MARTIN ZINGG
Klassische Sorgen
Den einen Fuss, während er noch
Den Boden sucht, und dieser gibt
Sogleich nach, treibt es wieder
Nach oben, weil den andern Fuss,
Dazu neigt der Körper sich nach vorne,
Der Boden diesmal zu halten verspricht.
Aber der, als gälte ein Gesetz,
Gibt schon wieder nach, darum rennen,
Scheint es, die Füsse um die Wette.
So komm ich voran, nur so.
2002
aus: Zwischen den Zeilen, Heft 19 (2002)
Das Gehen „auf festen Versesfüßen“ (Ulla Hahn) hat die modernen Dichter stets in ästhetische Ambivalenzen gestürzt. Dagegen gehörte es zu den beständigen Vergnügungen der antiken und klassischen Autoren, sich in festen metrischen Mustern zu bewegen. Das Ich im Gedicht des Basler Autors Martin Zingg (geb. 1951) scheint schon bei der schlichtesten Fortbewegung in Schwierigkeiten zu geraten.
„Es ist ein Leichtes beim Gehen den Boden zu berühren“, betitelte dereinst der Anarcho-Schriftsteller Herbert Achternbusch (geb. 1938) ein Prosabuch. Die Erfahrung von Martin Zinggs Gehendem scheint diesen Befund zu widerlegen. Denn die Füße finden keinen verlässlichen Halt mehr. Rein metrisch baut das Ich sieben jampische Verse auf, um dann in einen trochäischen Rhythmus zu wechseln. Paradoxerweise ist es gerade diese Orientierung an festen Metren, die dem sich unsicher wähnenden Ich eine Fortbewegung überhaupt erst ermöglichen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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