Dichtersprache, Gebrauchssprache, Universalsprache
Das prekäre Vermächtnis der «konkreten Poesie»
Teil 2 siehe hier …
Den «Formalismus in der Dichtung» durchzusetzen, das war in den 1910er wie in den 1950er Jahren ein zwar vielbeachtetes, aber auch weithin beargwöhntes und als «elitär» gerügtes Unterfangen, dessen vermeintlich «revolutionäres» Anliegen man in einem doppelten Bruch zu erkennen glaubte – im Bruch mit der geläufigen literarischen Tradition und mit gewohnten Lektüreerfahrungen wie auch, und stärker noch, im Auseinanderbrechen von Inhalt (Aussage, Bedeutung) und Form (Stil, Rhetorik) bei dichterischen Werken, dies mit klarer Privilegierung der Form vor dem Inhalt. Marinettis «Wörter in Freiheit» (parole in libertà), Stramms expressionistische Stammelrede, die «transmentale» (hintersinnige) Poesie der russischen Futuristen und auch noch die inkohärenten Traumprotokolle der Surrealisten sind beispielhaft dafür, dass und wie Bedeutung aus der Dichtung ausgetrieben wird, um statt dessen die optische oder klangliche Textqualität vorrangig zur Geltung zu bringen.
Der literarische Text, nun als «absolutes Gedicht» (Benn) begriffen, soll nicht mehr Dinge, Personen, Episoden, Gefühle, Ideen repräsentieren, er soll vielmehr präsent machen, was er «als solcher», als sprachliches Objekt ist: ein Gefüge von Schriftzeichen und Klangqualitäten, das nicht zwingend verstanden, sondern sinnlich wahrgenommen werden muss. Die Formel dafür lautet (nach Apollinaire): «Unsere Intelligenz muss sich daran gewöhnen, synthetisch-ideographisch statt analyrisch-diskursiv zu begreifen.»
Der dadurch bedingte Bedeutungsentzug gerät beim Lesen naturgemäss zur Frustration, die Lektüre mutiert zu einem Akt der Betrachtung beziehungsweise des Hinhörens, das gewohnte linear und progressiv erfolgende Verstehen ist nicht mehr gefragt, ist auch nicht mehr möglich, da die Zeilen aufgebrochen, schräg oder senkrecht gestellt, die Texte (oftmals verfremdet durch hermetische Neologismen) in unterschiedlichen Schrifttypen und Schriftgrössen dargeboten werden. Die Wortkunst der Futuristen, der Dadaisten, der Konstruktivisten und später dann der «konkreten» Dichter bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.
Und in ihren Programmschriften formulieren sie, gern mit polemischem Furor, ihre diesbezüglichen Klarstellungen und Forderungen: Befreiung nicht allein von literarischen Vorbildern und Formzwängen, sondern auch von elementaren sprachlichen Gegebenheiten (Grammatik, Syntax, Lexik, Orthographie) und typographischen Vorgaben (Satzspiegel, einheitliche Druckschrift, einheitlicher Durchschuss usf.). – In einem kollektiven Manifest der russischen Kubofuturisten («Richtergarten», II, 1913) wird dies, exemplarisch für die damalige internationale Avantgarde insgesamt, wie folgt ausgeführt: «Wir haben die Syntax zerschlagen … Wir verleihen nun den Wörtern Ausdruck durch ihren graphischen und phonischen Charakter … Rechtschreibung lehnen wir ab … die Handschrift nutzen wir als dichterischen Impuls … wir verzichten auf Interpunktion … jede Regung bringt dem Dichter einen neuen freien Rhythmus … wir belobigen Unnützes, Unsinniges, das Geheimnis machtvoller Nichtigkeit …»
… Fortsetzung am 11.12.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik







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