SYLVIA GEIST
Kolk
Wie Drachen auf
und ab mit dem Luftstrom,
ihr Glänzen und Kreisen
einander doubelnde dunkle
Momente. Einer stößt oder fällt
hinab für eine Beere, Beute,
Laune, was weiß ich. Wahr,
Raben klingen nüchtern –
bekannte Tonspur eines Films,
die sich vielleicht imitieren ließe
das Echo aber
mit nichts zu vergleichen.
nach 2000
Manchmal genügt eine Vokabel – und sofort ist in einem Gedicht ein Ton angeschlagen, der ganz unterschiedliche Echos und Resonanzen erzeugt. „Kolk“: Der Titel des Gedichts führt auf weit auseinander liegende Territorien – auf geografische, geologische und biologische. Das ist typisch für eine Dichterin wie Sylvia Geist (geb. 1963 ), die in ihrer Poesie großen Wert legt auf die Exaktheit wissenschaftlicher Bezeichnung wie auf die Konfrontation der wissenschaftlichen Terminologie mit den Kraftfeldern traditioneller poetischer Metaphern.
Die Vokabel „Kolk“ führt letztlich zum Rabenvogel, zu dessen Flugbewegungen, für die das Gedicht Vergleiche aus dem Märchen („Drachen“) und dem modernen Medium Film bereit stellt. Die Beobachtung der Raben wird hier mit einer medientechnischen Reflexion konterkariert. Die Laute des Kolkraben werden als „bekannte Tonspur“ eines Films wahrgenommen und paradoxerweise wird der Erfahrung des Naturlauts gleichzeitig ein einzigartiges, unverwechselbares Echo zugesprochen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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