Friedrich Nietzsches Gedicht „Nach neuen Meeren“

FRIEDRICH NIETZSCHE

Nach neuen Meeren

Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt michs an, Unendlichkeit!

1842–1844

 

Konnotation

Den Genueser Seefahrer Christóbal Colón, besser bekannt als Kolumbus, bewunderte der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) als phänomenales Entdecker-Genie und als Revolutionär, der gegen alle überkommenen Vorstellungen sein Leben einsetzte, um eine neue Welt zu entdecken. In den Jahren 1842–44 verfasste Nietzsche mehrere, stark voneinander abweichende Versionen eines Gedichts, das die unendliche Fahrt seines Helden mit dem „Genueser Schiff“ auch als Königsweg philosophischer Erkenntnis feiert. Die vorliegende Variante findet sich unter den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ im Anhang zu Nietzsches 1882 publizierter Schrift Die fröhliche Wissenschaft.
Zu den Widersprüchen des radikalen Ästhetizisten Nietzsche gehört der Umstand, dass er die metaphysischen Großbegriffe (z.B. „Unendlichkeit“), die er in seinen philosophischen Schriften zu demontieren versucht, in seinen Gedichten hinterrücks wieder einführt. Fünfzig Jahre nach Nietzsches Tod adoptierte sein lyrischer Bewunderer Gottfried Benn (1886–1956) diese schweren Kategorien („Raum“, „ungeheuer“) in seinem Gedicht „Ein Wort“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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