Pier Paolo Pasolini: Poesiealbum 272

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pier Paolo Pasolini: Poesiealbum 272

Pasolini/Gille-Poesiealbum 272

AN DIE ZEITGENÖSSISCHEN LITERATEN

Ich sehe euch : es gibt euch, wir bleiben Freunde,
aaaaagern sehen und begrüßen wir uns im Café
oder in den Häusern der ironischen römischen
aaaaaDamen…
aaaaaDoch unsre Grüße, unser Lächeln, die
aaaaaPassionen, die uns verbinden,
gehören einem Niemandsland an : einem… waste
aaaaaland,
aaaaafür euch : für mich der Abstand zwischen der einen
aaaaaGeschichte und der anderen.
Wir können nicht mehr wirklich einig sein : es macht mich zittern,
aaaaaaber in uns liegt es, daß die Welt feind ist der Welt.

 

 

 

Bevor Pier Paolo Pasolini

als Romancier und Regisseur von Weltrang bekannt wurde, hatte er Gedichte veröffentlicht. Und Zeitlebens suchte er die Verständigung in diesem und über dieses Medium, begriff es als Teil einer politischen Kultur. So entstand jene seltene Synthese, in der das Gedicht als Ort der Selbstaussage ebenso funktional wurde wie als Mittel eines polemischen Angriffs gegen eine Werthierarchie, in derem Kanon Kreativität und Aktionsräume des Individuums erstickt wurden.

Verlag Neues Leben, Ankündigung

Pasolini

war ein notorischer Aufrührer, der seine Finger auf die Wunden der Gesellschaft legte und sich dabei oft selbst verwundete, ein Querulant, der sich in die eigenen Widersprüche verstrickte, ein kleinbürgerlicher Intellektueller, der mit dem Mut der Verzweiflung gegen seine Ohnmacht kämpfte. Als Homosexueller von der Gesellschaft ins Abseits gestellt, ist er gerade in seiner Außenseiterrolle zur Symbolfigur des intellektuellen Protestes gegen die bürgerliche Gesellschaft geworden.

Heidi Brang, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1990

Die italienischen Dichter

des vergangenen Jahrhunderts hatten die politische Lyrik immer in einem zelebrativen, rhetorischen, triumphalistischen Sinne verstanden. Pasolini hingegen gab uns eine politische Lyrik, die die ganze Intimität, die Subtilität, die Ambiguität und die Sinnlichkeit der Décadence hatte wie auch den idealen Elan der sozialistischen Utopie.

Alberto Moravia, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1990

 

Etwas Anderes

Das, was auf einen Großteil unserer Generation von Literaten den stärksten Eindruck machte, was sie am meisten beunruhigte, als der junge Pasolini die Szene betrat, war sein offensichtlichtes Bedürfnis, Literatur hervorbringend etwas anderes als Literatur hervorzubringen, sprich: daß ihm die Literatur nicht genügte. Doch gibt es jemanden, dem die Literatur wirklich genügt? Und reicht es, zur näheren Erläuterung, zu behaupten. daß diese Unzufriedenheit im Falle Pasolinis bis an ihre äußerste Grenze gespannt war und Verweigerung wurde, oder besser eine Form der Verweigerung, die nicht nur gegen die Literatur gerichtet war (zumindest gegen jene, die wir in Betracht zu ziehen und wertzuschätzen gewohnt waren), sondern gegen das Wie unserer Existenz schlechthin? Von seinem Debüt an hätte Pasolini die Worte Apollinaires, ihm sonst so wenig verwandt, zu den eigenen machen können: Décidemment je ne respecte aucune gloire… Und zwar in dem Sinne, daß der Respekt (und in gewisser Hinsicht auch die Liebe) sehr gut ohne die Anerkennung des „Ruhms“ auskommen konnten. (…)
Wir, ich selbst und die anderen, befanden uns, ohne es zu ahnen und trotz all unserer Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Ängste, auf einem Weg, der anscheinend ruhig war, doch im Grunde mit einem täglichen Sterben gleichzusetzen war. Eben das, was Pasolini in unterschiedlichen Formen bekämpfte. Sein Auftauchen war also in gewisser Weise ein Peitschenhieb, ich weiß nicht inwieweit heilsam. Denn Pasolini war vom Stoff derjenigen, ganz wenigen, die Knoten nicht langsam aufzudröseln versuchen, sondern kurzerhand durchzuschneiden pflegen. Von Anfang an schienen seine Instrumente, seine Form-Entscheidungen ungewöhnlich und anders. Dabei ging er so weit, auch solche wieder aufzugreifen, die wir vielleicht für dauerhaft ad acta gelegt hielten: wie einer, der ein paar Schritte zurückmacht, um mit mehr Schwung nach vorne zu preschen. Auch das war irritierend.
Als ich zum ersten Mal Die Nachtigall der katholischen Kirche las, habe ich sofort, wie andere, an eine Art zweiten Rimbaud gedacht. Ich werde hier nicht zu belegen oder zu begründen versuchen, was damals nur ein reiner Eindruck war – zum Teil literarischer Natur, zum Teil nicht – und was heute nicht mehr als die Erinnerung eines Eindrucks ist. Andere haben, als Pasolini starb, ihrerseits den Namen Rimbaud genannt. Mit dem Unterschied, daß Rimbaud zumindest einen Augenblick lang gedacht hatte, es sei mit der Dichtung, in der Dichtung möglich, das Leben m verändern: changer la vie. Und daran, sofern er überhaupt jemals daran geglaubt hatte, glaubte Pasolini schon lange nicht mehr. Daß er jedoch, auch innerhalb dieses Nicht-Glaubens, mit all seinen Kräften und jenseits der Dichtung, um den Preis der Dichtung, „das Leben ändern“ wollte, scheint mir unbestreitbar. So ist sein Tod die späte Antwort auf den ersten „choc“ seines Erscheinens von damals. Und er ruft in uns Scham und Gewissensbisse hervor: in uns, die wir seinen Tod, den Umständen zum Trotz, in gewisser Weise beneidet haben, ebenso sehr wie den letzten Sinn seiner Existenz, trotz aller Wirren und Zwischenfälle.

Vittorio Sereni, 1976, aus dem Italienischen von Theresia Prammer, Schreibheft, Nr. 73, September 2009

Sämtliche Werke

Pasolini scheint ein Autor „Sämtlicher Werke“ zu sein. Er überläßt seinem Gesamtwerk die Aufgabe, dessen besondere Momente zu deuten. Sein antiasketisches Programm erlaubt ihm, keine Zweifel zu hegen und widersprüchliche Formen und Erfahrungen auszuprobieren. Nur in diesem Sinne ist seine Dichtung nicht von seiner Prosa zu trennen.
Er ist nicht nur ein außergewöhnlich kluger Kopf, sondern auch ein Dichter mit einem fulminanten Sinn für die Struktur und das Detail, für die Intonation und den Reichtum der Metrik. Anders als nahezu die gesamte Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts und der italienischen Avantgarde hat er Reinheit, Homogenität und Absolutheit stets gemieden: Er hat den Trick, die Maske, die Umschreibung und die Kontamination von Stilen, Techniken und Sprachen akzeptiert, hat Authentizität anhand ihres Gegenteils verfolgt. Seine Gedichte müssen als Übungen im Stil von Picasso und Strawinsky gelesen werden, Bearbeitungen einer endlosen Fülle archäologischen Materials. Darin ist er immer erzliterarisch und ein Feind der Unmittelbarkeit, die ohnehin nicht existiert.
Das alles entfernt ihn nicht – wie er ehrlich glaubt – von der Dekadenz oder Avantgarde, es ist keine erneute Behauptung von Rationalität, keine demokratische Revolution in der dichterischen Rede. Es ist die verspätete Blüte eines Zweigs der Avantgarde, den unser Land aus allzu vielen Gründen hatte vertrocknen lassen. Der diskursiv-kommunikative Anschein von Pasolinis Kurzepen wurde schon seit Jahren verfolgt und zum psychologischen Ausdruck des Zusammenhangs zwischen Kindheit und erwachsenem Unglück usw. umgedeutet: auf stilistischer Ebene essayistischer Erörterungscharakter und mimetische Ausdruckskraft; auf sprachlicher Ebene hochliterarische Lexik und Dialekte oder Jargons. Diese antithetischen Paarungen sind unwahr, ja mythologisch für das moderne Denken der marxistischen Kultur, aber wahr und lebendig für das Bewußtsein der neuen, vom Neokapitalismus erfaßten Bourgeoisie Italiens. Pasolini, der biographisch gespalten ist zwischen intellektueller Aristokratie und proletarischem „Leben“, hat eine Reihe imaginärer Porträts und typischer Situationen des Intellektuellen aus und in dieser neuen Bourgeoisie geschaffen. Gegen seine bewußten Überzeugungen auf eine unbewegliche Schichtung der italienischen Gesellschaft setzend, hat er uns mit Gramsci’s Asche die ethisch-lyrische Geschichte eines fortwährenden Übergangs zwischen äußersten Polen gegeben, und diese Geschichte war im Grunde nicht dazu bestimmt, die Extreme zu überwinden, außer für Sekunden, in den elektrischen Ladungen der Gegensätze. Er hat sich in der Antithese eingerichtet, aber er riskiert, sie nicht mehr zu leben, sondern nur noch zu wiederholen. Mit seinen drei Gedichtbänden – die man seine „rosa Phase“ (La meglio gioventù), die „violette“ (Die Nachtigall der katholischen Kirche) und die Neo-Jugendstilphase nennen könnte (Gramsci’s Asche) – hat er uns außergewöhnliche, großartige Orchestrierungen von Themen, Landschaften und Geschöpfen, von Spaltungen und Ekelgefühlen gegeben.
Unvorhersehbar seine Zukunft, unnachahmlich seine Art, zu siegen und zu irren. In Bezug auf sein Ethos lese man, was R. Serra für D’Annunzio in Le lettere von 1913 schrieb. Schule macht er nicht, Nachahmer sind bedeutungslos, man fängt nicht bei ihm an, sondern vor ihm oder über ihn hinaus. Was bleibt, sind das Erreichte und ein kämpferischer Wille, der umso liebenswerter und nützlicher sein könnte, je weniger er bereit wäre, sich in Stil zu verwandeln.

Franco Fortini, 1959, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Pasolini, der Gerechte

Beim Namen Pasolini tritt mir, dem Deutschen, nicht zuerst der Dichter, der wilde Intellektuelle vor Augen, sondern eine archaische Erscheinung. Dieser kleine Mann mit dem markanten Jochbein, dem Gesicht eines Bauern aus dem Friaul, erinnert mich an die arme, geschundene Erde. An das harte Landleben vor der Industrialisierung und den Subventionen der Europäischen Union. Pasolini wäre entsetzt, müßte er sein Land heute mit eigenen Augen sehen. Prophezeit aber hatte er alles, was kommen würde: eine Gesellschaft über Nacht ans Stromnetz angeschlossen und alsbald im Konsum ersoffen, in der Jauche stumpfsinnigster Fernsehunterhaltung, die am Ende sogar ihre tradierte Sprache verlor.

Pasolini oder der unbändige Wille zur Legende: Der Mann hatte von Anfang an das Zeug zum Geschichtenerzähler. Ein Mann kommt vom Land, aus bescheidensten Verhältnissen, und erobert die geistigen Zentren, die Bühnen und Kinosäle der Großstadt. An ihm war alles bedeutsam: die Herkunft, der Stoff, aus dem er gemacht war, sein Triebleben, die Dichterwürde, sein Lebenshunger, die wilde Mischung aus Publizistik und Religiosität, die vitale Melancholie seiner Kunst, die einzigartige Vielfalt seines Werkes, das in vielen Facetten funkelte: Gedichte, Romane, Erzählungen, Filme, Drehbücher, Theaterstücke, Zeichnungen und Gemälde. Es war, als hätte sich die ganze reiche italienische Kultur in diesem einen schmächtigen Körper noch einmal versammelt.

Es mag die Nachwirkung zu vieler neorealistischer Filme auf den ausländischen Betrachter gewesen sein, Klassiker ihres Genres wie Die Fahrraddiebe, Rom, offene Stadt, Rocco und seine Brüder oder Accatone und Mamma Roma vom Meister selbst – das Land, das mir aus seinen Büchern entgegensprang, war mir immer als Schauplatz lebendiger Widersprüche lieb. Pasolini hatte sie alle selber noch einmal durchlebt. Die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Leben im Spiegel vollendeter Form (Dantes Terzinen), die Spannung zwischen sinnlicher Liebe und historischem Sinn, das Zerrissensein zwischen Großstadtdynamik und Heimatgefühl. Manches davon ist ihm zu Buchtiteln geronnen wie etwa Leidenschaft und Ideologie, Die Nachtigall der katholischen Kirche, Barbarische Erinnerungen – Formeln für eine untergegangene Epoche, die nun für immer auch seinen Stempel tragen wird. Keiner der Widersprüche, die sein Leben bestimmten, ließ sich je in der Wirklichkeit aufheben – um das Wort des deutschen Geschichtsphilosophen zu gebrauchen, der über den Umweg seines bedeutendsten Schülers Karl Marx, des Rabbis des Kommunismus, zuletzt auch meine Existenz prägte. Da, wo ich aufwuchs, empfing den Schüler schon am Morgen sein Hauptsatz „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“, in brandroten Buchstaben auf einem Transparent im Treppenhaus prangend. Doch kaum hatte man ihm den Rücken gekehrt, fand man sich inmitten eines gigantischen Gegenbeweises, in einer Welt, in der das Bewußtsein das Sein beherrschte wie niemals zuvor in der Geschichte. Und schon war es zu spät, man mußte sich fügen und marschierte durch ein weit geöffnetes Kasernentor hinaus in eine graue Zukunft.

Der Irrsinn von Praxis und Theorie, am eigenen Leib erfahren, das war es, was man den Realsozialismus nannte. Ein Westeuropäer, wenn er bei Verstand war, konnte darüber nur ein Lächeln verlieren. Das bringt mich auf Pasolini zurück, der niemals zynisch war, die Ausnahmeerscheinung in einer Kultur des Zynismus, einer Welt, die in Geschäftemacherei und allgegenwärtiger Korruption versank, einer Gesellschaft am Rande des Bürgerkriegs. Die Dringlichkeit seiner Gedichte, Essays, Kommentare und Streitschriften, die Intensität seiner Filme hatte damit zu tun, daß dieser Partisan zwischen den Fronten sich redlich um einen Ausweg bemühte. Er war ein Wanderer durch die Minenfelder rechter und linker Terrorismen, ein Grenzgänger in der Trümmerlandschaft des Kalten Krieges, hinterlassen von den Dämonen Mussolini, Stalin und Hitler, ein streunender Hund auf einer Autobahn zwischen Faschismus und Sowjetismus – dem am Ende der Apostel Paulus begegnete. In seinem Drehbuch zum nie realisierten Film San Paolo (1977) taucht der christliche Universalist in den Straßen New Yorks auf, unter Hippies und Homosexuellen, nachdem er in Bonn auf einer Party den gelangweilten Gästen von Jesus und seiner Auferstehung erzählt hatte.

Die große Frage, die Pasolini aufwarf, lautete: Was heißt es, Dichter zu sein in einer posthumanistischen Welt? Es ist eine Frage, die weiterbrennt und sich immer tiefer in jeden Einzelnen hineinfrißt. Was fängt man, vierzig Jahre nach ihm, mit einem Satz wie diesem an:

Deshalb glaube ich, daß die einzig mögliche Reaktion auf die Ungerechtigkeit und Vulgarität der Welt heute die Verzweiflung ist – aber nur die individuelle, nichtkodifizierte Verzweiflung.

Nichtkodifiziert, das konnte nur heißen: eine Verzweiflung, die in keiner Parteiversammlung, keinem Gottesdienst, keiner Psychotherapie zu bewältigen ist. Die im Gegenteil an den genannten Verzweiflungsabladeplätzen immer noch wächst. Die unglücklichen vielen (vom Fließbandarbeiter bei Fiat über den schwarzafrikanischen Flüchtling, Vertreiber gefälschter Prada-Taschen in den Fußgängerzonen, bis zur leserbriefschreibenden Hausfrau), wenn irgend jemand, dann hat er diese Menschen zu verstehen versucht. Die Machiavellisten aller Couleur, Lobbyisten der Marktwirtschaft, Profiteure der institutionalisierten Ungerechtigkeit hatte er früh schon durchschaut. Gebornener Dialektiker, der er war, wußte er, daß die Feinde der Menschheit die Masken wechseln.

„Pasolini, der Gerechte“ (Il giusto) las ich einmal auf einem Plakat – die Formel trifft den entscheidenden Charakterzug. Als Außenseiter der Gesellschaft blieb er, mit dem Instinkt für jede neue Ungerechtigkeit, unbestechlich. Selbst unter Gleichgesinnten: Unvergeßlich seine Kritik an der Gewalt linker Demonstranten gegen die vom Staat rekrutierten Polizeikräfte, in den Kreisen der Antifa verächtlich „Bullen“ genannt. Er erinnerte die Bürgerkinder der 68er Generation zu ihrem Ärger daran, daß man es mit den Söhnen von Arbeitern und Putzfrauen zu tun hatte. Daß also Privilegierte hier Molotowcocktails warfen auf die Gladiatoren des Bürgerkriegs, zerbrechliche Schützer der Demokratie, die im Zweifelsfall keiner schützte. Ein Konflikt, der bis heute weiterschwelt; jeder Wirtschaftsgipfel im Namen des Kapitalismus bringt ihn wieder zum Vorschein.

Pasolini: Eine Stimme wie seine hat unter den deutschen Intellektuellen seiner Zeit gefehlt. Ein Gerechtigkeitsgefühl wie das seine, empfindlich gegen jede Arroganz der Linken (der Rechten sowieso), hat es im Land der Auschwitztäter und der Geschichtsbewältiger nie gegeben.

Radikal bleibt seine Unterscheidung von Terroristen und Nichtterroristen. Und damit war nicht irgendein religiös fundierter Kamikazeangriff auf das Imperium gemeint, eine internationale Guerilla mit ihren Aktionen gegen alle, sondern der tägliche Terror der Öffentlichkeit, der auch heute noch allgegenwärtig ist, ein Verhaltenstypus in Politik, Publizistik, Kulturindustrie. Gemeint war hier jede Form von sprachlicher Gewalt und intellektueller Torschlägerei, der linke wie der rechte Ellbogenkampf, islamischer wie puritanischer Radikalismus. Das bedrohliche Fuchteln im Namen der Notwendigkeit (damals Revolution, heute Globalisierung), die Hysterisierung des Publikums als Mittel zum Machtgewinn, das war gemeint. Pasolini wußte, mit dem Herzen des verlorenen Christen, daß der Geist der Selbsterhaltung stärker war als alle Barmherzigkeit. Er hatte das Leben eines Intellektuellen, aber ein Schicksal wie Caravaggio.

Ich sitze, während ich darüber nachsinne, vor einer kleinen Trattoria in Venedigs Bezirk San Polo. Mir gegenüber erhebt sich die namengebende Kirche aus dem neunten Jahrhundert. Bis auf das gotische Portal macht der Bau wenig her, ist mehrfach verändert worden, den Campanile bewachen zwei der üblichen venezianischen Löwen, und doch ist sie mir gleich ans Herz gewachsen, so wie ein Hund bestimmte Bäume in seinem Revier annimmt, ohne lange zu suchen. In einer Nische an der Außenwand hat sich der heilige Paulus untergestellt, man erkennt ihn von weitem an den kreisrunden starren Fischaugen der frühen Christen. Er trägt einen mächtigen Bart, denselben, den heute der glaubensstrenge Moslem für sich reklamiert, der rechte Unterarm ist abgebrochen, die Linke hält die Toga des Redners vor der Brust gerafft. Ein Agitator, das begreift man, so könnte er gestanden haben auf dem Fels unterhalb der Akropolis, vor tauben Ohren predigend, mit der glühenden Strenge eines Abgesandten der ersten Tage. Bei näherem Hinsehen erweist sich, die Skulptur ist nicht, wie vermutet, romanischen Ursprungs, sondern ein Werk des späten Historismus. Als Stilbruch paßt sie am Ende aber doch erstaunlich gut hierher. Dieser Paulus erinnert an den Pasolini der Freibeuterschriften, den geborenen Sektierer mit dem verborgenen Ideal, und daran, wie schließlich beide an der Gesellschaft krepierten. War nicht Pasolini, schon dem Namen nach, an den Patron gebunden, dem er als Künstlerkommunist in allen Phasen seines Werkes verpflichtet blieb? Sein Filmprojekt über den Apostel ist Papier geblieben. Postum aber sehen wir diesen Film, mit jedem Tag dieser gewalttätigen Gegenwart, überall außerhalb unserer Kinos.

Durs Grünbein, aus Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Suhrkamp Verlag, 2019

Theresia Prammer: Nichts ist, was es ist
Schreibheft, Nr. 73, September 2009

Mit Büchern fing alles an

Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Thomas Migge bespricht La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini.

Hans Ulrich Reck: Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, Merkur, Heft 424, Februar 1984

Eine Veranstaltung in der Münchner Paulskirche mit Lesungen aus dem Werk des italienischen Künstlers und Erinnerungen des Schriftstellers Alberto Moravia. Musikbeiträge des Ensembles TrioLog. Durch die Sendung führt Antonio Pellegrino.

 

 

Konstantin Wecker mit Michael Dangl: „Elegie für Pasolini“. Live aufgenommen im Theater im Park in Wien am 4.9.2020

 

PIER PAOLO PASOLINI

Durch ein Labyrinth aus Fenstern
rennst du durch einen Wald
aus Leibern um dein Leben
fliehst in die Hölle
aus Widersprüchen der Reichtum
haßt die du liebst
sprichst in dich hinein
der Atem ist schwer
hinter dir Schritte
ein nahendes Auto
der Asphalt ist leer
du läufst den Strand
entlang der Sand
ist aus Messern
jemand ruft deinen Namen
über dem Meer kein Mond
nichts spiegelt sich
in deinen Augen der Mörder
dreh dich nicht um
verloren scheint deine Welt
jenes Verlangen hungrig
zwischen den Resten
aus Muscheln und Müll
bleibst du stehen
geblendet vom Scheinwerferlicht
nimmst schützend die Hände
vor das Gesicht bis es
zerplatzt.

Christoph Klimke

 

FÜR PASOLINI

Ich sage nur Guten Morgen und schon habe ich Angst vor deinem Echo,
aaadu, verzweifeltes Schauspiel, grandiose Ruine.
Und doch war er, mein Vers, dir etwas wie ein Dorn.
aaaAber du, geh nur weiter, vollkommen und blind.

Franco Fortini

FÜR PASOLINI

an den straßen
rändern dieser stadt
(: der ewigen):
die erbarmungslosen
engel. Aus den gossen
schreit ihr licht:
gnadenloses locken.
zwischen hunger
und liebe
und hunger nach liebe
und hungriger liebe.
vertraun und
verrat: wüste landschaft
unserer seelen. hinter zernarbten häuten
vergeblich versteckt.
medeas klage
treibt meerwärts. das nesselgewirk
zerfetzt am fels. Blutig-
blaß über der stadt:
der erstorbene morgen

Thomas Luthardt

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
Der Standart, 8.2.2022

Ronald Pohl: P.P.P.:Der Poet der italienischen Armen
Der Standart, 18.2.2022

Hans Ulrich Reck: Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
hr2, 3.32022

Barbara Schweizerhof: Vorliebe für Unpoliertes
taz, 4.3.2022

Daniel Kothenschulte: Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau, 4.3.2022

Peter Zander: Pier Paolo Pasolini – Ein Prophet der Verzweiflung
Berliner Morgenpost, 5.3.2022

Dietmar Dath: Ein Engel ist kein Bürger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.2022

Thomas Schmidt: „Weißt du, wie mir Italien vorkommt? Wie eine Bruchbude“
Die Welt, 5.3.2022

Michael Krüger: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“
Neue Zürcher Zeitung, 5.3.2022

Gregor Dotzauer: Freiheit und Rebellion sind meine süße Speise
Der Tagesspiegel, 4.3.2022

Sky Nonhoff: Der große Streitbare
SR 2, 4.3.2022

Gunnar Decker: Der ewige Ketzer
nd, 4.3.2022

Sabine Göttel und Olaf Neumann: Mit cineastischen Visionen im Visier der Gegner
Freie Presse, 4.3.2022

Romina Achatz: „Ich danke dir für Deinen rebellischen Geist und deine unbändige Zärtlichkeit“
Literatur outdoors, 5.3.2022

Manfred Hermes: Der Nonkonformist
junge Welt, 5.3.2022

Emanuela Sutter: Pasolini war ein katholischer Provokateur
Die Tagespost, 6.3.2022

Lutz Hanker: 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
RBB Kultur, 5.3.2022

Agnese Grieco: Eine verzweifelte Vitalität
Deutschlandfunk Kultur, 5.3.2022

Stefano Vastano: „Wie können wir das Leben am Leben erhalten?“
Die Zeit, 28.8.2022

 

 

100 Jahre Pier Paolo Pasolini (Matinée) am 16.10.2022 in der Alten Schmiede in Wien. Florian Baranyi, Karl-Heinz Dellwo im Gespräch mit Walter Famler

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Pier Paolo Pasolini: Schreibheft ✝︎ Die Tat ✝︎

 

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