Vor mir auf dem Tisch liegt, per Zufall ungefähr in der Mitte aufgeschlagen, die ›Kleine tragbare Kosmogonie‹ von Raymond Queneau, ein angegilbtes Exemplar aus der Erstauflage bei Gallimard. Mich bringt das unscheinbare querformatige Büchlein in eine, sag ich mal, melancholische Begeisterung – es nun als biegsames Konvolut in der Hand zu halten, seinen herbstlichen Duft zu riechen, die Schrift aus der Monotype wie eine feinste Gravur im holzhaltigen Papier zu ertasten! Und auf der ersten Seite – das ist nun ganz was anderes und kommt noch dazu – lese ich ohne Anführungsstriche den Vers du vierge du vivace et du bel aujourd’hui, den Queneau unverfroren aus Stéphane Mallarmés Sonett übernimmt: »vom heilen vom regsamen und vom edlen heute«. Und heute? Der Trend zum E-Book nimmt zu … ist unaufhaltsam. – Noch sind Frühjahrsbücher nicht ausgeliefert, schon liegen die Herbstprogramme vor – ich habe rund zwei Dutzend Vorschaukataloge durchgesehen, bin erleichtert, dass ich kaum eine der angekündigten Neuerscheinungen brauche. In den aufwendig gestalteten Katalogen werden die Texte mit den üblichen Werbe- und Kritikerphrasen qualifiziert: Die sanfte Resignation, der vom Vergehen der Zeit abgemilderte Schmerz – aus solchen Gefühlsräumen baut A. ihre berückend dichten Geschichten. – B. beherrscht auf unvergleichliche Weise die Fähigkeit, Geschichten aus dem Alltag zu erzählen. – C’s Texte bestechen durch die Wachsamkeit, mit der sie unangenehme und doch weit verbreitete menschliche Regungen registrieren. – Mit besonderem Erzähltalent hat D. seine ganze Begabung in diesen ersten Roman gepackt. Usf. bis zum Ende des Alphabets. Wie schreibt man über Bücher, die man nicht gelesen hat? Genau so. Schwachsinn hin oder her, doch auf diesem Niveau entscheidet sich … auf solchem Niveau wird heute, von Kritikern wie von Juroren, über literarische Qualität entschieden. Wo bleibt die (Literatur als) Kunst? – Bin aufgewacht um fünf Uhr siebenunddreißig vom schnarrenden, rasch wieder verwehenden Lärm eines Hubschraubers … vermutlich ein Rettungsflug zum nahen Universitätsspital. Zum Aufstehen ist’s mir zu früh. Draußen hängt noch die katzengraue Nacht zwischen den beiden Straßenlaternen. Ich versuche, an die letzten Traumbilder anzuknüpfen, um gleich weiterzuschlafen. Ich sehe Krys als fünfzehnjährige Fünfzigerin, wie sie sich in der voll besetzten Brasserie Lipp rücklings auf einen Tisch legt, die Beine hebt, die Arme ausbreitet, dabei ihr strähniges silbrigweißes Achselhaar sehn lässt und laut nach einem Kind schreit, das sie haben will oder verloren hat. Das Einschlafen gelingt aber nicht mehr. Ich steh auf, notiere diese paar Zeilen, ordne die Lesenotizen von gestern Abend zur ›Änderung der Ansicht über Blumen‹ von Francis Ponge, der am einunddreißigsten August neunzehnhunderteinundvierzig um vier Uhr früh beschreibt, wie er vom Eukalyptus »heimgesucht« wird, so lang, so beharrlich, bis er in Klammern dazu anmerken muss: »(das reicht, ich geh schlafen)«. Hole die Zeitungen aus dem Briefkasten, nein, viel zu früh, sie sind noch nicht da. Also Radio; zum Frühstück die ersten Politikerinterviews, dazwischen jeweils ein paar Takte mit Lang Lang oder Udo Lindenberg. Der Tag kommt in dunstigem Umhang über den Uetliberg, von dem nur die Rückenlinie zu sehn ist und das stumpf blinkende Rotlicht auf dem Sendemast. »Ohne jeden Glauben«, heißt es bei Ponge, »kein Grund, stärker (energischer) zu sein als das Gesetz der Schwerkraft.« Hab ich mir ebenfalls notiert. Bin ja oftmals irritiert von der sturen Geltung und Rechthaberei der Schwerkraft, die all mein Tun und Lassen – selbst den Gang der Gedanken – beherrscht. Und ja! Und aber nein doch! Beim Geschirrspülen nach dem Frühstück rutscht mir mein schönstes Trinkglas (rotgelb schimmernd, angeblich mundgeblasen in Murano, Geschenk von Krys) aus der Schreibhand und bricht auf dem Kachelboden, ohne zu splittern, in drei etwa gleich große Scherben auseinander. Hätte ich in der Rakete gefrühstückt, wäre mir das Glas, von der Schwerkraft unabhängig, irgendwie zur Seite hin oder nach oben entglitten, es wäre mir entschwebt. Und … aber wie steht es, wie stünde es dort oben um die Schwerkraft des Denkens und Imaginierens? Ich vermute, das gute alte »Dichten und Trachten« geriete im luftleeren Raum, wo nach einer gewissen Zeit der Schwerelosigkeit auch fixe Ideen wohl hinfällig werden, zum unergiebigen Flohfang.
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