LIED VOM DENUNZIANTEN
In unseren engen Kreis gelangte nicht jeder,
und ich – verfluchtes Datum –
brachte ihn einst mit und sagte:
„Er kommt mit mir – schenken wir ihm ein, Kinder!“
Er trank wie alle und schien froh zu sein,
und wir, wir nahmen ihn auf wie einen Bruder…
Er aber verriet uns am nächsten Tag einen nach dem
aaaaaandern –
ich hatte mich getäuscht, verzeiht mir, Kinder.
An die Gerichtsverhandlung erinnere ich mich nicht – es ging über meine Kräfte;
dann: die Lagerbaracke, kalt wie das Grab,
als wäre ringsum schwarze Nacht, so kam mir’s vor,
um so mehr, als es so auch war.
Einen Rest von Kraft will ich mir bewahren –
er denkt, von hier gibt’s keine Rückkehr –
allzu früh hat er uns begraben:
Er hat sich getäuscht, glaubt mir, Kinder!
Der Tag wird kommen – die Nacht dauert nicht Jahre –,
dann werde ich, wenn die Abrechnung kommt, bitten:
„Ich hab ihn damals zu Euch gebracht –
jetzt gebt ihn mir zurück!…“
Wladimir Wyssozkij
ICH WÄHLE DIE FREIHEIT
Mein Herz ist zugenäht,
auf meinen Schläfen liegt weißer Staub,
aber ich wähle die Freiheit –
da könnt ihr pfeifen, solange ihr wollt!
Und es reißt mir die Geduld,
und dreitausend Schlägertypen
schärfen, als wären es Messer, ihre Federn
und lassen die Hunde von der Kette.
Brest und Ungeny sind verschlossen,
Spähtrupps gibt’s dort wie hier,
und alle warten im Westen auf mich,
nur warten sie vergebens!
Ich wähle die Freiheit –
aber nicht als Rückzug, sondern als Angriff,
ich wähle die Freiheit,
einfach ich selbst zu sein.
Und das ist meine Freiheit,
braucht’s da noch deutlichere Worte?!
Und es ist meine Sorge,
wie ich mit ihr zurechtkomme.
Aber süßer als eure Märchen
ist mir der Stolz meiner Not,
die Freiheit einer Essensration auf Staatskosten,
die Freiheit eines Schlucks Wasser.
Ich wähle die Freiheit,
heute trink’ ich auf Duzbrüderschaft mit ihr.
Ich wähle die Freiheit
von Norilsk und Workuta.
Wo wieder wie ein Hackmesser
die Peitsche über die junge Saat tanzt,
wo mit einer Kugel oder einem Lappen
man mir einst den Mund stopfen wird.
Doch herrlich tönt der Weg,
und jede Unterkunft ist wie ein Tempel.
Und die Kugel wiegt nicht viel –
nicht mehr als acht Gramm.
Ich wähle die Freiheit –
mag sie auch buntscheckig sein und rauh,
und ihr: nur zu, immer tropfenweise
„den Sklaven herausgepreßt“!
Tropfenweise ist tropfenweise –
heilkräftig und schlau;
tropfenweise – so macht man’s auf Capri,
uns stellt man einen Eimer drunter!
Reicht uns einen Trog her,
und wir werden uns in unserer ganzen Schönheit erheben!
Nicht im verborgenen, nicht als heimlicher Pfusch,
sondern so, daß alle ihre Blicke an uns weiden!
Ich wähle die Freiheit,
und daß ihr’s nur wißt: nicht ich allein!
Und die „Freiheit“ sagt zu mir:
„Na, was ist“, sagt sie, „ziehen Sie sich an
und kommen Sie mit, Bürger“.
Alexander Galitsch
MITTERNACHTS-TROLLEYBUS
Wenn ich nicht mehr die Kraft habe, meinen Jammer zu überwinden,
wenn Verzweiflung mich überwältigt,
springe ich auf den blauen Trolleybus auf,
auf den letzten, der zufällig vorbeikommt.
Mitternachts-Trolleybus, jage durch die Straßen,
zieh deine Kreise über die Boulevards,
um all jene aufzusammeln, die in der Nacht
Schiffbruch erlitten, die Schiffbruch erlitten!
Mitternachts-Trolleybus, öffne mir die Tür!
Ich weiß, wie in der frostkalten Mitternacht
deine Passagiere – deine Matrosen –
zu Hilfe eilen.
Mehr als einmal bin ich mit ihnen dem Jammer entkommen,
mit den Schultern habe ich mich an sie gelehnt…
Wahrhaftig, wieviel Güte doch
im Schweigen liegt, im Schweigen.
Der Mitternachts-Trolleybus schwimmt durch Moskau,
die Fahrbahn fließt in die Morgendämmerung,
und der Schmerz, der wie ein Specht in der Schläfe geklopft hat,
läßt nach, läßt nach.
Bulat Okudschawa
Im Gefolge des „Tauwetters“ nach Stalins Tod trat in Rußland Anfang der 60er Jahre eine neue Dichtergeneration an. Zu dieser gehörte neben Bella Achmadulina, Jewgenij Jewtuschenko und Andrej Wosnessenskij auch Bulat Okudschawa (1924–1997). Mit seinen Liedern begründete Okudschawa jenes Genre, das sich in der Einheit von Text, Melodie und Interpretation ein und desselben Autors manifestierte und wohl am treffendsten Gitarrenlyrik genannt wird.
Als Arena dienten den jungen Dichtern der 60er Jahre die Moskauer Sportstadien und das Polytechnische Museum. 1962 lasen 17 russische Lyriker vier Stunden lang vor 11.000 Zuhörern. Eine Lyrikwelle erfaßte das Land.
Von der Bühne erschallte das, was man nicht drucken durfte. Wir weigerten uns, vorher die Texte zu zeigen… Welch neuer Zweig geistiger Kultur wurde gerade in unserem Land und gerade im 20. Jahrhundert geboren? Ich denke, das ist der öffentliche Gedichtvortrag von Dichtern vor großen Auditorien.
So charakterisierte der zu den russischen Kult-Dichtem der 60er Jahre gehörende Andrej Wosnessenskij jene Zeit. Für die in den 60er Jahren zunehmend mündlich orientierte Kommunikation zwischen Dichter und Zuhörer erwies sich die Gitarrenlyrik mit ihrer musikalischen Komponente als geradezu prädestiniert. Sie ermöglichte außerdem eine Unabhängigkeit von der staatlichen Zensur.
Die von Bulat Okudschawa zur Gitarre vorgetragenen traurig-ironischen Verse boten eine Alternative zum „offiziösen Lied“, dessen künstlicher Munterkeit und heroischem Pathos. Den intimen Kammerstil von Okudschawas Gitarrenlyrik prägte, wie bereits die häusliche Dichtung und Musik der russischen Intelligenz im 19. Jahrhundert, die Kommunikationssituation im engen Freundeskreis.
Im März 1956 trug Okudschawa seine vertonten Gedichte erstmals bei Freunden in der Wohnung vor. Die Wohnungen, insbesondere die „Moskauer Küchen“, stellten den wichtigsten Verbreitungsort der Gitarrenlyrik dar. 1960 sang Okudschawa erstmals vor einem größeren Publikum im Leningrader Haus der Kunstschaffenden. Doch nach einer kurzen Periode der Öffentlichkeit mußte sich das Genre angesichts des wieder einfrierenden „Tauwetters“ erneut in die Wohnungen zurückziehen.
Ungeachtet des Unterschiedes zwischen dem intimen Kammerstil Okudschawas und dem Sportstadien füllenden Pathos der jungen Dichter der 60er Jahre verband sie Wesentliches: Der radikale Bruch mit dem optimistischen und heroisch-patriotischen offiziellen Stil, ihr Protest gegen das stalinistische Gesellschaftssystem, die durch mündlichen Vortrag verstärkt genutzte Wirkung von Assonanz und Alliteration, der Gebrauch umgangssprachlicher Lexik bis hin zum Jargon.
Den Boden für diese lyrische Innovation der 60er Jahre, insbesondere für die Gitarrenlyrik, bereiteten die Studentenlieder der Tauwettergeneration: allen voran Jurij Wisbor und Julij Kim. Beide studierten am Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut, das sich damals zum Zentrum des Studentenliedes entwickelte. Dies war kein Zufall, denn nur an diesem Institut wurden Kinder von Repressierten der Stalinzeit relativ problemlos immatrikuliert. Diese Studenten waren ebenso wie der Gitarrenlyriker Okudschawa, der durch den Stalinschen Terror seinen Vater verlor, von der Entstalinisierung zutiefst persönlich betroffen.
Bei uns entstanden die Lieder von Bulat Okudschawa, Alexander Galitsch, Julij Kim, Wladimir Wyssozkij und anderen neuen Barden in den Jahren des ,Tauwetters‘ zuerst als spontaner, halbbewußter und dennoch direkter Widerstand gegen die triumphal-pompöse Lügenkunst… Darin wurden die berühmten Sänger vorbereitet und begleitet von der Singbewegung der Geologen, Studenten und ,Neulanderoberer‘. Die beweglichen jungen Gemeinschaften entfernten sich von der herrschenden ,industriell‘ standardisierten Zivilisation, von den trostlosen Schablonen der Propaganda und jeglicher geplanter ,Kulturarbeit‘, wurden nicht selten zu Quellen der Freiheit. Sie singen unterwegs und in der Freizeit, wie immer unter ähnlichen Umständen in Rußland gesungen wird… Und meistens begleitet gerade die Gitarre solche Sänger
schrieb Lew Kopelew im Jahre 1978 in seiner Erinnerung an Alexander Galitsch.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Durchbruch des Genres Gitarrenlyrik Anfang der 60er Jahre war die „Rehabilitierung“ der Gitarre als Musikinstrument. In der UdSSR der 30er und 40er Jahre war die Gitarre als Symbol des Zigeunertums und der Gaunerwelt offiziell verfemt worden. Die sowjetische Literatur- und Musikkritik tabuisierte Lieder mit Gitarrenbegleitung noch bis zum Ende der 60er Jahre als „kleinbürgerliches Relikt zurückgebliebener Bevölkerungsschichten“. Gegen diese Diffamierung der Gitarrenlyrik wandte sich 1962 als einer der ersten der Dichter Pawel Antokolskij:
Wir wissen sehr wohl um die seltsame Verschwörung des Schweigens über das Liedschaffen Bulat Okudschawas… Dabei muß schon allein der erstaunliche Fakt der Verbreitung dieser Lieder nachdenklich machen. Worin liegt der Grund dieses Erfolges? Man wird doch nicht etwa wieder entgegnen, daß Okudschawas Lieder ausschließlich bei den ,zurückgebliebenen‘ Schichten der sowjetischen Gesellschaft Erfolg haben? Gibt es bei uns etwa so viele zurückgebliebene Schichten? Doch vielleicht beruht der Erfolg von Okudschawas Liedern auf dem verständlichen Bedürfnis der Jugend nach spannungsvoller Lyrik…? Vielleicht berührt Okudschawa, gerade indem er der Dichtung ihren ursprünglichen Charakter zurückgibt, als Dichter, Musiker und Interpret in einer Person die Herzen der Zuhörer so tief?
Die offizielle „Verschwörung des Schweigens“ um die Gitarrenlyrik wurde durch die Tonbandgeräte gebrochen, die man in der UdSSR ab 1960 produzierte. Diese technische Neuerung ermöglichte es, die Gitarrenlyrik unabhängig von der Zensur einer unbegrenzten Anzahl von Hörern zugänglich zu machen. In der Folge dieser „Tonbandrevolution“ entstand der Magnitisdat (Tonbandverlag), der unter Umgehung der sowjetischen Zensur Millionenauflagen produzierte. Über Verlagsprogramm, Höhe und Tempo der Auflagen entschied das Volk selbst. Die Auflage der Tonbandaufnahmen Okudschawas erreichte nach einer Schätzung von Jewgenij Jewtuschenko bereits in den 60er Jahren eine Million, die Tonbandauflage Wyssozkijs in den 70er Jahren mehrere Millionen.
Der Magnitisdat ermöglichte eine viel schnellere und breitere Rezeption, als sie der Samisdat (Selbstverlag) per Schreibmaschine leisten konnte. Neben der rasanten Erhöhung der Hörerzahlen von Gitarrenlyrik fand durch diese technische Reproduzierbarkeit auch ein qualitativer Umschwung statt, hin zu einer diesem Genre gemäßen Aufnahme, die der Gitarrenlyrik zum Durchbruch in der russischen Kultur verhalf – in der Einheit von Text, Musik und Interpretation eines Autors.
Der Autor trat aus seiner Anonymität heraus. Die durch den Magnitisdat Anfang der 60er Jahre ermöglichte Vermittlung der Autorenintonation in der Gitarrenlyrik bildete ein wesentliches Moment ihrer Massenwirksamkeit. Bulat Okudschawa betonte immer wieder die Bedeutung des Magnitisdat für die Verbreitung seiner Lieder:
Im Herbst 1956 entstand bei mir das Bedürfnis, „ins Volk zu gehen“. Ich träumte davon, mich abends auf den Twerskoj Boulevard zu begeben, um dort meine Lieder zu singen. Man sagte mir: „Du bist verrückt, man verhaftet dich!“ Und ich vergaß diese Idee… Und da tauchten die Tonbänder auf: ein glückliches Zusammentreffen der Umstände. Dank ihnen verbreitete sich die Lyrik mit gewaltiger Geschwindigkeit. Hätte es sie nicht gegeben, wären die Verse sicher in Handschriften herumgegangen. Aber wie kann man schriftlich die Gitarrentöne, die Begleitung, wiedergeben? Die Musik festigt die Wirkung der Dichtung, und der Kreis der Interessierten wächst…
Die „Tonbandrevolution“ machte die Gitarrenlyrik in der UdSSR zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Ereignis. Sie veränderte die Struktur der Öffentlichkeit. Die materielle Gewalt dieser „Revolution“ in der Mitte der 60er Jahre beschrieb Jewgenij Jewtuschenko:
Die Jugend stürzte sich auf die Lieder Okudschawas wie auf einen läuternden Quell der Hoffnung. Diese Lieder breiteten sich blitzschnell über das ganze Land aus, obwohl sie noch kein einziges Mal über Radio oder Fernsehen gesendet worden waren. Sie erklangen von Tonbändern in den Wohnungen von Arbeitern, Ingenieuren, Physikern und Lyrikern. Man sang sie zur Gitarre auf Baustellen, in Zügen. Unlängst erinnerte sich der Dichter Boris Slutzkij auf einem Autorenabend Okudschawas, wie er einmal an einem Studentenheim vorbeiging und aus drei verschiedenen Fenstern gleichzeitig drei verschiedene Lieder Okudschawas ertönten.
Okudschawa durfte in der UdSSR nur hin und wieder öffentlich auftreten. Einige seiner Texte wurden offiziell gedruckt. Doch seine erste Schallplatte erschien erst 1976, 20 Jahre nach der Entstehung der Lieder.
Die Gitarrenlyriker Alexander Galitsch (1919–77) und Wladimir Wyssozkij (1938–80) konnten ihre Dichtungen zu Lebzeiten fast ausnahmslos nur über Magnitisdat verbreiten. Der etablierte Dramatiker Galitsch, der sich Anfang der 60er Jahre weigerte, die Hoffnungen des „Tauwetters“ erneut einzufrieren, und zur Gitarre griff, erhielt 1968 nach einem Konzert in Nowosibirsk totales Auftrittsverbot. So wurde der Magnitisdat für ihn zur einzigen Wirkungsmöglichkeit, die er in einem seiner Lieder verewigte:
Kein Parterre, weder Rang noch Logen da,
Kein Claqueur liefert mir den Applaus,
Doch es gibt ein Tonband Marke „Jausa“
Das ist alles!
Aber das reicht völlig aus!1
Galitschs erste sowjetische Schallplatte erschien 1989. Auch Wyssozkij konnte neben einigen inoffiziellen Konzerten und gelegentlichen Liedvorträgen im Rahmen von Aufführungen des Theaters an der Taganka, wo er als Schauspieler tätig war, seine Gitarrenlyrik nur über die Tonbandvervielfältigung verbreiten. Bis zu Wyssozkijs Tod im Jahre 1980 wurde kein einziges seiner Lieder gedruckt oder über öffentliche Medien gesendet.
In den 70er Jahren wirkten Wyssozkijs heisere, dramatische Lieder wie Verzweiflungsschreie, die aus der Erstarrung der Breschnew-Ära herausbrachen:
Man härtet uns im Schnee, im ungewohnten,
Nein, niemandem wird dort was angetan.
Und die Tschetschenen, die bei Grosnyj wohnten,
Durften vom Kaukasus nach Kasachstan.
Sibirien – Paradies für die Barbiere,
Ein Haufen Völker und Verfluchte, man gewinnt
Dort Platz für Häftlinge, für Juden und die Ihren
Und für Basmatschen, die noch nicht vernichtet sind…
Diese Strophen stammen aus dem Lied „Das Leben flog in einem schlechten Auto“. Es entstand 1976–78, als Wyssozkijs Popularität noch die von Okudschawa überstieg, den Wyssozkij stets als seinen Lehrer bezeichnete:
Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal Lieder machen würde. Ich habe immer Gedichte geschrieben, bis ich eines Tages hörte, wie der Dichter Bulat Okudschawa sang, und dieser Augenblick war für mich so etwas wie ein Moment der Erleuchtung. Ich begriff, daß man den Eindruck, die Wirkung der eigenen Verse noch maßgeblich erhöhen kann, wenn man ihnen eine zusätzliche Dimension gibt, eine musikalische Färbung als Mittler, oder zumindest den reinen Rhythmus der Gitarre.
Das Genre Gitarrenlyrik verkörperte in der UdSSR eine starke „Gegenkultur“ zur offiziellen „Staatskultur“. Diese „Gegenkultur“ blieb keinesfalls auf die politische Ebene beschränkt. Das verdeutlichte vor allem die Wirkung der kammerstilartigen Lieder Okudschawas in einer „Staatskultur“-Situation, die Wolf Biermann treffend charakterisierte:
Ich hab Zeiten erlebt, da war grad ein unpolitisch Lied ein garstig Lied. In der Stalinzeit galt ein Lied über eine private Traurigkeit schon als politische Provokation… Selbst als Ulbricht & Co. 1960 widerwillig und halbherzig dem Beispiel des großen Bruders sich beugten, der immerhin schon vier Jahre vorher die stalinistische Entstalinisierung begonnen hatte, war es eine subversive Kühnheit, endlich seinen Bauchnabel zu entdecken.
Biermann schuf einige äußerst eigenwillige und poetisch gelungene Nachdichtungen der Lieder Okudschawas wie die folgende:
Ach, die erste Liebe – macht das Herz noch schwach,
Und die zweite Liebe – weint der ersten nur nach,
Doch die dritte Liebe – schnell den Koffer gepackt,
aaaaaaaaaaaa a aaaschnell den Mantel gesackt,
aaaaaaaaaaaaaaaaa und das Herz splitternackt.
Ach, der erste Krieg – da ist keiner schuld,
Und beim zweiten Krieg – da hat einer schuld,
Doch der dritte Krieg – ist schon meine Schuld,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaist ja meine Schuld,
aaaaaaaaaaaaaaaaaameine Mordsgeduld…
Ach, der erste Verrat – ist aus Schwäche geschehn,
Und beim zweiten Verrat – mußt du morden gehn,
Doch der dritte Verrat – will schon Orden sehn,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaader will Orden sehn,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaund es ist geschehn…
In der DDR wuchsen die jungen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre, die in einer ähnlichen gesellschaftlichen Situation lebten wie die sowjetische Intelligenz, mit den Liedern Bulat Okudschawas auf, spürten stärker als Hörer im Westen die Existentialität dieser Lieder, denen sie oft in Nachdichtungen von Wolf Biermann oder Sarah Kirsch, wie z.B. dem „Mitternachts-Trolleybus“, zum ersten Mal begegneten:
Was tu ich in Moskau, wenn ich traurig bin,
Wenn Verzweiflung mir nachrennt im Dunkel?
Ich geh durch den Regen zum Trolleybus hin,
Dem letzten, dem blauen.
aaaaaEr schaukelt mit mir durch ein Meer von Beton
Und wirft am Boulevard seinen Anker;
Er nimmt jeden auf, bezahlt mit ’nem Bon
den Kummer, den Kummer…
(S. Kirsch)
Die russische Gitarrenlyrik, die von Literaturwissenschaftlern noch 1965 in die „Gegenwartsfolklore“ eingeordnet wurde, „da die Liedautoren in der Regel unbekannt sind“, fand mit Hilfe des Tonbandgerätes den Weg aus der Folklore in die Literatur. Durch den Magnitisdat wurde das Genre Gitarrenlyrik zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Ereignis, das die Öffentlichkeit demokratisierte und emanzipatorische Potenzen freisetzte.
Das Lied eroberte dank dem Tonbandgerät das ganze Land. Erstmalig in der Geschichte sowjetischer Kultur wurde eine Kunst, die offiziell nicht propagiert worden war, keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte, von den Massen aufgenommen und bewahrt.
Doch wie entwickelte sich das Genre nach dem Boom der 60er Jahre? Das Jahr 1968 stellt eine einschneidende Zäsur für die Gitarrenlyrik dar. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in die ČSSR zerstörte die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus. Das im selben Jahr gegen Alexander Galitsch ausgesprochene totale Auftrittsverbot gipfelte 1971 in seinem Ausschluß aus dem Schriftstellerverband. Gegen Okudschawa wurden 1968 vom Schriftstellerverband wegen Unterzeichnung von Protestbriefen Restriktionen verhängt. In der sowjetischen Presse entfachte man eine massive Hetzkampagne gegen die Gitarrenlyrik, insbesondere gegen Wyssozkij.
In den 70er Jahren lebte, diese fast ausschließlich von Wyssozkij. Okudschawa wechselte zur Prosa über. Er schrieb zwischen 1974 und 1982 kein einziges Lied. Galitsch, 1974 zur Ausreise aus der UdSSR gezwungen, starb 1977 in Paris.
Als Wyssozkij 1980 starb, prognostizierte man bereits das Ende der Gitarrenlyrik. Doch die Befürchtungen sollten sich nicht bestätigen. Der frühe Tod Wladimir Wyssozkijs löste eine Erschütterung aus, welche die Dimension der gesellschaftlichen Bedeutung des Genres insbesondere auch im Unterschied zu deutschen Liedermachern oder französischen Chansonniers augenfällig macht. In Moskau versammelten sich hunderttausend Menschen spontan zu Wyssozkijs Begräbnis. Einen ähnlichen Menschenandrang anläßlich einer Beerdigung hatte Moskau zum letzten Mal bei Stalins Begräbnis gesehen.
Diese unerwartete Manifestation des Volkes für seinen Dichter und Sänger brachte einen Prozeß der öffentlichen Anerkennung Wyssozkijs und der Gitarrenlyrik in Gang. Postum erschien sein erster Gedichtband, der die sowjetischen Buchläden nie erreichte. Während des Transports wurde der Eisenbahnwaggon mit Wyssozkij-Büchern abgekoppelt und vollständig ausgeraubt. Doch nicht nur dieser Widerstand „von unten“ bremste den Prozeß der Offizialisierung des Genres. Der Widerstand „von oben“ trug ebenfalls dazu bei. Der Wyssozkij-Band wurde trotz der starken Nachfrage in acht Jahren nur einmal nachgedruckt.
Wichtige Schaffensbereiche, wie die stilisierten Gaunerlieder, blieben tabu. Doch das Genre Gitarrenlyrik erlebte nach 1980 und vor allem mit den Gorbatschowschen Reformen einen neuen Aufschwung. Okudschawa begann nach achtjähriger Pause wieder Lieder zu schreiben und trat mit der Gitarre auf. Im Februar 1986 trug er erstmals öffentlich seine Gedichte und Lieder über die Verbrechen Stalins vor. Protagonist war auch dieses Mal die Generation der 60er Jahre, die „Schestidesjatniki“, in der die Gitarrenlyriker einen zentralen Platz einnahmen. 1988 schrieb Okudschawa über seine Generation:
Es öffnet sich das Tor
nur eine Minute lang,
da trat meine Generation
ihren letzten Feldzug an.
Trat an meine Generation,
verdoppelt die müden Reihn.
Es ist nicht einfach zu gehn,
im Vorgefühl neuen Leids.
Das ist meine Generation,
die keine Fahnen hochhält,
auf den Schulterstücken jedoch
brennen Wagnis, Liebe, Geduld.
Gewitter ziehn drohend heran,
und Tränen und Lachen sind eins.
Alle Marschall und alle Soldat,
ihr aller Schicksal ist meins.
1986 erschien mit 25jähriger Verspätung das erste Plattenalbum von Wyssozkij. 1988 wurde Galitsch in der UdSSR offiziell rehabilitiert und eine erste Schallplatte von ihm produziert. Am Ende der 80er Jahre entwickelte sich die Gitarrenlyrik von einer inoffiziellen zur offiziellen Massenkultur. Aus den einst Verfemten wurden Klassiker, die man in den Staatsverlagen druckte. Sie erhielten hohe staatliche Auszeichnungen, man setzte ihnen Denkmäler und richtete Museen für sie ein.
Eine zweite Generation begabter Gitarrenlyriker, wie Veronika Dolina, Alexander Mirsajan und Wadim Jegorow, trat an. Ihr musikalisches Niveau ist oft sehr hoch, doch die dichterische Qualität der 60er Jahre blieb bisher unerreicht. Im Unterschied zu den Gitarrenlyrikern der 60er Jahre mißt die zweite Generation dem musikalischen Element ebensoviel Bedeutung bei wie dem Text. Die dominante Rolle der Texte in den 60er Jahren erklärt sich teilweise aus dem Brechen gesellschaftlicher Tabus, eine Funktion, die heute weitgehend entfällt.
Mittlerweile hat die Gitarrenlyrik nicht mehr das Sportstadien füllende Massenpublikum der 60er Jahre. „Echte Liebhaber von Dichtung waren niemals sehr zahlreich, es gab einfach nur einen zeitbedingten Boom. Dasselbe gilt für die Gitarrenlyrik. Zunächst war das eine lokale Erscheinung, dann begann ein Wahnsinn, der Tausende von Menschen erfaßte. Dennoch ist der Kern singender Dichter, die das Genre voranbrachten und voranbringen, stets relativ klein geblieben“, schrieb Okudschawa. Auch nachdem 1997 mit ihm der Begründer des Genres starb, wird die Gitarrenlyrik aus der modernen russischen Dichtung genausowenig verschwinden, wie sie aus heiterem Himmel herabfiel. Häufig betrachtete man sie ausschließlich als ein soziokulturelles Phänomen der 60er Jahre, das nach Stalins Tod im Zuge des „Tauwetters“ plötzlich auftauchte. Doch diese gesellschaftlichen Bedingungen wurden, ebenso wie die durch technischen Fortschritt ausgelöste „Tonbandrevolution“, nur zum Katalysator einer Ausprägung der Gitarrenlyrik als Genre.
Traditionell ist die Gitarrenlyrik in der russischen urbanen Kultur und Subkultur fest verankert, und die Liedermacher selbst waren sich dessen stets bewußt. Ihre dichterischen, musikalischen und instrumentalen Quellen, insbesondere im russischen Salon des 19. Jahrhunderts, in der Zigeunerromanze, im sowjetischen Lied des Zweiten Weltkrieges, im Lagerlied und im russischen Gaunersong, sind bereits ausführlich erforscht und dargestellt worden.2
Auch in den Liedtexten, die im vorliegenden Band abgedruckt sind, kommt die Wirkung der genannten Traditionslinien deutlich zum Ausdruck. Die „Zigeunerromanze“ von Galitsch mit ihren in Roma gehaltenen Zitaten eines alten Zigeunerliedes und das nach der gleichnamigen berühmten russischen Zigeunerromanze benannte Lied „Schwarze Augen“ von Wyssozkij, in dessen letzter Zeile die alte Romanze auch zitiert wird, betonten in direkter Weise den Einfluß der russischen Zigeunermusik auf die Liedermacher. Sie rezipierten in der Zigeunerromanze, was schon Franz Liszt an den russischen Zigeunern faszinierte:
Sie akzeptieren keine Dogmen, Gesetze, Regeln und Disziplin in der Musik, ebenso wie im Leben. Sie fürchten keinerlei Risiko in der Musik, wenn sie ihrem mutigen Instinkt folgen.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die siebensaitige Gitarre der Zigeuner in Rußland zu einem Volksinstrument und ersetzte die Klavierbegleitung in der russischen Salonkultur. Außerdem begründeten die Zigeunermusiker im Rußland des 19. Jahrhunderts die Tradition des mit der Gitarre begleiteten emotionalen Solovortrags von Lyrik. Wyssozkij vermittelte seine Identifikation mit der Tradition der Zigeunerromanze insbesondere über die musikalische Interpretation, welche die expressiv-emotionale Vortragsweise der Zigeuner mit freien Variationen in Tempo und Melodie stärker rezipierte als der Vortrag anderer Liedermacher.
Ohne das Moment der Identifikation zu zerstören, parodierte Wyssozkij, wie z.B. in seinem Lied „Schwarze Augen“, zugleich die Klischees des Genres Zigeunerromanze. Das für Wyssozkijs Lieder typische Wechselspiel von Identifikation und Parodie ermöglichte ihm eine ironische Demontage von Klischees und Schablonen, die zugleich das für die Zuhörer so bedeutsame Identifikationsmoment unangetastet ließ. Dieser Wechsel von Identifikation und Parodie bestimmte Wyssozkijs gesamte poetische Auseinandersetzung mit den Traditionen russischer Kultur und Subkultur, so auch seine stilisierten Gaunerlieder.
Die von den russischen Zigeunern ererbte Interpretations- und Improvisationsfreiheit (plötzliche Kulminationen, abrupte Veränderung des Tempos, Intonationswechsel, bis hin zu Deklamation und Replik) ließ einen besonders großen Raum für die Individualität des Interpreten. Diese freie Interpretation der Zigeuner wirkte innerhalb der russischen Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert als Identifikationsmuster mit dem Ideal individueller Freiheit und der rigorosen Ablehnung gesellschaftlicher Normen. Seit dem 19. Jahrhundert galt die Identifikation mit der Zigeunertradition als Ausdruck einer tiefen Entfremdung vom „offiziellen Rußland“.
Dem hier am Beispiel der russischen Zigeunerromanze beschriebenen Rezeptionsmuster entsprach auch die Aufnahme von Gauner- und Lagerliedern durch die russischen Liedermacher. Diese Rezeption des Gaunerliedes (blatnaja pesnja) schloß die Verwendung des Gaunerjargons (blat) ein, dem im Deutschen das „Rotwelsch“ entspricht.
Galitsch verwendete den Gaunerjargon, wie beispielsweise in seinem Lied „Wolken“, vor allem zur literarischen und sozialen Charakterisierung seiner poetischen Figur, Diese trotz Gaunerjargon oder Alltagsrede überwiegende Literarizität stand im Zusammenhang mit der für Galitsch typischen ironisch-intellektuellen Distanz des Autorenstandpunktes.
Bei Wyssozkij hingegen implizierte der Blat, ähnlich wie die „Zigeunerromanze“, ein starkes, nur teilweise parodistisch gebrochenes Moment der Identifikation mit dem anarchischen Individualismus der Kriminellen. Diese spezifische Verbindung von Jargon und Literatur unterscheidet Wyssozkij von den anderen russischen Liedermachern. Als eine Entsprechung in der westeuropäischen Lyrik könnte man die Dichtung des französischen Barden François Villon nennen. In Villons Liedern wirkte der Gaunerjargon als ein poetisches Mittel des Protestes gegen die Phrasen und das verlogene Pathos der Feudalgesellschaft des 15. Jahrhunderts. Ähnlich wie Villon diente Wyssozkij das emotionale Potential des Blat als Quelle einer unsentimentalen, frischen Sprache, als poetische Form zum Aufbrechen verkrusteter, offizieller Sprachschablonen und ideologischer Phrasen.
Der Gaunerjargon, als Sprache von Außenseitern, setzt in seiner poetischen Funktion Anarchie und Phantasie gegen den autoritären Staat, gegen Dogmen und Macht. Ähnlich der Rezeptionsweise der Zigeunerromanze, steht neben Wyssozkijs Identifikation mit der Welt des Blat zugleich das ironische Spiel mit den Klischees der russischen Gaunerfolklore und ihre Parodie. Dieses poetische Verfahren zeigt sich auch in dem stilisierten Gaunerlied „Der Spitzel“. Hier parodiert Wyssozkij beispielsweise für die russischen Gaunerlieder typische Sprachschablonen, zu denen unter anderem die poetischen Vergleiche – „Gefängnis – kalt wie ein Grab und finster wie die Nacht“ gehören:
Dann – die Baracke, kalt wie ein Grab,
Mir schien als wäre ringsum nichts als Nacht,
Um so mehr, als es auch so war.
Ähnliche Parodien finden sich auch in den Liedern von Galitsch, in denen dieser gleichfalls den Gaunerjargon als poetisches Mittel einsetzte. Im Unterschied zu Wyssozkij, dessen Parodien eher komische Effekte hervorrufen, ohne das Moment der Identifikation mit seinen „Helden“ zu zerstören, betont Galitsch stets die ironische Distanz des Intellektuellen. Diese ironische Distanz des Autors führt Galitsch häufig bis zur sarkastischen Karikatur seiner Figuren. So in seinem ebenfalls mit Gaunerjargon versetzten Lied „Wolken“, in dem Galitsch die physische und moralische Degeneration eines ehemaligen Lagerhäftlings vorführt. Wyssozkij hingegen identifiziert sich in seinem an der Lagerfolklore geschulten Lied „Weißes Dampfbad“ mit der Figur des ehemaligen Lagerhäftlings, einem naiven russischen Bauern, der verzweifelt versucht, seine Irrtümer emotional zu bewältigen.
Die Verarbeitung von Gaunerliedern bei Wyssozkij und Galitsch steht im Zusammenhang mit der in den 50er Jahren einsetzenden Rezeption des Blat durch die sowjetische Intelligenzija. Hierbei handelt es sich um ein einzigartiges Massenphänomen der Verflechtung von hoher Kultur und Subkultur. Dieser starke Einfluß des Gaunerjargons auf die häusliche und literarische Kultur der Intelligenzija resultiert jedoch nicht nur aus deren engem Kontakt mit den Kriminellen in den Stalinschen Lagern.
Die Identifikation Wyssozkijs und großer Teile der Intelligenzija mit dem der Gaunerfolklore eigenen Streben nach anarchischer Freiheit und Unabhängigkeit erinnert an die oben beschriebene Rolle der russischen Zigeunerromanze im 19. Jahrhundert. Die Bedeutung von Zigeunerromanze und Gaunerlied innerhalb der russischen Kultur beruht auf den traditionell „absolutistischen“ Gesellschaftsstrukturen und der spezifischen Rolle der russischen Intelligenz.
Die dieser spezifischen Funktion adäquate Rezeption der genannten Traditionslinien förderte die Entwicklung der russischen Gitarrenlyrik zu einem massenkulturellen Phänomen.
Im Schaffen der russischen Liedermacher sind Zigeunerromanze und Gaunerlied eng verbunden mit einer weiteren Traditionslinie – dem Volkslied. Das folgt daraus, daß den Interpretationen der russischen Zigeuner fast ausschließlich Volkslieder zugrunde lagen. Auch die Gaunerlieder stellten neben Bearbeitungen literarischer Vorlagen häufig Variationen von Volksliedern dar. Motive, Sujets, Metaphern und Melodien aus der russischen Folklore, u.a. auch der Soldatenfolklore, prägten oft auch über die stark folkloristischen sowjetischen Lieder des Zweiten Weltkrieges besonders das Schaffen Wyssozkijs und Okudschawas. Im vorliegenden Band zeigt sich das am stärksten in Okudschawas Liedern „Nächtliches Gespräch“ und „Über Wolodja Wyssozkij“.
Grundsätzlich äußert sich in Okudschawas Texten, die insgesamt eine stärkere Literarizität aufweisen als die Lieder Galitschs und vor allem Wyssozkijs, besonders der Einfluß der literarischen Romanze. Hier sei nur an seine Lieder „Ich muß jemanden anbeten…“, „Mitternachts-Trolleybus“ oder „Lied vom Arbat“ erinnert. Außerdem finden sich in den Texten und Melodien Okudschawas, z.B. in dem Lied „Wanka Morosow“, starke Einflüsse der städtischen Alltagskultur. insbesondere der „Stadtromanze“ (gorodskoj romans). Dieses Genre breitete sich in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus und erlebte in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Kindheits- und Jugendzeit Okudschawas, eine neue Blüte.
Im Unterschied zu den häufig balladenhaften Liedern, Dialogen und Rollenspielen von Wyssozkij und Galitsch existieren in den lyrischen Liedern Okudschawas, deren lyrischer Held fast immer autobiographische Züge trägt, meistens weder ein Sujet noch dramatische Elemente. In den Liedern Wyssozkijs und Galitschs fand deren Tätigkeit als Schauspieler bzw. Dramatiker und Regisseur einen deutlichen Niederschlag, während Okudschawa vor allem Literat war, der neben seinen Liedern und Gedichten auch zahlreiche Erzählungen und Romane verfaßte.
Heute ist die Gitarrenlyrik aus der modernen russischen Dichtung nicht mehr wegzudenken. Sie stirbt ebensowenig aus wie die russische Lyrik insgesamt, nur weil sie nicht mehr das Massenpublikum der 60er Jahre hat. Sie ist ein literarisches Genre, in dem wie nirgends sonst die Traditionen russischer Kultur und Subkultur sowie das Alltagsdenken des russischen Volkes im 20. Jahrhundert aufbewahrt wird. Die Liedermacher haben, wie der Schriftsteller Jurij Trifonow einmal über Wyssozkij sagte, „die russische Mentalität in ihrer ganzen Breite ausgedrückt, […] vom Wissenschaftler bis zum Kriminellen“.
Katja Lebedewa, Nachwort
waren über Jahrzehnte die tragenden Stimmen im Chor der russischen Liedermacher und Volkssänger. Ihre selbst verfaßten politisch brisanten und oft verbotenen Lieder liefen in geheimen Tonbandaufnahmen durchs Land. Sie waren in der Sowjetunion und sind im heutigen Rußland populärer als die irgendeines Liedermachers im Westen. Hier sprechen die Texte für sich.
Philipp Reclam jun., Klappentext, 2000
Die Texte sind gut ausgewählt,was mit Sicherheit nicht so einfach war – es sind ja Hunderte von Liedern. Das Nachwort ist hervorragend, nicht nur für „Frischlinge“, sondern auch für später geborene Muttersprachler, denen die Entstehungsgeschichte sowie die meisten Assoziationen fremd und daher unverständlich sein dürften.
Sehr gestört hat mich die Übersetzung: sie zeugt an vielen Stellen von mangelnder Sprachkenntnis! So wird aus der neutralen Putzfrau eine stark negativ besetzte Klofrau, oder роман, wird zwar korrekt Romanze / i.S.Affäre/ übersetzt, der nachfolgende Satz beginnt aber mit ER wie im Original statt mit SIE wie es korrekt wäre, danach erschließt sich der Sinn nicht. Solche „Perlen“ finden sich über das ganze Büchlein verteilt.
Wer gar nicht oder nur sehr eingeschränkt Russisch beherrscht und auf die Übersetzung direkt angewiesen ist, sollte lieber die Finger hiervon lassen, es gibt zum Thema deutlich Besseres – zweisprachig mit Nachdichtungen und Noten.
Dieter Hoffmann: Der Krieg als Verrat am Selbst. Antikriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik
Heinrich Pfandl: Wladimir Wyssozki
dekoder.org, 24.7.2020
Reinhard Lauterbach: Pathos der Bescheidenheit
jungeWelt, 29.7.2020
Wladimir Semjonowitsch Wyssozkis letztes Konzert. 1980.
Alina Fuchs: Im Krieg verbrennen
junge Welt, 8.5.2024
Irmtraud Gutschke: Bulat Okudschawa: Eine Trauer, eine Sehnsucht
nd, 7.5.2024
Katja Lebedewa: Die Tonbandrevolution des russischen Pazifisten Bulat Okudschawa
Berliner Zeitung, 8.5.2024
Ludwig Hartmann: Stiller Poet
NDR, 12.4.2024
Konzert von Ekkehard Maaß und Buchvorstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Bulat Okudschawa am 9. Mai 2024 in der Zionskirche am 7.4.2024
Bulat Schalwowitsch Okudschawa – Konzert in Brno am 27.10.1995
Alexander Arkadjewitsch Galitsch – In Erinnerung an Boris Pasternak.
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