Heidegger vor dem Siegerberg
In einem kurzen Interludium zu seiner Abhandlung über den „Körpergebrauch“ (Homo sacer, IV/2) berichtet Giorgio Agamben von einigen nachhaltigen Begegnungen mit Martin Heidegger und andern Geistesgrössen zwischen den mittleren 1960er und den späten 1980er Jahren. Erstmals traf der 24jährige italienische Philosoph 1966 im südfranzösischen Le Thor mit Heidegger zusammen, wo ein mehrtägiges Seminar mit internationaler Beteiligung durchgeführt wurde, das der deutsche Meisterdenker klar dominiert habe. Dieser gab sich, wie Agamben festhält, durchweg unduldsam und warf schliesslich der Seminarleitung vor, man habe ihn in seinem Tun und Denken behindert.
Doch im privatem Umgang sei Heidegger freundlich, gelassen, sogar charmant gewesen, habe sich lächelnd photographieren lassen, sei gern − vorzugsweise mit dem einheimischen Dichter René Char − zum Boulespiel und zur Weindegustation gegangen. „Sein Gesicht hatte einen gleichermassen strengen und sanften Ausdruck“, rapportiert Agamben: „Die gleiche sanfte Strenge, die ich auf dem Gesicht toskanischer Bauern gesehen hatte. Er war reserviert, zumindest kam es mir so vor, und doch schien er sich dann plötzlich zu vergessen und gab sich einem Lächeln hin …“ − Gleichaltrige Zeitgenossen wie Karl Löwith oder Emmanuel Lévinas haben Heidegger, bei allem Respekt vor dessen Werk, übereinstimmend als eher unleidlichen Charakter in Erinnerung behalten. Gegenüber Agamben soll Lévinas noch in den ausgehenden 1980er Jahren an dieser Einschätzung festgehalten haben.
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Der stärkste Moment jener Tage in der Provence stellte sich ein, als Heidegger anlässlich eines Ausflugs in die Gegend von Aix zum ersten Mal die Sainte-Victoire vor Augen hatte, jene gewaltige, pultartige Felsformation, die einst Paul Cézanne in immer wieder neuen Annäherungen von der Staffelei aus beobachtet und malerisch erschlossen hat. Angesichts des mächtigen, mythisch überhöhten Bergs blieb der Philosoph, wie Giorgio Agamben mit Nachdruck hervorhebt, „während fast einer Stunde reglos stehen, stumm und wie erschlagen von dem herrlichen Anblick“. Nur sehr langsam habe er zu seiner „Gelassenheit“ zurückgefunden.
Für „fast eine Stunde“ starr und stumm? Umgeben von ratlos wartenden Kollegen und Begleitern
Was mag der Grund für soviel Versenkung und Nachdenklichkeit gewesen sein? Die majestätische Gebirgsarchitektur? Cézannes künstlerische Wahrheitssuche?
Kein Wort dazu! − Agamben kommentiert die Szene nicht. Vielleicht hat er als Heideggers diskreter Gefährte in der dort sich eröffnenden „Lichtung des Seins“ eine Stunde wortlosen Philosophierens miterlebt?
Eine gefühlte Ewigkeit!
Doch fühlen lässt sich eine Ewigkeit auch in drei, vier Sekunden oder in zwei, drei Minuten.
Der Moment reinen Staunens ist allemal ewig, kennt keinerlei Zeitrechnung. Sinnliche – in diesem Fall visuelle – Erfahrung mündet unmittelbar und ungetrübt in ästhetische Erkenntnis.
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Dass Agamben im Übrigen nicht einmal andeutungsweise von den Tagesthemen und den Ergebnissen des damaligen Philosophicums berichtet, scheint − zumindest in diesem besonderen Fall − den Vorrang des Staunens vor dem Reflektieren, der sinnlichen vor der kritischen Erkenntnis zu bestätigen. Wenn nicht den qualitativen Vorrang, so doch den zeitlichen, die Priorität.
Nachzufragen wäre aber schon, was es mit Heideggers auffälliger, wohl auch rücksichtsloser Auszeit wirklich auf sich hatte.
Für den Denker … für die meisten Denker ist die Wirklichkeit Vorgabe (oder Anlass) eher zum Reflektieren denn zum Staunen. Das Staunen … das Staunenkönnen ist ein vorsprachliches Phänomen des Hier und Jetzt, der Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit, das wohl für intensive, punktuelle, ungeteilte Anschauung, nicht aber für kritische Reflexion Raum lässt. „Unser Wissen spielt uns einen Streich“, das hat in diesem Verständnis auch Hans Blumenberg notiert, „wenn wir gerade einmal dabei sind, über etwas zu staunen.“
Das Staunen ist kein gewollter Wahrnehmungsmodus, ist kein Akt der Realitätserschliessung und Welterkenntnis, es ist, im Gegenteil, ein Zustand unwillkürlicher und vorbehaltsloser Betrachtung, offen für alles in diesem (und nur in diesem) Moment − also nicht nur für diesen (oder jenen) Wirklichkeitsausschnitt, sondern für das real Gegebene schlechthin.
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Die Montagne Sainte-Victoire vergegenwärtigt Natur und Kultur gleichermassen. Der Natur gehört der berühmte Berg als eine in ihrer Art unverwechselbare geologische Formbildung an, kulturell ist er − durch seinen „heiligen“ Namen und als ein weithin bekanntes Motiv moderner Malerei − so eng konnotiert, dass selbst diese sekundären Gegebenheiten (Siegesberg mit christlicher Kapelle und Hausberg des Malers Paul Cézanne) naturhaften Charakter angenommen haben.
Wenn nun ein durchschnittlich gebildeter Mitteleuropäer oder − eben − gar der Meisterdenker aus Deutschland vor das Gebirge hintritt, ist dessen sinnliche Wahrnehmung vorbestimmt (und in ihrer Authentizität getrübt) durch das bereits vorhandene faktische Wissen: Die Sainte-Victoire wird erst einmal automatisch als der Siegesberg von Cézanne erkannt, so als wäre die grosse Kalksandsteinformation ein Werk des Künstlers, und gerade nicht eine Hervorbringung der Natur.
Dass im Übrigen auf viele Naturansichten − Sonnenuntergang, Meeresstrand, Baumbestand − spontan reagiert wird mit dem Ausruf: „Das ist ja wie bei van Gogh … bei Courbet … bei NN!“, ist Beleg für die meist unbewusste Interferenz von Kultur und Natur; nicht zuletzt aber auch dafür, dass verinnerlichte kulturelle Gesichtspunkte die Wahrnehmung der Natur „als solcher“ bestimmen und sie gleichsam als eine „zweite Natur“ überlagern.
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Heideggers langanhaltendes wortloses Staunen dürfte ein Staunen vor der nackten, naturgegebenen, kulturfernen Wirklichkeit gewesen sein, ein Staunen angesichts des konkret Gegebenen, das sich, in all seiner Vordergründigkeit, unversehens als ein Mysterium erweist, als etwas für den menschlichen Geist uneinholbar Entrücktes − als ein zugleich Erstes und Letztes, das keine benennbare Bedeutung hat, dafür jedoch, falls die unverstellte Anschauung gelingt, die freie Sinnbildung ermöglicht. Davor, dabei muss allerdings auf jeden Wissensballast verzichtet werden, vorgeprägtes Erkennen muss reiner Anschauung weichen − so wie bei Franz Kafka der Schwimmer das Schwimmen verlernen muss, um als Meisterschwimmer zu reüssieren.
Martin Heidegger hat dafür „fast eine Stunde“ eingesetzt, derweil seine Reisegefährten ungeduldig auf ihn warteten. Auch sie − alle − hätten sich dem Geheimnis (oder dem Wunder) des Realen stellen und daraus Sinn gewinnen können, jeder auf seine Weise. Vielleicht ist es ja − ganz einfach? − so, wie einst John Cage notierte, dass man sich langweilen (lassen!) muss, um wirklich wahrnehmungsfähig zu werden: Ein diskreter polemischer Gegenzug zum Sensationsbedürfnis der Jetztzeit, das die Betrachtung durch den Schnappschuss ersetzt hat, und gleichzeitig, ebenso diskret, eine Rechtfertigung asketischen Einhaltens, Wartens, Harrens als Exerzitium der Welterfahrung.
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„Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!“ Ludwig Wittgensteins schlichter Imperativ (in den Philosophischen Untersuchungen, § 66) könnte Heidegger angesichts der Sainte-Victoire vorgeschwebt haben, mag ihn an die kaum je verwirklichte Grundforderung der Phänomenologie erinnert haben, wonach die Philosophen – alle Philosophen – den Weg „zurück“ zur Dingwelt einschlagen und ihrer sinnlichen Erlebnisfähigkeit mehr trauen sollten als der Reflexion über die Dinge: Die Wirklichkeit als Ort und Garant der Wahrheit, die ansonsten eher in Schriften und Zahlen denn im Hier und Jetzt gesucht wird?
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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