CHRISTIAN MORGENSTERN
Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen
Der Ochsenspatz
die Kamelente
der Regenlöwe
die Turtelunke
die Schoßeule
der Walfischvogel
die Quallenwanze
der Gürtelstier
der Pfauenochs
der Werfuchs
die Tagtigall
der Sägeschwan
der Süßwassermops
der Weinpinscher
das Sturmspiel
der Eulenwurm
der Giraffenigel
die Gänseschmalzblume
der Menschenbrotbaum
nach 1910
Der Poet als allmächtiger Sprach- und Welt-Schöpfer: Auf welche leichthändige Weise das geschehen kann, zeigt das Kindergedicht, das aus dem Nachlass des großen Humoristen und Meisters der Groteske, Christian Morgenstern (1871–1914), stammt und 1932 in die Gesamtausgabe aller Galgenlieder aufgenommen wurde. Morgenstern erprobt die Erfindung abenteuerlicher Fantasie-Tiere und origineller Gewächse. Tatsächlich verfügt hier der Dichter über eine große Kombinationsgabe bei der Zusammenführung weit auseinanderliegender Lebewesen und Eigenschaften.
Ganz freie Schöpfungen wechseln mit heiteren sprachlichen Verballhornungen real existierender Kreaturen. Der Gesang der „Tagtigall“ ist aus der Sicht des Dichters gewiss noch betörender als das irdische Jubilieren der Nachtigall. In keinem Zoo der Welt sind all diese Wesen zu besichtigen. Am Ende der Reihe folgt dann ein überraschender Schwenk aufs Terrain des Menschen. Aber siehe da: Die „Krone der Schöpfung“ ist hier eingewachsen in ein sehr altes Wollbaumgewächs, offenbar eine Mutation des „Affenbrotbaums“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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