BERTOLT BRECHT
Über induktive Liebe
Der große Bacon baute auf Versuche.
’s wär Zeit, sie in die Liebe einzuführen.
Vielleicht, wir finden, wenn wir uns berühren:
Wir liegen gerne unter einem Tuche.
Und meine Hand, die deine Brüste fand
Sag: ist sie angenehm? Wenn wir’s nur wüßten!
Vielleicht dem Schoß nicht, aber doch den Brüsten?
Vielleicht dem Schoß, und diesem nur die Hand?
Nur dürfte weder Wollen noch Verwehren
Bei dem Versuch das letzte Wort bedeuten.
Erfreuen sollten wir, wenn wir uns freuten.
Aus dem Genießen wachse das Begehren.
Gestattete sie, daß er sie begattet
Ist ihm, sich nicht zu gatten, auch gestattet
1938
aus: Bertolt Brecht: Gedichte 8. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000
Einen radikalen, hemmungslosen Hedonismus hatte der Dichter Bertolt Brecht (1898–1956) zu seinem Lebensprinzip erhoben: Besonders in der erotischen Kolonisierung von Frauen entwickelte er große Fertigkeiten, die meist zur emotionalen Zerreißprobe für seine diversen Geliebten wurden. In einem 1938 entstandenen Sonett schlägt Brechts lyrisches Alter Ego einen gleichsam wissenschaftlichen Umgang mit der Liebe vor.
Das Gedicht ist dem Philosophen Francis Bacon (1561–1626) und dessen Einführung der empirischen Methode in die Wissenschaften gewidmet. Die „Induktion“ geht von der Beobachtung des Einzelfalls aus, um daraus auf vergleichbare Fälle zu schließen, die nicht beobachtet worden sind. Brecht propagiert den Liebesgenuss als Experiment, das durch Erprobung unterschiedlichster Liebestechniken zur weiteren Aktivierung des Begehrens beiträgt. Brechts promiskuitive Neigungen vertrugen sich schlecht mit der Moral seiner Zeit – der Dichter als Pascha taugt auch heute kaum zur Vorbildfigur.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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