CLEMENS BRENTANO
Schwalbenwitz
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
Himmel und Erde sind sich gleich.
Spricht der Himmel: Werde!
Da grünt und blüht die Erde!
Spricht die Erde: Sterbe!
Da wird der Himmel ein lachender Erbe.
Sterne sah ich blinken und sinken,
Den Mond in der Sonne ertrinken,
Die Sonne stieg in die Meere,
Ohne daß sich ein Fünklein verlöre.
Feuer und Wasser hassen sich,
Erde und Wasser umfassen sich,
Luft und Feuer entzünden sich,
Erde und Feuer ersticken sich,
Erde und Luft umkühlen sich,
Luft und Wasser umspielen sich,
Aber alles ist Liebe, Liebe, Liebe
Und wenn sich alles empörte, verzehrte, verschlänge,
Daß gar nichts bliebe, bliebe doch Liebe
Die Hülle, die Fülle, die Menge.
1811
Seit 1810 arbeitet der romantische Dichter Clemens Brentano (1778–1842) an seinen Rheinmärchen, einem Konkurrenzunternehmen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Während seine Dichterfreunde einen „ursprünglichen“ Märchen-Text aus den Quellen zu rekonstruieren suchen, geht es Brentano um den Entwurf eines Kunstmärchens – um die Integration literarischer Anspielungen und Bildungs-Kontexte. In dem 1811 fertig gestellten „Märchen vom Rhein und dem Müller Radlauf“ singt ein „Fräulein Schwalbenwitz“ ein eindrückliches Lied.
Mit dem Verkündungsgestus des biblischen Jesus wird ein Gleichnis von den Elementen erzählt, eingebettet in ein liebliches poetisches Spiel der Reime und Klänge. Die Lehre des griechischen Philosophen Empedokles von den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Elemente übersetzt Brentano in eine kleine poetische Kosmogonie. Trotz des Zusammenpralls gegensätzlicher Energien behauptet sich als Urstoff und zentrale Antriebskraft des planetarischen Geschehens die Liebe.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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