Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.10 )

Titelbild von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Felix Philipp Ingold: Überzusetzen“

Im Normalfall bietet die Übersetzung auf der Aussageebene des Texts eine Analogie zum Original, lässt aber dessen Lautgestalt völlig außer Acht. Lautlich gibt es zwischen dem deutschen „Wald“ und dem französischen „forêt“ keinerlei formale (klangliche oder skripturale) Ähnlichkeit, sehr wohl indes zwischen „Wald“ und „wood“, aber auch zwischen „forêt“, dem englischen „forest“ sowie dem deutschen „Forst“. Die phonetische Paarigkeit muss von der semantischen klar unterschieden und auch in sich differenziert werden – sie reicht vom exakten Gleichklang bis zu vager Ähnlichkeit.
Russisch „mors“ (Fruchtsaft) ist homophon zu lateinisch „mors“ (Tod), ohne dass es deswegen (oder auch dessen ungeachtet) die geringste bedeutungsmäßige Entsprechung zwischen den beiden Begriffen gäbe. Beispiele dieser Art sind sowohl innerhalb wie auch zwischen den unterschiedlichsten Sprachen in beliebiger Zahl namhaft zu machen – sie aktualisieren die Ursprungsfrage, die Frage und die Suche nach den „Urwörtern“ beziehungsweise nach deren Erstschöpfern: die Frage nach dem „Autor“ der Sprache, aber auch nach jenen „Übersetzern“, die am Fuß des Babelturms die Sprachen ausdifferenziert und auseinanderdividiert haben.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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