
FÜR CHRISTA REINIG
Wir haben Briefe gewechselt,
vor Jahren,
keine für Tauben,
eher Krähenpost.
Dem Bomme
nicht zuliebe
und auch nicht
Hantipanti, der
beweglichen Papierseele.
Doch die wortlosen
Botschaften, die ich
nun ausschicke,
ihren Sätzen folgend,
listigen Geländern,
erreichen sie als
Kleckse * ➼ der sei der lieben Poetin geschenkt
in denen
ihre Buchstaben
baden sollen
die leisen und
die lauten
die lieben und
die laxen –
Tintenteiche,
an deren Ufern
Gedanken sitzen,
nicht meine –
ihre.
Peter Härtling
FÜR CHRISTA REINIG
Aug in Aug mit Dir
möchte ich nicht leben
denn ich bin bestechlich
Alle lauten Worte
ziehst Du aus, kein leises
findet ein Versteck
Deine Übungen wären tödlich
für meine dunklen Kinder
Manchmal weiß ich
es muß Dich geben
wer hält die Tempel rein?
Manchmal weiß ich
Deine Klausur
liegt auf dem Wagebalken der Welt
Manchmal weiß ich
die Gepeitschten
dürfen die Peitsche führen
Laß mich um dich kreisen
aber ich bleibe Wölfin
leise laut dunkel unbestechlich
Margarete Hannsmann 1976
das schrieb ich vor dreizehn Jahren
als alle Vögel noch hoch flogen
jetzt streichen sie flach übern Boden hin
wie weiß ich wer wir sind.
Dieter Hülsmanns: Eine zugereiste Dichterin
DU, Heft 11, November 1968
Lothar Köhn: Zeit der Weiblichkeit?
Lothar Jordan, Axel Marquard, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Erlebnis und Kritik, 1988
Anne Hahn: Mein kleiner Buchladen: „Vergessene Bücher“ – Die Frau im Brunnen
piqd.de, 22.11.2017
Zum 60. Geburtstag der Autorin:
Karl Krolow: Woher der Wind weht
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1986
Wolfgang Schirmacher: Widerborstig zum Kulturbetrieb
Allgemeine Zeitung, Mainz, 8.8.1986
Zum 70. Geburtstag der Autorin:
Elisabeth Endres: Papier ist ungeduldig
Süddeutsche Zeitung, 6.8.1996
Irene Ferchl: Dreimal raten
Stuttgarter Zeitung, 6.8.1996
Wulf Segebrecht: Für die Stromer und wüsten Matrosen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1996
Wolfgang Platzeck: Entmannung
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 7.8.1996
Zum 75. Geburtstag der Autorin:
Wolfgang Platzeck: Gegen das positive Denken
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 4.8.2001
Helmut Böttiger: Sachlich in die Zukunft
Der Tagesspiegel, Berlin, 6.8.2001
Peter Mohr: Der Mut zu Ausbrüchen, Aufbrüchen und Abbrüchen
General-Anzeiger, Bonn, 6.8.2001
Zum 80. Geburtstag der Autorin:
Ulla Hahn: „Wenn mir beim Schreiben die Luft wegbleibt…“
die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006
Peter Mohr: Papier ist ungeduldig
titelmagazin.com, 6.8.2006
Ijoma Mangold: Wucht und Weisheit
Süddeutsche Zeitung, 5./6.8.2006








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