Gottfried Benns Gedicht „Reisen“

GOTTFRIED BENN

Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an –

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

1950

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. v. G. Schuster und H. Hof, Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Mit seinem Gedichtband Statische Gedichte (1948) feierte der damals 62jährige Gottfried Benn (1886–1956) das spektakulärste literarische Comeback der Nachkriegsgeschichte. Der Prophet der Melancholie war zuvor gleich zweimal mit faktischem Publikationsverbot belegt worden. Sowohl unter den Nationalsozialisten, mit denen er 1933/34 heftig geflirtet hatte, als auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit war Benn eine literarisch unerwünschte Person.
Die Statischen Gedichte wurden zur dunklen Grundmelodie der Nachkriegsdichtung – denn sie sprachen vom Lebensgefühl eines großen Einzelnen, dem alle Utopien zerbrochen waren. Selbst das Reisen, der große Aufbruch ins Ungewisse, wirft das einsame Subjekt immer wieder auf sich selbst zurück: weder auf europäischen Schauplätzen noch in der Ferne Kubas (Habana) winkt eine Verheißung. Das 1950 entstandene Gedicht, das im Band Fragmente (1951) zu finden ist, erzählt von der Vergeblichkeit des Reisens – und bewahrt dennoch im Lockspiel der Farben die Ahnung von Glück.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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