CONRAD FERDINAND MEYER
Napoleon im Kreml
Er nickt mit seinem großen Haupt
Am Feuer eines fremden Herds:
Im Traum erblickt er einen Geist,
Der seines Purpurs Spange löst.
Der Dämon schreit mit wilder Gier:
„Mich lüstet nach dem roten Kleid!
In ungezählter Menschen Blut
Getaucht, verfärbt der Purpur nicht!“
Die beiden rangen Leib an Leib.
„Gib her!“ „Gib her!“ Der Dämon fleucht
Mit spitzen Flügeln durch die Nacht
Und schleift den Purpur hinter sich.
Und wo der Purpur flatternd fliegt,
Sprühn Funken, lodern Flammen auf!
Der Korse fährt aus seinem Traum
Und starrt in Moskaus weiten Brand.
1868
Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) evoziert hier einen tragischen historischen Augenblick, einen Wendepunkt der Weltgeschichte: In den Tagen der größten militärischen Expansion Frankreichs blickt der große Imperator Napoleon Bonaparte in den Abgrund seiner Größenphantasien. Im brennenden Moskau wird der französische Kaiser im Oktober 1812 der Aussichtslosigkeit seiner militärischen Triumphe gewahr. Der Schlaf der Vernunft gebiert auch hier Ungeheuer.
Vergeblich wartet der Kaiser auf die Einflüsterungen des Weltgeistes. Statt dessen wird er von Dämonen heimgesucht, die sich in den Besitz seiner kaiserlichen Robe bringen wollen. Es ist ein eigenartiger Versuch, einen Repräsentanten unumschränkter politischer Herrschaft ins Zentrum eines Gedichts zu rücken. Das 1868 entstandene Gedicht scheint die historische Szene nur bebildern zu wollen – so dass sich der Generalverdacht Hans Magnus Enzensbergers (geb. 1929) zu bestätigen scheint: Herrscherlob wie Herrscherkritik sind mit Poesie unvereinbar.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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