Wolfgang Hilbigs Gedicht „rondo“

WOLFGANG HILBIG

rondo

sonnenfährte der zu folgen ich mich wehrte
um einem schatten zu entgehn der über schlacken schritt –
blendwerk von festigkeit das mir zu gleicher zeit entglitt
bis ich der schatten selbst war der geleit nicht mehr entbehrte

begierde die ich nicht mehr litt
auf letztem grenzbezirk der bürgerlichen erde
dort wo ich abfiel als ich wiederkehrte – –
gegen den untergang der meinen schatten aus der sonne schnitt.

1989

aus: Wolfgang Hilbig: Gedichte. Hrsg. V.J. Bong, J. Hosemann u. O. Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Viele Jahre lang saß Wolfgang Hilbig (1941–2007) an tellurischen Orten fest – tief unten in den Dunkelzonen von Kesselhäusern und den Restlöchern sächsischer Tagebaue. Niemand wollte in dem Tiefbauarbeiter und Heizer aus Meuselwitz einen Schriftsteller sehen. In den Wüstungen der realsozialistischen Zwangsgesellschaft entstand das ungeheure Werk eines Autodidakten, dessen visionäre Kraft alles hinter sich lässt, was im späten 20. Jahrhundert an deutschsprachiger Lyrik geschrieben worden ist.
1989 entstand das „Rondo“, ein an den düsteren Nachtgesichten des Expressionisten Georg Trakl (1887–1914) geschulter Gesang über die Metamorphosen eines Ich, das sich in den unbefestigten Bezirken zwischen Tagwelt und Schattenreich bewegt. Ein Unbehauster, der über die „bürgerliche erde“ schreitet, wird verfolgt von seinem Schatten, bis er schließlich selbst zu einer schattenhaften Existenz wird. In schweren trochäischen Versen hebt das „Rondo“ an, um in dunklen Tönen dem „Untergang“ des Subjekts entgegenzustreben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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