NOCTURNE
Ihr werdet mich nicht erobern,
gealterte Sterne,
mit den Freuden oder den Schrecken
eures frischen Schweigens.
Und ihr macht mich nicht zittern,
ihr eisigen, in der Blüte
meiner Existenz,
wo ein süßer BRAND herrscht.
Doch mit euch ist fern
(nein, ich weine nicht, lache nicht)
in diesem Himmel der Gott,
den ich nicht kenne noch liebe.
Diese 1958 erschienene Gedichtsammlung vereinigt die in italienischer Hochsprache geschriebenen Gedichte aus den Jahren 1943–1949. Die sieben Zyklen „Die Nachtigall der katholischen Kirche“ (1943), „Die Klage der Rose“ (1946), „Sprache“ (1947), „L’Italia“ (1949), „Tragiques“ (1948–1949) und „Die Entdeckung von Marx“ (1949) sind den Themen Christentum, Glaube und Erlösung verpflichtet und spiegeln Pasolinis Verhältnis zum Italien der Nachkriegsjahre.
Sein politisches Engagement wurzelt tief in seiner Persönlichkeit, deren innere Gespaltenheit und Widersprüchlichkeit es ihm leicht macht, sich mit seinem von ebensolcher Gegensätzlichkeit geprägten Land zu identifizieren. Im Zyklus „L’Italia“ zeigt er den Spannungsbogen, der vom industrialisierten Norden zur urchristlichen bäuerlichen Kultur des Südens reicht. Sichtweise und Stellungnahme sind eindeutig: er setzt „das Problem an die Stelle der Wohlgefälligkeit“.
„Pasolini erstrebt zwar eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsstruktur nach marxistischem Muster, will aber den noch sinnlich-lebendigen Anteil der uralten, auch christlichen Traditionen Italiens erhalten. Sein Werk vereinigt auf eigenartige Weise seine persönliche Sinnlichkeit mit seiner Traditionsverbundenheit und seiner politischen Überzeugung, dem roten Fetzen der Hoffnung.“ (NZZ)
R. Piper Verlag, Klappentext, 1989
Ist es richtig, Pasolini bei allem, was er geschrieben und auf den unterschiedlichsten Gebieten geschaffen hat, vor allem als Dichter zu bezeichnen? Ja, und zwar in der peinlichsten und sogar obsoletesten Bedeutung, die dieser Begriff annehmen kann. Pasolinis Suche, sein Experimentieren, das mit den Bewegungen zusammenfällt, mit denen eine Leib-Seele sich durch die ambivalenten Wandlungen der Welt hindurch windet, um in ihr zu überleben, wurde nach dem Modell der „Figur des Dichters“ stilisiert und gewagt. Pasolini suchte die vollständige Bedeutung der Figur des Dichters wiederherzustellen und bekräftigte gleichzeitig stets wieder ihre Irrelevanz, Inexistenz und Verkrüppelung sowohl angesichts der Geschichte mit ihren Unwägbarkeiten als auch im Hinblick auf ein pädagogisch-therapeutisches Handeln, das die Gesellschaft (das „Alle“ als ebenfalls eher „körperliche“ Zusammenballung denn als bewußter Zusammenschluß) prompt und unmittelbar einbeziehen könnte. Diese Tatsache hat Pasolini in eine der exponiertesten und allumfassendsten Positionen gebracht, die das Gespenst des „Dichterischen“ und sein brutal an ein „Ich“ geklammertes Ektoplasma je innehatten.
Sämtliche Konnotationen, die die Figur des Dichters im Lauf der Zeit annehmen konnte, haben sich bei Pasolini überlagert, gegenseitig ausgedünnt, geleugnet und behindert: aktives, wenngleich widerständiges Bewußtsein innerhalb des Reichtums der Tradition/Institution; Zeuge für die Ausgliederung der Lyrik in ihren überragenden, höchsten Rang; Erhebung (Regression) in schamanistische, wenn nicht sogar päpstliche Funktionen (mit Minuszeichen, anti-päpstlich). Damit nicht genug: Obwohl er sie scheinbar leugnete, griff Pasolini auch die vermeintlich „avantgardistische“ Position, die der Ausdehnung des Poetischen über seine besondere Verbindung mit der Sprache hinaus den Kampf erklärte, rückhaltlos auf; auch fehlte nicht das schmerzhafte Streben nach einer „totalen Poesie“, welche die verfestigte Aufteilung aller künstlerischen Gebiete in einer höheren Einheit aufheben sollte. Als „überpoetische“ Einheit wurde sie niemals widerrufen, und vielleicht identifizierte er sie mit dem Film. All das, ohne das Schreiben und Sprechen oder besser das „Fabulieren“ als essentiellen Teil der Dichtung aus den Augen zu verlieren. Auch bei seinen Experimenten mit den literarischen Gattungen verfolgte Pasolini immer eine Austauschbarkeit im Zeichen des Poetischen, sogar als er es während der Arbeit für die Zeitschrift Officina zu seinem erklärten Programm machte, die Poesie auf die Ebene der Prosa zu bringen, entgegen dem Kanon, der unser zwanzigstes Jahrhundert charakterisiert.
Tatsächlich aber lag es an seinem trotz aller Kohärenz gespaltenen Körper-Ich und seinen wechselnden Reiz-Reaktionsmustern, wenn er bestimmte Grenz- und Trennungslinien unangetastet ließ, ja geradezu institutionalisierte, indem er zum Beispiel den jeweiligen Momenten und Formen des Ausdrucks oder der zu übermittelnden Botschaft eine bevorzugte Sprache (Italienisch oder Dialekt) zudachte.
Doch die Frage nach „Ebenen“ und Juxtapositionen oder, umgekehrt, osmotischen gegenseitigen Durchdringungen der Sprachen hat bei Pasolini nur dann Sinn, wenn man bedenkt, daß es für ihn kein hoch oder tief, keine Vergangenheit oder Zukunft, kein „Privates“ oder „Gesellschaftliches“ gab, das nicht fortwährender Anzweiflung oder gar Zerrissenheit und wechselseitiger Auslöschung ausgesetzt gewesen wäre. Sein Leitstern blieb gleichwohl eine Idee der Dichtung als verstörende Andersheit, Exzeß und Ernstfall, die jedoch (im Unterschied zu jener der Neoavantgarden und anderen) immer auch um jeden Preis soziale Mitte, ja sogar wichtigstes Movens der Wiedereinrichtung des Sozialen sein mußte. Der Ausgangspunkt war jedenfalls ein kompakter, überaus kraftvoller Mikrokosmos, ein gieriger, unermüdlicher Narziss – ein selbstloser, verzweifelter Narziss –, dem es bestimmt war, in ein unmögliches/notwendiges konzentrisches Verhältnis zu stets drohenden, ebenfalls in Verwandlung begriffenen (historischen) Makrokosmen zu treten.
Für Pasolini „mußte“ die Differenz auch Norm sein (sie verkörperte sich immer innerhalb eines Magmas und verbarg sich sogar noch im Drang, jedwede Selbstanalyse oder mögliche psychoanalytische Praxis auszumerzen), sie mußte Institution der Praxis sein (und nicht nur leitende Theorie), doch immer im „Körperkontakt“ mit der Differenz als Institution. Jede Kontaktaufnahme war für Pasolini auch eine Geste, die wechselseitig schwächt und „entrückt“. Die extreme Mobilität wie auch die Unveränderlichkeit von Pasolinis Dichtung bieten sich also zwangsläufig als Parabel für das Schicksal der Dichtung in unserer Zeit an; sie bieten sich als Gleichnis an und sie sind, wofür sie stehen: Exempel für mögliche Handlungsanleitung, als offene Utopie und schließlich als physische Zerfleischung in actu.
Die erste Phase seiner Dichtung, die des friaulischen Dialekts, in der die „Muttersprache“, das östliche Venetische, und das volkstümliche Idiom nahezu übereinstimmten (daneben gab es die „Hochsprache“ des Vaters und des Bürgertums), konnte wirklich paradiesisch sein, zugleich gefärbt mit dem Widerschein der Felibrige und der Dekadenzliteratur und überdies gesteigert durch einen Überschuß des Goutierens und Degustierens, die zum Philologen, zum Romanisten gehörten. Es war eine Dichtung, die sich, auch wenn sie sich nicht so nannte, durchaus als „rein“ empfinden durfte, die in einem gewissen fernen Einklang mit den Mythen der dreißiger-vierziger Jahre stand, denn im strahlenden Licht des Beginns verleibten die unbedingt „göttlichen“ Freuden und Leiden des Narziss sich wie konzentrische Zellkerne alles auf die sanfteste Weise ein.
In dieser Phase bilden das Körper-Ich, das Dorf und die zyklische Zeit auf dem Land eine Welt, in der jeder weit weniger Genosse (der er vielleicht morgen sein kann) als vielmehr „Bruder“ ist, Milchgeschwister aller anderen, auch entlang der Verzweigungen realer Verwandtschaftsverhältnisse (einschließlich der sprachlichen) und in der relativen Gleichförmigkeit der gemeinsamen Erfahrungen. Die Sehnsucht nach dieser „Kugel-Sphäre“, in der von jeder Verletzung und jeder Sünde dennoch ein himmlischer Widerschein ausgeht, verließ Pasolini niemals ganz. Der Zangengriff der Ethik, zunächst unter religiösem Vorzeichen, dann sehr bald unter gesellschaftlich-politischem, sollte zu keinem Zeitpunkt die Oberhand über diese Intensität der „ersten Freude“ gewinnen, auch wenn sie mit Tod durchtränkt war. Aber dieser Tod ist benennbar, er liegt gleich vor dem Dorf, auf einem Landfriedhof, wo alles liebkost wird und fast auf die Auferstehung verweist, er ist eine Zelle zwischen lebenden Zellen wie auch die angrenzenden Häuser und Dörfer. Dies ist die Zeit der größtenteils friaulischen, doch mit schönen lokalen Varianten des Venetischen durchsetzten Gedichte, die in dem Band La meglio gioventù gesammelt sind.
Die folgenden Poeme wie „Il canto popolare“ und „L’Italia“ sind wichtig, weil aus eben jener adelphischen Welt der Adoleszenz, die hier auf die Anfänge der italienischen Nation und ihrer Sprache bezogen wird, mit größter Luzidität und Natürlichkeit historische Kategorien auftauchen, die Vernunft und die Praxis. Währenddessen kristallisiert sich ein Stil heraus, der einheitlicher, gradliniger (logischer?) ist, auch im Vergleich mit der Sammlung Die Nachtigall der katholischen Kirche, die den italienisch-hochsprachlichen Gegengesang zu den gleichzeitig auf Friaulisch geschriebenen Gedichten gebildet hatte. Schon damals also verband sich die öffentliche Funktion (die Nachtigall, allerdings die der Kirche) mit der offiziellen Sprache, dem Italienischen.
Von dem Moment an, als der Dichter ausgerechnet von der Welt, die er am meisten liebt, vergiftet und verletzt wird und sie flieht, vollzieht sich eine tiefgreifende Wandlung. Pasolini läßt sich in Rom nieder, dem symbolischen Zentrum aller „großen“ Geschichte (in der sich der Plan des politischen Logos hätte entfalten sollen), tatsächlich aber ein Haufen Eingeweide mit einem Widerwillen gegen alles, was nicht unbewußt und triebhaft geschieht. Auch sie triumphieren, freilich auf anderen Wegen, über den Tod und den Eiter, in dem sie gedeihen wie frische Wildkräuter auf einem Friedhof voller Würmer. So zeichnet sich die großartige Unternehmung ab, die vom Beginn der fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein ununterbrochen andauern wird, über vier Bücher hinweg: hingeschleudert, ätzend verbunden mit der realen und widersprüchlichen Bewegung der Geschehnisse, denen sie sich einprägen, in die sie eingreifen wollen: von Gramsci’s Asche über La religione del mio tempo bis zu Poesia in forma di rosa und Trasumanar e organizzar.
Während Pasolini sich mit den gleichzeitig entstehenden Prosawerken in die Melange mit dem Romanesco vorwagt und seine Beziehung zum Dialekt auf diese begrenzt, hält er in der Dichtung fast ausschließlich an einer Einsprachigkeit fest, bei der das Italienische – es ist auf seine Weise noch in einem Zustand der „Reinheit“, nunmehr eine Reinheit seiner Spannung zur Rationalität – sich nach vorn projiziert, sich selbst als Sprache einer Stimme auskultiert (sich auch verhärtet), die eben nicht anders kann als programmatisch und öffentlich zu sein. Auch dann nicht, wenn sie das geheimste Private auf die Straße trägt, ja nicht einmal dann, wenn sie sich eines exzentrischen Privaten bedient, um das zunehmend verfallende und schon in seinen Neuheiten beschädigte Öffentliche in Frage zu stellen. Pasolini weiß genau, daß er eine Sprache aufzeichnet und sich in ihr verzeichnet, die vom durchschnittsbürgerlichen Dasein verdorben ist, und daß er dabei in die Abdrift eines Stils gerät, der immer weniger Stil ist. Dennoch verzichtet er nie darauf, „bestia da stile“, ein von Stil besessenes Ungeheuer, zu sein, wechselt vom Rückgriff auf traditionelle, fast charismatische Muster wie die Terzine über zu sanften, auf konventionelle Weise an den Crepuscolari orientierten Stilvorgaben, zu den unnachgiebigen Ausbrüchen pädagogischer Anklagen und Appelle, bis zur unvermittelten Heftigkeit des unreinsten Journalismus. Er weiß, daß er sich widerspricht und daß er gezwungen ist, sich zu widersprechen – doch immer innerhalb einer nach dem Kriterium des größtmöglichen Zuhörerkreises gewählten Sprache.
Jedes wirklich gemeinschaftliche Wort ist für Pasolini in unserer jüngsten Geschichte jedoch unmöglich. Von Anfang an wendet er sich sehr bewußt an etwas Fehlendes, Abwesendes, an Gramscis Asche („unsere Geschichte ist beendet“), und verharrt in einer Leere, die sowohl eine der Nach- wie der Vorgeschichte ist und auf jeden Fall „genetisch“ auf etwas Ungeheuerliches hin mutiert. Pasolini, der so frühzeitig die „muda“, die Mauser der italienischen Sprache (und des Landes) wahrzunehmen wußte, die sie von einem croceanisch-literarisch-handwerklichen Zustand in einen neokapitalistisch-managerhaft-technologischen Zustand brachte, scheint die Sprache mit fast angewiderter Verachtung zu benutzen, gerade weil sie die ungeheure Leere nur schlecht verbergen kann, die das Versäumnis einer niemals verwirklichten Erneuerung nach dem (auch sprachlich) national-volkstümlichen Muster Gramscis hinterließ. Diese Tatsache ist für Pasolini ein blanc, ein lack, der manchmal gewaltsam verdrängt scheint und gerade darum einer innerliterarischen und innerpoetischen Zweckmäßigkeit nie mehr zurückgewonnen werden kann – die beide übrigens wie in einem Negativ aufzuspüren sind. Pasolini erkannte, daß die Dichtung mit seinem „Gebrauchsitalienisch“ möglicherweise immer weniger zu tun hatte. Es wird als eine instabile Plattform empfunden, die mit teuflischer List Mißverständnisse und Stereotypen begünstigt, statt sich in die Zukunft vorzubeugen und menschliche Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln, von denen die Zukunft leben muß. Auf sie bezieht Pasolini sich fortwährend, indem er sie „beim Namen nennt“ und seine Aufmerksamkeit in diesem Kontext zunehmend auf das „inbegriffene“, zugrundegehende große kulturelle Erbe richtet, auf die sogenannten niederen Kulturen oder jene der Dritten Welt.
Das Scheitern der revolutionären Mythen und ihr nachfolgender Verfall, das „Instrumentalisieren“ der eigenen psychisch-sexuellen Andersheit als Bollwerk gegen die Entpersönlichung des Einzelnen und gesellschaftlicher Gruppen bis hin zur Vermessung der anthropologischen Katastrophe Italiens (und der Welt), das sind die vorrangigen Themen, für die Pasolini seine anhaltende „Leidenschaft“ mobilisiert, die (nicht nur) Dichtung erzeugt, und für die er seine praktische Weisheit als Lehrer aufbietet, auch als Lehrer der Rhetorik, der er schon als Knabe war, wiewohl er immer Lehrer-Knabe und „unmöglicher“ Ideologe blieb. Fast hat es den Anschein, als würde Pasolini sein Reden absichtlich anrüchig machen, als würde er es gedankenlos hinwerfen, alles Rohe darin anhäufen, was existiert – und gleichzeitig ist offensichtlich, daß er nicht auf die subtilsten kulturellen Ausschmückungen und literarischen Verweise verzichten, noch weniger aber seine Funktion als engagierter Dichter verlieren will, die sich in den Verknotungen Körper-Geschichte, Gewalt-Sanftmut, Narziss-Menschheit, Gräuel-Unschuld sogar zunehmend zwanghafter profiliert.
Unterdessen läuft die Operation Neoavantgarde; nichts kann verhindern, daß die tatsächlichen Entwicklungsstufen der fortschreitenden Veränderung, in der es sowohl für die Leidenschaft als auch für die Ideologie immer weniger Platz gibt, das Wort ergreifen. Ungerührt wird man mit den Schädeln der Väter Boccia spielen, und mit den Figurationen der zunehmend sich ausbreitenden Schizophrenie das Gänsespiel. Zwar kam der Bienenschwarm des Aristaios aus dem Skelett des Ochsen hervor, doch er kam aus einem Kadaver ohne Merkmale und Grenzen, gleichzeitig provinziell und gesamtirdisch, er kam als eine Legion von Gespensterwesen, eine Lawine aus Werbegeschenken, welche, zerberstend, sämtliche Brüche und Zweideutigkeiten enthüllten, die zuvor verschleiert, wenn nicht verdrängt worden waren. Sie lagen auf einer Ebene mit jenen Pasolinis, der sie als einer der ersten bemerkte und ihren neuen, noch grauenhafteren Grad an notwendiger Heimtücke, an Wahr-Falschem erfaßte. Gleichzeitig verzichtete er mitnichten darauf, andere mögliche Auswege und Neuerungen zu erkunden, vorausgesetzt, sie stimmten mit seinen inneren Konstanten überein, seinen fortwährenden Drahtseilakten über Abgründen.
In dieser äußersten Spannung findet Pasolini die Kraft, über den Kopf der Avantgarden hinweg, in das Jenseits der Sprache überzuwechseln, in die Totalität, welche das Kino sein möchte und metaphorisch ausdrückt. Doch je mehr Pasolini sich auf das Kino einläßt, in seinen riesigen Resonanzboden und seine Multilateralität eindringt. desto ausdauernder und nachdrücklicher wird bei ihm die „reine“ poetische Invariante, die Liebe zur Dichtung aus Worten (für die jedoch weder die italienische Sprache noch der Dialekt oder Worte überhaupt reichten). Gerade durch ihre „Nutzlosigkeit“, ihre Ausgrenzung, erscheint die Dichtung ihm jetzt als letzte Bastion des Widerstands gegen die steigende Flut in unaufhörlicher Folge erzeugter Leeren, Früchte der inzestuösen Paarungen von Mode (Konsum) und Tod. Gleichzeitig entwickelt er eine überaus scharfsinnige Theorie des „Kinos der Poesie“ und versucht es zu verwirklichen.
Die Schocks dieser Tragödie werden durch die Schwankungen, den Versuchscharakter, aber auch durch die Unsicherheiten der dichterischen Schöpfungen Pasolinis in dieser Zeit markiert, in denen die auf anderen Gebieten gesammelten Erfahrungen auf dem des Wortes wiederkehren – jetzt auch in manchen Dramentexten (wie Calderón und vor allem Affabulazione, Der Schweinestall, Orgie). Und so rechtfertigt sich erneut das Sprechen in der kleinen, mittlerweile „dialektalen“ italienischen Sprache (ein erbärmlicher Dialekt, gemessen an dem über die ganze Erde dröhnenden Englisch und der universalen Empathie des Visuellen). Gerade darum hätte das Italienisch seiner Dramen wohl ausschließlich von Knabenstimmen gesprochen werden müssen (wie Pasolini selbst einmal bestätigte).
Zu diesem Zeitpunkt mußte der Bogen der Dichtung, zumindest als Parallelfigur zum bereits sinkenden Lebensbogen, sich für Pasolini zwangsläufig wieder auf die eigenen dialektalen Ursprünge zurückbesinnen, und sei es nur, um sie zu verleugnen, um ein Nie-Wieder zu erklären – und das ausgerechnet in einem Moment, in dem die Aufmerksamkeit (vielleicht auch sie nur noch eine Mode) für Dialekte und lokale Kulturen als Pol des Widerstands gegen die unaufhaltsam fortschreitende Auslöschung jeder Identität und aller Ethik wieder zunahm. La nuova gioventù ist ein erneuter Gang über La meglio gioventù, obgleich es mit Füßen getreten wird. Andererseits befand sich auch dieses, recht betrachtet, von Anfang an „unter der Erde“, wie es im Gesang der Alpini heißt. Doch es gibt solche und solche Begräbnisse: jene sehr ferne Vergangenheit hatte eine Zukunft, konnte sie haben, sie „war“ Zukunft (eine parallele Zukunft, die nicht Wirklichkeit wurde); denn sie war zwar begraben, doch in ihrer eigenen Aura, in ihrer eigenen Nahrung, sie war „rite“ begraben, nämlich einer Wahrheit entsprechend, die sich im Einklang mit einem kosmischen Biorhythmus befand, sie lag unter der Erde wie der Samen unter der Erde liegt – den man dann verfaulen ließ, statt ihn zum Blühen zu bringen.
Der Pasolini der siebziger Jahre ahnt alle Übel, alle Gewalt voraus, fast auch die Gewalt, die ihn buchstäblich in Stücke reißen wird. Doch Pasolinis „verzweifelte Lebendigkeit“ ist immer noch aktiv, und die Dichtungen, die aus dieser Rückkehr entstehen, einer Rückkehr, die so genau um ihre Vorläufigkeit weiß und deren Merkmal jetzt (wie er selbst erklärt) ein zwanghaftes Ritual ist, sind häufig von unvermutet hoher Qualität: Schlamm und Schnee, Kreis und Fluchtlinie, Abdankung und erstickter Schrei des Noch-Daseins, zerbrochenes orphisches Ei und Nachrichten-Kommentare wie aus Fernsehtalkshows „auf Italienisch“. Es handelt sich noch immer um den Traum, auch zuletzt noch, von einem Vorangehen, das einsamer und nackter ist denn je, wie in den Anfängen des Sprechens, alles wahren Sprechens.
Ja, es sind vor allem seine Verse, in denen Pasolini für immer dies bleibt:
lizèir, zint avant, sielzìnt par sempri
la vita, la zoventut
(„leicht, vorangehend, für immer / das Leben, die Jugend wählend“).
Andrea Zanzotto, 1980, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Thomas Migge bespricht La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini.
Hans Ulrich Reck: Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, Merkur, Heft 424, Februar 1984
QUER DURCHS FRIAUL
und jetzt – oder auch – nie
bist du im Werden und Verderben
von Gräsern DoRNen und Gedanken, angesengt
aavon Blau, in jedem Augenblick
aaaavom flachen Land bis zu den allerersten Bergen
Nichts auf der Welt, was diese
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaunvorstellbare Vibratilität
erschöpfen könnte
keine Hand, die hineinführe, um deinem Leben
aa– wie einem versteinerten Film –
aaaaeinen letzten Sinn zu geben
ach, Benandante
Tastend beinah, blindlings, doch beinahe
heiter kreuzen wir bereits
das silbrige Gewimmel deiner Wege
hin zu anderen Ernten
aaaaaaaaanderen Elementen
··············································
aaaaaaaaaaaaJanuar 1992
Andrea Zanzotto
Aus dem Italienischen von Theresia Prammer
FÜR PASOLINI
Sag ich dir nun Guten Tag, so habe ich Angst vor dem Echo,
aaaaaaaaaadu, verweg’nes Theater, prächt’ge Ruine.
Und doch: mein Vers, er hatte in dir einen Stachel gelassen,
aaaaaaaaaaaber geh ohne Rückkehr, vollkommen und blind.
Franco Fortini
Übersetzung Hans Raimund
ZWEI FRAGMENTE
AUS DEM LEBEN PIER PAOLO PASOLINIS
… so bediente sich der Lehrling in der romanischen Philologie
Der Sprache der Mutter
Grundierte mit ladinischem Email Altarbilder und Liebestafeln
Und gab am Fuss der Seite
Deren dulcedo auf den Sockeln
In winzigkleinen Lettern wieder
Im Italienisch seiner Klasse
Kaum gefärbt gemäss der Lektion
Pounds jugendlicher Bezwinger smaragdener Gipfel
In der Provence Arnauts und Peire…
… andere Jahre waren es im Schlamm des Ponte Mammolo
Und Burschen gaben sich her naiv
Als Modell für manieristische Entwürfe schon gekommen
War die Zeit
Mit Franco Citti den Prigione zu besetzen
Junger Prophet und Peon in Erwartung
Schäumender herrschaftlicher Pferde
Im Ritual des lebendig mit dem Kopf voran Begrabens
Envoi
Ich weiss nicht. ob der Enzian lila bis Proserpinablau
In Casarsa blüht
Aber sicher auf den Bergen im Frühherbst
Der den kindlichen Tagliamento durchlüftet und verletzt
Keinen traurigen Trinkspruch
Einen Strauss Enzian mit Farnen gemischt
Wollen deine Knochen – nicht deine Asche –
Attilio Bertolucci
Übersetzung Hans Raimund
Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
Der Standart, 8.2.2022
Ronald Pohl: P.P.P.:Der Poet der italienischen Armen
Der Standart, 18.2.2022
Hans Ulrich Reck: Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
hr2, 3.32022
Barbara Schweizerhof: Vorliebe für Unpoliertes
taz, 4.3.2022
Daniel Kothenschulte: Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau, 4.3.2022
Peter Zander: Pier Paolo Pasolini – Ein Prophet der Verzweiflung
Berliner Morgenpost, 5.3.2022
Dietmar Dath: Ein Engel ist kein Bürger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.2022
Thomas Schmidt: „Weißt du, wie mir Italien vorkommt? Wie eine Bruchbude“
Die Welt, 5.3.2022
Michael Krüger: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“
Neue Zürcher Zeitung, 5.3.2022
Gregor Dotzauer: Freiheit und Rebellion sind meine süße Speise
Der Tagesspiegel, 4.3.2022
Sky Nonhoff: Der große Streitbare
SR 2, 4.3.2022
Gunnar Decker: Der ewige Ketzer
nd, 4.3.2022
Sabine Göttel und Olaf Neumann: Mit cineastischen Visionen im Visier der Gegner
Freie Presse, 4.3.2022
Romina Achatz: „Ich danke dir für Deinen rebellischen Geist und deine unbändige Zärtlichkeit“
Literatur outdoors, 5.3.2022
Manfred Hermes: Der Nonkonformist
junge Welt, 5.3.2022
Emanuela Sutter: Pasolini war ein katholischer Provokateur
Die Tagespost, 6.3.2022
Lutz Hanker: 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
RBB Kultur, 5.3.2022
Agnese Grieco: Eine verzweifelte Vitalität
Deutschlandfunk Kultur, 5.3.2022
Stefano Vastano: „Wie können wir das Leben am Leben erhalten?“
Die Zeit, 28.8.2022
100 Jahre Pier Paolo Pasolini (Matinée) am 16.10.2022 in der Alten Schmiede in Wien. Florian Baranyi, Karl-Heinz Dellwo im Gespräch mit Walter Famler
Schreibe einen Kommentar