Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Dichterisches Täuschungsmanöver

Dichterisches Täuschungsmanöver

 

Dylan Thomas bin ich schon in meiner Schulzeit begegnet, nicht als Leser, sondern übers Ohr: Das Hörstück «Unterm Milchwald», damals wohl in der deutschsprachigen Erstinszenierung des NDR, wurde für mich zu einer frühen – und prägenden – literarischen Sensation. Ich war überwältigt (genauer: hingerissen) von dem grandiosen dissonanten Stimmengewirr und glaubte in meiner ersten Begeisterung das urtümliche Raunen und Rauschen der Poesie zu vernehmen, gleichsam Dichtung pur – hoher Ton, untermischt mit umgangssprachlichen, teils auch trivialen Einsprengseln, die rasch wechselnden Stimmen auf so viele kaum unterscheidbare Sprecher verteilt, dass sie insgesamt wie unstet an- und abschwellender Chorgesang klingen, viel mehr klingen als besagen und bedeuten: Literatur noch vor der Schrift!
Trotz seiner akustischen Flüchtigkeit und seinem Defizit an fassbarer Bedeutung hat Thomas’ «Milchwald» seine Faszination für mich noch lange bewahrt, obwohl ich nie richtig verstanden habe, was die Milch und der Captain mit dem von fluktuierenden Stimmen durchwirkten Wald zu schaffen haben sollten. Doch gerade diese Ungewissheit, bedingt durch die Schwächung der Aussageebene und die Unterbietung des sogenannten gesunden Menschenverstands, scheint den poetischen, fast schon magischen Effekt des Stücks auszumachen. Zu der frappierenden Entdeckung, dass Wörter oder Namen (wie eben «milk wood») auch für sich selbst und als solche sprechen können, statt wie gemeinhin etwas zu besagen, das ausserhalb der Sprache liegt, hat mir jedenfalls Dylan Thomas mit seinem lautmalerischen Hörspiel verholfen: Der «Milchwald» war für mich die akustischen Initiation in die damals angesagte experimentelle Dichtung und hat mich zum Versemachen (wie zum Schreiben überhaupt) nachhaltig angeregt.
Als ich mir dann später andere Texte von Thomas vornahm (Lyrik, Prosa, auch die Briefe), war jener Zauber rasch verflogen. Nie wieder stellte sich meine ursprüngliche Begeisterung auch bloss ansatzweise ein, und heute halte ich den einst bewunderten Autor für einen ziemlich unbedarften literarischen Kraftmeier, erkenne und empfinde aber hinter seinem burschikosen Personalstil auch einen zutiefst melancholischen Grundimpuls: Ein schwer depressiver, dabei halt- und hilfloser Mensch tarnt seine Verletzlichkeit durch ein großspuriges Gehabe, das in derber literarischer Rhetorik adäquaten Ausdruck findet.
Man hat Dylan Thomas das zwiespältige Image eines «gefallenen Engels» verpasst, er galt als frühreifes Genie, in der Folge auch als begnadeter Säufer und hochgemuter Erotomane; er selbst sah sich gern als «rebellischen Jungen und morbiden Jüngling» – was er denn auch (sein durchwegs autobiographisch grundiertes Gesamtwerk bezeugt es) zeitlebens geblieben ist. Thomas wollte nicht berühmt, sondern populär, von vielen geliebt sein; gern und erfolgreich trat er vor grossem Publikum auf, seine Texte sollten weder kunstvoll noch belehrend sein, vielmehr waren sie darauf angelegt, Leser und Hörerinnen mal zum Lachen, mal zum Weinen zu bringen, also spontane emotionale Reaktionen auszulösen.
Dieses Minimalprogramm fand und finde ich nicht sonderlich attraktiv, und Thomas’ primitivistische Ausdrucksweise mit ihrer alternativen Tendenz zu Brutalismus und Sentimentalität kommt mir allzu forciert vor. Doch womöglich verbirgt sich dahinter die ernsthafte Suche nach einer Rhetorik, die seiner Lebensgier und seiner Todesangst gleichermassen gerecht werden sollte. Dieses Dilemma bringt Dylan Thomas in seinen «Anmerkungen zur Dichtkunst» (1951) fast schon definitorisch auf den Punkt: «Bei der Lyrik kommt es nur darauf an, dass sie Spass macht, wie tragisch sie im Grunde auch sein mag. Wichtig ist allein der ewige Fluss, die gewaltige Unterströmung aus menschlichem Leid, aus Torheit, Anmassung, Begeisterung oder Ignoranz, mag die Absicht eines Gedichts auch noch so profan sein.» – Doch «profan» ist bei Thomas nicht die «Absicht», sondern die Ausführung und die Form der Dichtung, die offensichtlich darüber hinwegtäuschen soll, «wie tragisch sie im Grunde» ist. Dieses permanente Täuschungsmanöver entgegen der eigenen Befindlichkeit und einzig zugunsten des Lesevergnügens halte ich für problematisch. Das Gedicht hat anderes zu tun und kann auch anderes bewirken.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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