Franco Fortini: Nichts ist sicher, aber schreibe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franco Fortini: Nichts ist sicher, aber schreibe

Fortini-Nichts ist sicher, aber schreibe

ANDERE ARS POETICA

Es gibt in der Poesie eine Macht,
die, hat sie einmal den verletzt,
der sie schreibt oder liest, keine Ruhe
mehr lässt, so wie ein Motiv,
etwas verändert, etwas entstellt,
einem Gedächtnis zur Qual werden kann. Und ich, der ich schreibe,
weiß, dass es noch einen anderen Sinn gibt,
der sich vielleicht als der gleiche herausstellt,
weiß, dass hier drinnen im Vers fest bleibt
das Wort, das du hörst oder liest
und gleichzeitig fortfliegt, dorthin
wo du nicht mehr bist, wo hingelangen zu können,
du dir nicht zutraust, und wo ganz und gar andere Berge
anfangen, sehnsüchtige Ebenen, Flüsse,
wie du sie auf Reisen von bebenden Flugzeugen aus sahst.
Ungestüme Städte hier unter den reglosen
von dir geschriebenen Wörtern.

 

 

 

Bio-Bibliografische Angaben

samt Anmerkungen des Übersetzers

Franco Fortini wurde 1917 als Franco Lattes in Florenz geboren. Sein Vater war Jude. Seine Mutter, deren Namen, Fortini del Giglio, er 1940 annahm, war katholisch.
Fortini studierte Jus – sein Vater war Anwalt –, schloß 1939 das Studium ab, studierte aber weiter Geschichte und Literatur. 1939 trat er in die protestantische Kirche der Valdenser ein. Er hatte schon früh begonnen, Gedichte, erzählende Prosa und Aufsätze zu veröffentlichen. 1941 wurde er in die Armee einberufen. Als er gegen Kriegsende versuchte, Soldaten zu überreden, zu den Alliierten überzulaufen, musste er in die Schweiz fliehen. 1944 schloß er sich der Partisanen-Republik von Valdossola an. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied der Sozialistischen Partei Italiens (PSI). Nach Kriegsende ließ er sich in Mailand nieder. Ab 1947 arbeitete er als freischaffender Journalist und als Berater für die Firma Olivetti.
Nach 1948 bereiste er Europa, Russland und China und veröffentlichte erfolgreiche Reiseberichte. Zur gleichen Zeit wurde er bekannt als literarischer Übersetzer aus dem Französischen (Eluard u.a.), Englischen (Milton u.a.) und Deutschen (Goethe, Brecht u.a.) und aus mehreren anderen Sprachen.
Seine erste Gedichtsammlung erschien 1946, Foglio di via. Seine gesammelten Gedichte, Versi Scelti (1939–1989), im Jahr 1990.
Anläßlich des Ungarischen Volksaufstands 1956 trat er aus der PSI aus. Von 1964 bis 1972 arbeitete er auch als Lehrer an verschiedenen Höheren Schulen. 1976 wurde er Lehrstuhlinhaber für Literaturkritik an der Universität von Siena. Bis zu seinem Tod im November 1994 galt er als einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Linken. Sein Einfluß auf die Nachkriegs-Generationen in Italien auf der Suche nach sozialem und intellektuellem Wandel war beträchtlich. Er verfasste regelmäßig Beiträge für Tageszeitungen (Corriere della Sera u.a.), Magazine (L’Espresso u.a), arbeitete bei zahlreichen Zeitschriften mit, bei Politecnico (zusammen mit Elio Vittorini), bei Officina (zusammen mit P.P. Pasolini). Als einer der bedeutendsten Dichter Italiens wurde er im Jahr 1986 mit dem Montale-Guggenheim-Preis ausgezeichnet.
Auf deutsch erschien schon 1963 ein Band POESIE (italienisch und deutsch), übersetzt von Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag. 2002 brachte der Verlag LANA, Ed, per procura den Band Composita solvantur: „Die späten Gedichte“ in der Übersetzung von Manfred Bauschulte heraus.
In den 13 Jahren meines Aufenthalts in Italien war ich nicht nur ein eifriger Leser der italienischen Literatur, sondern auch der Presse, der Tageszeitungen wie der Wochenmagazine. Die Qualität der Berichte und Kommentare in den italienischen Print-Medien war für mich – sprachlich und sachlich – auf einem wesentlich höheren Niveau als die der österreichischen. In besonderem Maße beeindruckten mich die Beiträge – Kommentare, Glossen, Essays – namhafter Romanschriftsteller und Lyriker zu dem, was international und national täglich geschah. Unter diesen regelmäßigen Kommentatoren war eine Zeitlang auch Franco Fortini.
Einer Anregung von Erich Hackl folgend, der zu Anfang der 1990er-Jahre eine Reihe von Übersetzungen internationaler Lyrik in einem Salzburger Verlag plante, übersetzte ich, noch in Duino, eine Auswahl von Gedichten Fortinis. Aus Hackls Initiative, wurde, wie so oft hierzulande, wenn es um Lyrik geht, nichts. Die Übersetzung verschwand im Speicher des Computer , bis sich vor einiger Zeit auf wundersame Weise die Möglichkeit ergab, eine ganze Reihe von Übersetzungen von Texten nicht deutschsprachiger Lyriker in der Edition PEN des LÖCKER VERLAGS zu veröffentlichen.
Fortini galt lange Zeit als „politischer“ Dichter. Politische Themen, Namen von (heute längst vergessenen) Politikern oder Intellektuellen – den Generationen nach Ende des KALTEN KRIEGS oder gar nach der WENDE 1989 sagen Namen wie z.B. „Bulganin“, „Fadejev“, „Lukàcs“ kaum etwas – finden sich, vor allem im den frühen Gedichten, immer wieder. Aber trotz seiner Teilnahme am politischen Leben seines Landes, als Partisan, als politisch engagierter Journalist, Theoretiker, Kritiker ist es irreführend, Fortini als politischen Dichter zu verstehen. Gedichte können sich, so wie mit jedem anderen Lebensbereich, auch mit Politik beschäftigen; Dichter können sich auch – vorübergehend – mit den Zielen sozialer Bewegungen, ja sogar von Parteien identifizieren. Aber – so schreibt Michael Hamburger in der Einleitung zu seiner 1978 erschienenen Übersetzung von Gedichten Franco Fortinis – „diese Identifikation ist selten total und von langer Dauer. In diesem Jahrhundert ist sie extremen Spannungen unterworfen gewesen, Komplikationen und Enttäuschungen. Das endgültige Engagement jedes guten Poeten ist das für seine eigene Erfahrung und Vorstellung, für eine Wahrheit, zu der man nicht spekulativ oder ideologisch gelangt, sondern durch das, was man fühlt und denkt, gesehen und gehört und geträumt hat. Fortinis Dichtung (…) ist eine Art Autobiografie, legt Zeugnis ab von dieser unmittelbaren und persönlichen Wahrheit“. (in: Hamburger, M.: TESTIMONIES / ESSAYS / Selected Shorter Prose 1950–1987, Carcanet 1989; übers. HR).

Hans Raimund, Hochstrass, im April 2022, Nachwort

 

Rezension

Franco Fortini lebte von 1917 bis 1994. Er wurde in Florenz geboren. Sein Vater war Jude, deswegen nahm er später zu seiner Sicherheit den Namen der katholischen Mutter an. 1941 wurde er in die Armee einberufen. Er floh in die Schweiz und trat den Partisanen von Valossola bei. Ab 1947 arbeitete er als Journalist, veröffentlichte erfolgreiche Reiseberichte und übersetzte literarische Werke aus dem Französischen, Englischen, Deutschen.

Ich fixiere Verse aus Zement und Glas,
in denen Schreie und Wunden eingemauert waren und Teile
auch von mir, die ich überlebe.
(„Beim Übersetzen von Brecht“, S. 27).

Später erhielt er einen Lehrstuhl für Literaturkritik in Siena. 1963 erschien ein Band POESIE bei Suhrkamp, übersetzt von Hans Magnus Enzensberger. Er war ein politisch engagierter Mensch und galt lange Zeit als politischer Dichter. Seine Gedichte sind Dokumente seiner Biographie, sie enthalten sein unruhiges Leben, auch wenn er weiß:

Die Poesie verändert nichts, nichts ist sicher, aber schreibe (S. 27).

Auch wenn politische Ereignisse oft seine Themen beherrschen, geht seine Dichtung weit darüber hinaus zu seinem persönlichen Fühlen und Denken, zu seiner persönlichen Wahrheit. Julian Barnes schreibt:

Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist („Der Lärm der Zeit“).

Die subjektive Erfahrung wird überschritten, hinterlässt aber ihre Schatten, sodass die Gedichte wie eine dramatische Verbindung von Leben und Schreiben sind.

Ich, der ich schreibe,
weiß, dass es noch einen anderen Sinn gibt …
weiß, dass hier drinnen im Vers fest bleibt
das Wort, das du hörst oder liest
und gleichzeitig fortfliegt, dorthin
wo du nicht mehr bist, wo hingelangen zu können,
du dir nicht zutraust
(„andere ars poetica“, S. 19).

Das Wort als das Innerste, Persönlichste und gleichzeitig fliegt es fort in fremde Gebiete, der Schreibende hat keinen Einfluss darauf.
Die Gedichte beruhen auf tragischen Ereignissen, Erlebnissen, Erfahrungen, getrieben vom Weltgeschehen, auch von der Vergangenheit und den Erinnerungen. Aber all dies steht Seite an Seite, Zeile an Zeile mit der fast schmerzend schönen Beschreibung von Landschaft und Natur. Denn dies alles ist Leben, und die Freude ist die kleine Möglichkeit des sinnlichen Wahrnehmens, dessen wir uns bewusst sind.

Ich will wissen und ich weiß, dass die einzige Kraft
die ganz kurze Freude ist,
die sinnlich wahrnehmbare Gewissheit, die nach allem kommt (S. 67).

Schließlich heißt es, „dass es Mitleid gibt mit der Zukunft, / mit dem endlosen Leid, das / inmitten derartiger Pracht ein Entsetzen / – wie ein Tier jählings aus dem Nichts – / jenem Elenden verkündete, der vor Glück, / das die Tränen freisetzten, zitterte. / Hier stehe ich bei ihm, hier nun tröste ich ihn…“ Dieses Gedicht mit dem Titel „Diese Zeilen“ (S. 91) endet mit den Worten „da war die ferne Aparita Hoffnung, / derweil im frühen Wind schon trieben diese Zeilen“. Abermals verwendet Fortini das Bild der fortfliegenden Worte, die, auch wenn sie nichts verändern – aber wer weiß das so sicher – landen irgendwo.

Elisabeth Schawerda, Österreichischer Schriftsteller/innenverband Austrian Writers Association, 2024

 

Elisabetta Mengaldo: „Die Poesie / Ändert Nichts. Nichts ist Sicher. also Schreib. Franco Fortini liest Bertolt Brecht

Robert Mintchev: Franco Fortini – Intellektueller und Lyriker im Italien des 20. Jahrhunderts

 

Hans Raimund: Der Dichter als Übersetzer

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Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Franco Fortini vorgestellt von Egidio Bertazzoni.

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