Thomas Gsellas Gedicht „Der Deutsche“

THOMAS GSELLA

Der Deutsche

Den Deutschen eint von Nord bis Süd
die Vielzahl der Talente:
der Lagerbau, der Genozid,
das Bier, die Riester-Rente.

Die Toten trägt er mit Grandesse,
die Mütze mit ’nem Bommel.
Die Tochter weint um Rudolf Heß,
der Sohn um Erwin Rommel.

Der Vater will als Arier
seit je die Welt erretten.
Heut heißt er Vegetarier
und schmiedet Lichterketten.

2008

aus: Thomas Gsella: Nenn! mich Gott. Gedichte aus fünfzig Jahren. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Wer die Völkerpsychologie zitiert und scheinbar letztgültige Weisheiten über einzelne Nationen verbreitet, der erntet immer den Beifall von der falschen Seite. Sicher ist, dass der Humorist und Satiriker Thomas Gsella (geb. 1958), der hauptberuflich lange als Chefredakteur der Satire-Zeitschrift Titanic tätig war, in seinen boshaften Gedichten zu nationalen Eigenheiten (vgl. „Der Koreaner“ im Lyrikkalender vom 5.10.2009) niemanden schont. Die nationalpsychologischen Stereotypen sind in so schmerzhafter Weise verdichtet und ins Absurde getrieben, dass Beleidigungsklagen geradezu unvermeidlich sind.
Vom „Genozid“ zur „Riester-Rente“ eine Verbindungslinie zu ziehen und „den Deutschen“ generell eine nostalgische Beziehung zur Nazi-Vergangenheit zu unterstellen – das kann nur einem misanthropischen Geist, einem begnadeten Ketzer oder der englischen Boulevard-Presse einfallen. Thomas Gsellas konsequente Vorurteilskritik versetzt jedenfalls die Freunde der politischen Korrektheit in große Unruhe.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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