WOLFGANG WEYRAUCH
Mein Gedicht
Ich schreibe ein Gedicht.
Ich veranstalte eine Expedition.
Ich mache mich davon
aus Antwort und Beweis.
Ich trete in den Kreis
der Fragen. Ich bin im Licht,
das auf die Mitte des Dickichts fällt.
Warum und woher?
Ich schlage mich quer
durch Gelee und Asbest.
Die Meridiane sind verwest.
Mein Gedicht ist die Welt
der diagonalen Messer.
Ich bringe das Winzige heim.
Ich gehe dem Ungeheuren nicht auf den Leim.
Ich setze die Ewigkeit fort.
Ich versuche den Mord
an den Rechnungen. Mein Gedicht ist besser.
1953/1954
aus: Wolfgang Weyrauch: Atom & Aloe. Gesammelte Gedichte. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1987
Zu den wirkungsmächtigsten Lyrik-Anthologien der Nachkriegszeit gehörte 1955 die von Hans Bender (geb. 1919) herausgegebene Textsammlung Mein Gedicht ist mein Messer, in der ein neuer Standort für moderne Poesie gefunden werden sollte. Den Titel der Anthologie entnahm Bender einer bewusst verschärften Fügung aus einem Text seines Kompagnons Wolfgang Weyrauch (1904–1980). Das Gedicht als Messer – das war ein Bekenntnis zum eingreifenden Gedicht, das aus kritischer Distanz das Weltgeschehen kommentiert.
Weyrauch selbst hat in seinem um 1953/54 entstandenen Text verschiedene Sageweisen und Funktionen des Gedichts durchgespielt. Die erste Strophe spricht noch von einem Probelauf des „Fragens“, danach aber wird das Gedicht aktivistisch aufgeladen um gegen Ende den Widerstand gegen das „Ungeheure“ anzumelden. Mit diesem Selbstbewusstsein des Dichters, der – wie es in Weyrauchs Statement heißt – „eine Unruhe verursacht“, war schon das Fundament gelegt für die in den 1960er Jahren einsetzende Politisierung des Gedichts.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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