Ernst Meisters Gedicht „ICH BIN…“

ERNST MEISTER

ICH BIN
von Sinn entsetzlich
gelb,
lebendig bin ich
mehr als Herbst
und Winter nicht
mit Schnee,
auch Frühling nicht
mit der Narzisse – was
bin ich mitten
in der Gegend
von Nacht und Tag, ich
weiß es nicht und ruf
die Vorzeit meiner
Zeit, da ich
nicht war, da
ich
nicht
war.

1960er Jahre

aus: Ernst Meister: Sämtliche Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 1985ff.

 

Konnotation

Ernst Meister (1911–1979) gehörte zu den ganz wenigen deutschen Poeten, die mit großer philosophischer Eindringlichkeit nach der „Befindlichkeit“ unserer Existenz fragten. Sein Gedicht, so hat Meister einmal erklärt, gehe hervor, aus einer „schicksalhaften Not… metaphysischen Ranges“, die es erlaube, sich der „Nähe des Ursprungs“ zu vergewissern. Auf der Suche nach diesem Ursprung stellte Meister immer wieder die Frage nach dem Grund der Subjektivität und der Konstitution des „Ich“.
Die poetische Meditation, die nach den wesensmäßigen Verankerungen des Ich fragt, lässt sich nicht mit einer erfüllenden Antwort stillstellen. Denn weder beim Blick auf die Phänomene der Natur noch beim Erkunden der eigenen „Vorzeit“ ergeben sich feste Haltepunkt, an denen ein Ich konturiert werden kann. Was bleibt, ist die Frage nach dem „Sinn“ des Daseins, in ihrer ewigen Permanenz, eine Frage, die auch den poetischen Prozess immer wieder neu stimuliert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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