Seamus Heaney: Tod eines Naturforschers

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Seamus Heaney: Tod eines Naturforschers

Heaney/Binchy-Tod eines Naturforschers

FRANZISKUS UND DIE VÖGEL

Als Franz die Liebe predigte den Vögeln,
Lauschten sie, flatterten, flogen auf und rund
Ins Blaue wie ein Schwarm Vokabeln.

Zum Spaß entlassen aus seinem heiligen Mund.
Kehrten zurück, umschwirrten seine Wangen,
Pirouettierten auf manchem Mönchsgewand,

Tanzten im Flug, spielten vor Glück und sangen,
Verschwanden endlich, wie ein Traum entweicht.
Und nie ist Franz ein besseres Lied gelungen:

Inhaltlich wahr, dem Ton nach leicht.

 

 

 

Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises

an Seamus Heaney

Jedes Jahr zur Herbstzeit werden in Stockholm die Nobelpreisträger bekanntgegeben. Bereits am 5. Oktober stand dieses Mal der Nobelpreis für Literatur fest. Wie immer trat der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Sture Allen, um Punkt 13:00 Uhr vor wartende Journalisten und Publikum und verkündete, daß der Geehrte dieses Jahres Seamus Heaney heiße.

Zum Zeitpunkt der Verkündigung des Preises befand sich der irische Lyriker Seamus Heaney auf Urlaub im Hotel Karalis Beach in Pylos, einem griechischen Ferienort an der Westküste der Halbinsel Peloponnes. Schon der griechische Dichter Homer kannte diesen Ort als Sitz des weisen Königs Nestor. Kaum war der Name des Literaturnobelpreisträgers bekannt, begann auch die Jagd der Medien zwischen den griechischen Inseln. Man fand Heaney endlich durch seinen Sohn Christopher, als er sich gewohnheitsmäßig per Telefon meldete:

− Hast Du schon gehört? fragt der Sohn.
− Nein.
− Du hast den Nobelpreis bekommen!
− Nein, nein, nein! antwortet ein völlig überraschter und ziemlich verwirrter Poet, der dies kaum glauben kann.

Das Hotelpersonal ließ es sich natürlich nicht nehmen, die illustren Gäste mit einer Flasche Champagner zu feiern. Am nächsten Tag beschloß Heaney, seine Semesterferien abzubrechen und nach Hause zu fahren.

Der griechischen Tageszeitung Ethnos lykades gelang es, die erste öffentliche Stellungnahme von Heaney zu erhalten. Der Frischgekürte schien immer noch etwas benommen, als er dem Reporter erklärte:

Der Nobelpreis ist eine schwere Last. Er bringt einerseits außerordentliches Anerkennen – das größte überhaupt −, aber er jagt einem auch einen Schrecken ein angesichts der kommenden Arbeit. Mein Leben wird sich zweifellos verändern… das einzige, wovor ich Angst habe, ist die innere, die psychologische Veränderung, die der Preis mit sich führen könnte. Aber ich werde es überwinden.

Dies klang ganz anders als etwa der Kommentar Isaac Singers, der 1978 den Nobelpreis erhielt, und dessen Worte eher wie die eines Philosophen lauteten:

Ich denke so: Ich habe den Nobelpreis bekommen, aber ich hätte ihn genauso gut nicht bekommen können. Ich bin nach wie vor derselbe und gehe meinen eigenen Weg… Nicht einmal für den Nobelpreis kann ich mir zwei Schreibmaschinen mit Jiddischtasten anschaffen, fügte er schalkhaft hinzu.

Bei seiner Rückkehr nach Irland, zwei Tage später, fand Heaney dann schon andere Worte. Irlands Zeitung Irish Independent titelte: „Die Millionen-Ehren werden meinen Lebensstil nicht ändern, erklärt der Dichter“. Sowohl er selbst wie auch seine Frau Marie seien zunächst schockiert gewesen über die Nachricht, aber die weltweite Anerkennung und das Wohlwollen hätten sie bald beruhigt. Stolz und Freude seien bald stärker gewesen als alle Bedenken, meinte Marie Heaney. Die Begrüßung in Irland war denn auch herzlich. Selbst die Präsidentin Mary Robinson empfing den Nobelpreisträger persönlich – mit einem Kuß – und mit den Worten:

Es ist mir eine große Freude, einen Nobelpreisträger begrüßen zu dürfen, eine Freude, die das ganze irische Volk mit mir teilt. Es freut uns besonders, daß Ihr Beitrag zu irischer und Weltliteratur die höchste Anerkennung erhalten hat. Mein Wunsch ist es, daß sie nicht Last sondern Befreiung für Sie werde.

Die Kultur Irlands zählt zu den ältesten Kulturen Nordeuropas. Und mit seinen fünf Millionen Einwohnern ist Irland einer der kleinsten Staaten in Europa. Woran liegt es, daß dieses Land in der Geschichte des Nobelpreises statistisch gesehen am meisten Literaturnobelpreisträger hervorgebracht hat? Über diese Frage haben sich viele Literaturkritiker bisher den Kopf zerbrochen. Denn mit dem diesjährigen Preisträger sind es vier Nobellaureaten in Literatur, die aus Irland stammen: William Butler Yeats (1923), George Bernard Shaw (1925), Samuel Beckett (1969) und Seamus Heaney. – Die Antwort zu diesem Thema gibt wohl der Literaturpofessor Maurice Harmon:

… eigentlich gibt es dafür keine schlüssige Erklärung. Daß es sich um ein kleines Land handelt, kann der Grund nicht sein… Irland ist weder mit natürlichen Ressourcen noch mit materiellen Gütern gesegnet und hat sich nie als politische Macht bewiesen; als literarische Domäne jedoch genießt es Weltgeltung. Dieser Teil der irischen Geschichte schreibt sich fort in Seamus Heaneys Werk.

Die Schwedische Akademie ihrerseits nannte als Begründung für die Wahl von Seamus Heaney:

… für ein Werk von lyrischer Schönheit und ethischer Tiefe, das die Wunder des Alltags und die lebendige Vergangenheit hervorhebt.

Selten wurde die Wahl der Schwedischen Akademie so einheitlich positiv aufgenommen von der internationalen Presse. Heaney schien allen zu behagen und die Erwartungen eines Literaturnobelpreisträgers rundherum zu erfüllen. Natürlich hatte seine unkomplizierte Art, mit der er sich dem Publikum seit jeher zeigte, viel zur allgemeinen Sympathie beigetragen. Sei es, daß er rotwangig, mit Parka und schlammigen Stiefeln auf den Umschlägen seiner Gedichtbände abgebildet war, sei es, daß er im Fernsehen auf Besuch bei seinem Bruder im Kuhstall vor das Publikum trat – er gab sich nicht als der elitäre Poet, den niemand verstehen sollte. Im Gegenteil, er gehört auf den britischen Inseln (und dies als katholischer Ire!) längst zu den Bestsellerautoren. Heaney liest man, Heaney kennt man. „Heaney the famous“, heißt es mitunter sogar.
„Endlich ein Poet, der Austern ißt und die Welt sieht“, so prosaisch sieht es Magnus Ringgren in der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet. Und die Neue Zürcher Zeitung doppelt nach: „Eine populärere Entscheidung, zumindest was den englischen Sprachraum angeht, konnte das Komitee der Schwedischen Akademie mit seiner Wahl kaum treffen.“ Auch Paul Ingendaay lobt die Wahl des Nobelkomitees ohne Einschränkung: „Vielmehr kann man der Entscheidung der Stockholmer Akademie ein hervorragendes Gespür für die Bedeutung des Lokalen wie auch für den internationalen dichterischen Standard bescheinigen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Auf die üblichen Fragen von Journalisten, was er mit der Million nun zu tun gedenke, antwortete Heaney zurückhaltend: nein, er sei nicht der Typ der Villa in Südfrankreich; er wünsche sich eher die Freiheit, sich weniger sorgen zu müssen, oder mehr tagträumen zu dürfen… Er gab auch zu, daß er tatsächlich völlig überrascht gewesen sei, als er den Preis bekommen habe. Er hatte sich nicht für einen ernst zu nehmenden Kandidaten gehalten. Es war ihm sogar eher lästig gewesen, daß man ihn in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte und er glaubte, solche Prognosen würden von jemandem inszeniert. Ja, er verhielt sich geradezu höchst skeptisch Namen gegenüber, die immer wieder als Nobelpreiskandidaten herumgereicht wurden.
Heaney hofft, auch nach der Verleihung des Preises nicht anders als vorher gelesen zu werden, nämlich als Dichter und nicht vor allem als Nobelpreisträger. Gerade diese Einstellung bewundert er besonders an Joseph Brodsky, daß dieser seine Freiheit und Bescheidenheit nie abgelegt hat, eine „Was-zum-Teufel-Haltung“ in seinem Leben wie auch in seinen Gedichten, so berichtet die Irish Times in einem Interview.

Die meisten Zeitungskommentare würdigen allem voran Heaneys wichtige Stellung als Dichter in Nordirland: „Seamus Heaney ist der bekannteste von den Poeten in Nordirland. Man darf aber den großen Kreis von Schriftstellern in seiner unmittelbaren Nähe, der sich zur Belfast-Schule bekennt, nicht vergessen. Ein Nobelpreis für Heaney ist auch eine Auszeichnung für sie: Ciaran Carson, Michael Longley, Derek Mahon, Tom Paulin, John Montague, Medoc McGuckian, James Simmons und andere. Dieser Kreis hat das intellektuelle und künstlerische Gespräch in Gang gehalten und sich ein Vierteljahrhundert über religiöse und soziale Grenzen hinweggesetzt. Vielleicht hat das sogar zu den Friedensaussichten bcigetragen.“ (Aftonbladet) Ähnliche Worte findet der Kommentator der Neuen Zürcher Zeitung: „Schon oft hat es eines Iren bedurft, der britischen Literatur zu neuer Kraft zu verhelfen: Yeats, Shaw, Joyce und Beckett sind die großen Beispiele. Die derzeitige Phalanx (nord)irischer Lyriker – Longley, Muldoon, Mahon, Paulin, Bolland und allen voran der nun gekürte Nobelpreisträger − ist angetreten, der Lyrik neue Wege zu weisen.“
Unterschiedlich dagegen wurde Irlands politischer Hintergrund in Heaneys Dichtung gewertet. Die größte Tageszeitung Schwedens, Expressen, zitiert dazu Heaneys eigene Worte:

Es gibt nichts Einzigartiges in der Herausforderung, in zwei Identitäten zu leben. Mein irisches Gefühl wurde vielleicht irritiert, aber es hat keinen Schaden genommen, dadurch daß ich innerhalb einer Minorität in Nordirland aufwuchs und mit der dominierenden britischen Kultur erzogen wurde. Meine Identität wurde eher gestärkt als ausgehöhlt, da ich mich unter diesen Umständen besser behaupten konnte.

Mit dem Thema des politischen Engagements in der Dichtung befaßt sich exemplarisch Paul Ingendaay im Anschluß an die Veröffentlichung der Nobelrede. In bezug auf Heaneys „inneren Rückzug“ anläßlich der politischen Lage in Nordirland verweist er auf andere Schriftsteller:

Solche rückwärtsgerichtete Suche läßt sich bei den meisten irischen Dichtern des Jahrhunderts nachweisen… Bis heute ist irischen Schriftstellern zur Lage des geteilten Landes nicht viel eingefallen – außer Dichtung.

Und später:

… Kunst, als Trösterin auch Heaney suspekt, bleibt der einzige Bereich, über den irische Schriftsteller frei zu sprechen wagen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Seamus Heaney kam am 5. Dezember zusammen mit seiner Frau Marie nach Stockholm zu den Feierlichkeiten der Preisverleihung. Unter den Nobelpreisträgern nehmen die Literaten immer eine Sonderstellung ein. Sie sind stets die meist gefragten Interviewobjekte. Und da machte auch Heaney keine Ausnahme. Zunächst galt es allerdings, die allgemeine Verwirrung der Journalisten zu klären: „Schääjmus Hiini“, so werde sein Name ausgesprochen, meinte der Nobelpreisträger mit lachendem Gesicht.
Bereits zwei Tage nach seiner Ankunft in Stockholm, am 7. Dezember, war für Seamus Heaney der erste große Höhepunkt angesagt. In der bis zum letzten Platz besetzten Aula der Universität hielt er seinen mit Spannung erwarteten Vortrag, die Nobelrede. Heaney fesselte seine Zuhörer über eine Stunde lang mit dem Thema über das Verdienst der Dichtkunst. Er schilderte darin nicht nur, wie er selbst zum Dichter wurde und was Dichtung für ihn persönlich bedeutet; seine Nobelrede war das Bekenntnis des Dichters zu seiner Kunst, eine Hommage an das, was sie vermag oder auch gerade nicht, dies alles vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Jahrhunderts, der besonderen Geschichte Irlands, faszinierend illustriert durch Mythen und Legenden dieses kleinen Inselstaates.
Wie seine Vorgänger, die Nobelpreisträger Joseph Brodsky, Derek Walcott und Kenzaburô Ôe, nahm auch Heaney die Gelegenheit wahr, auf der „Estrade der Poeten“ – so heißt eine beliebte Bühne in Stockholm eigene Gedichte vor einem breiteren Publikum zu rezitieren. Mosebacke Etablissement, wie der Ort auch genannt wird, hat eine lange literarische Tradition. Schon der Dichter August Strindberg erwähnt ihn in seinem Roman Das rote Zimmer (1879).

Am 10. Dezember war es dann endlich soweit: die Preisverleihung im Börsensaal der Schwedischen Akademie war angesagt. Zusammen mit den vier anderen Laureaten – der Friedensnobelpreis wird jeweils später in Oslo verliehen – durfte Heaney den Preis im Wert von 7.2 Millionen Schwedischer Kronen aus der Hand König Gustavs XVI. empfangen. Heaney schien ein wenig geniert im großen Augenblick, er wackelte auf den Absätzen, als würde er noch immer nicht glauben, daß er den Preis verdient hätte. Dann aber lächelte er mit beherrschter Selbstdisziplin, sich sichtlich freuend, als er den lebhaften Applaus des Publikums entgegennahm.
Auf dem nachfolgenden Nobelfest schien sich Heaney ausgezeichnet zu unterhalten. Als nun ihn fragte, was er von dem großen Spektakel halte, antwortete er:

Es war besser und viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war fast wie ein Einweihungsritus. Nachher ist man nicht mehr derselbe. Das ganze ist zu einer wunderschönen Erinnerung verwandelt worden.

Mit dem 13. Dezember, dem Tag der Heiligen Lucia, finden die Nobelfeierlichkeiten ihr Ende. Dieser Tag wird in Schweden auf ganz besondere Art gefeiert: Schon um 7:00 Uhr früh klopfte es an der Türe des Hotelzimmers von Seamus und Marie Heaney und herein schwebten Lucia und ihre Gefährtinnen mit Kerzen im Haar, fröhlich das Lied der „Sancta Lucia“ singend. Hoch erfreut blinzelte Heaney dazu und meinte: „Der Tag der Lucia ist mir wirklich ein Vergnügen!“

Hans Meyer

Verleihungsrede

anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Seamus Heaney

Ihre Majestät, Königliche Hoheit, meine Damen und Herren!

Der irische Dichter Seamus Heaney wurde in der Grafschaft Derry in Nordirland geboren. Das strohgedeckte Bauernhaus, in dem er aufwuchs, hieß Mossbawn – ein Name, der mythisch geworden ist in Heaneys Dichtung. Ein Ort, der in Heaneys Dichtung immer wieder vorkommt seit seinem Debüt im Jahre 1966 mit Tod eines Naturforschers bis Gesichtetes, dem neuesten Gedichtband, der 1991 erschien. Als Beispiel von Heaneys Themenwahl und seines Stils möchte ich die ersten Zeilen des Gedichts „Ein Schluck Wasser“ aus dem Band Field Work zitieren:

Jeden Morgen kam sie Wasser holen,
Wie eine alte Fledermaus, taumelnd übers Feld:
Der Keuchhusten der Pumpe und das Eimerklappern,
Das beim Füllen langsam leiser wurde,
Verrieten sie.

Es ist nicht die pastorale Idylle, die Seamus Heaney heraufbeschwört, sondern vielmehr die mühselige Lethargie des grauen Alltags. Wie Wordsworth versteht auch er, jedes menschliche Wesen als „ein Kind der Erde“ zu beschreiben. Für ihn ist Dichtung, wie der Boden, offensichtlich etwas, das gepflügt und umgedreht wird.
Als Dichter hat er wenig Zeit für die „Grüne Insel“ der Touristenprospekte. Für ihn ist Irland zuerst und vor allem das Moorland. Heaney sieht die Torfmoore als Symbol für Irlands Identität, gerade so wie die Kartoffel – so wie diese an das Leiden während der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts erinnert.
Die Torfmoore evozieren auch auf ihre besondere Art das Gefühl von der Vergangenheit. Eines der eindrücklichsten Gedichte Heaneys erzählt sein Erleben des Mannes von Tollund aus der Eisenzeit, dessen Leiche in einem Torfmoor in Jütland konserviert war. In dieser Gestalt beschwört Heaney, brutal und ergreifend, eine Kultur, die sowohl fremd als auch vertraut ist, einen unverkennbaren Gegenstand von Opferritualen, in der Moorlandschaft erstickte menschliche Stimmen.
Das Wasser in den Torfmooren, überhaupt Wasser, assoziiert Heaney mit dem weiblichen, dem gälischen, dem katholischen, dem kreativen Element in seiner Natur. All dies gründet tief im Wesen des Dichters, in seiner behüteten Kindheit – so wie sie war -, die nicht von der weltlichen „britischen“ Erziehung oder den bitteren Erfahrungen der Wirren, dem Konflikt in Ulster, Überschattet wurde. In diesem Kontext muß man sagen, daß Seamus Heaney Realität nie auf den Stoff politischer Schlagwörter reduziert, er schreibt über das Schicksal von Individuen, von persönlichen Freunden, die von der kopflosen Gewalt getroffen wurden im Hintergrund ist irgendwo Dante, der das Transzendentale vor das Politische spannen konnte.
Heaney ist auch der akademischen Welt verbunden. Er unterrichtete in Belfast und Dublin, war Professor für Dichtkunst in Oxford, und seit 1982 lehrt er Rhetorik an der Harvard Universität in den Vereinigten Staaten.
Seamus Heaney kommt aus einer bescheidenen Bauerngemeinschaft, aber zugleich erkennen wir in ihm einen gelehrten Dichter, der im Mikrokosmos der Sprache das literarische Erbe des Keltischen, Vorchristlichen und Katholischen pflegt und offenbart. Er tut dies in seiner Dichtung und in fünf Sammlungen von besonders lesenswerten Essays, darunter Die Herrschaft der Sprache (1968), Der Ort zu Schreiben (1989) und Verteidigung der Poesie – der letzte Band erschien in diesem Jahr und enthält die Oxforder Vorlesungen.
In seinen Essays und Betrachtungen benennt Heaney auch die poetischen Wendepunkte, die aus der Begegnung mit bemerkenswerten Dichtern entstehen: mit britischen, irischen, amerikanischen und europäischen – nicht selten im Geist der Grundsätze seines Landsmannes und großen Vorläufers Patrick Kavanagh: das Lokale kann das Universale artikulieren… Gott ist in den kleinen Kostproben des Alltags.

Lieber Seamus Heaney,
ich habe den Gästen soeben ein paar „kleine Kostproben“ von Realität und Symbol in Ihren Gedichten gegeben. Lassen Sie mich nun Ihre eigene Erklärung von der Unabhängigkeit in Erinnerung rufen – daß Dichtung nie auf einen politischen, historischen oder moralischen Zweck reduziert werden kann. Im äußersten Fall ist Dichtung ihre eigene Realität. Seit dem Tod eines Naturforschers habe ich die Art und Weise bewundert, mit der Sie den Systematikern den Rücken zudrehen, um stattdessen dichterische Kreativität als einen freien, natürlichen, biologischen Vorgang zu verteidigen. Wir alle bewundern, wie Sie Bilder und Rhythmen entstehen lassen und formen, wir sind beglückt von Ihrer Suche nach heiligen Quellen und dem plötzlichen Hervorsprudeln von Schönheit. Es ist mir eine Freude, Ihnen im Namen der Schwedischen Akademie unsere herzlichsten Glückwünsche mit dem Nobelpreis für Literatur von 1995 zu überbringen und ich lade Sie ein, den Preis aus der Hand Seiner Majestät des Königs zu empfangen.

Östen Sjöstrand, 10.12.1995

Dank an die Poesie

– Nobelpreisrede 1995 –

ALS ICH ERSTMALS im Leben auf den Namen Stockholm stieß, glaubte ich kaum, diese Stadt je zu besuchen, schon gar nicht als willkommen geheißener Gast der Schwedischen Akademie und der Nobelstiftung. Zu jener Zeit lag so etwas nicht nur außerhalb meiner Erwartung, sondern jenseits meiner Vorstellungskraft. In den vierziger Jahren war ich das älteste Kind einer immerzu wachsenden Familie in der ländlichen Grafschaft Derry. Wir drängten uns in den drei Räumen eines herkömmlich strohgedeckten Bauernhauses und lebten eine Art geistig und gefühlsmäßig gegen die Außenwelt abgeschirmtes Höhlenleben. Es war ein inniges, körperliches, kreatürliches Dasein, in welchem die nächtlichen Laute des Pferdes hinter der einen Schlafstubenwand sich mit den Küchengesprächen der Erwachsenen jenseits der anderen mischten. Natürlich sogen wir alles auf, was wir wahrnahmen – den Regen in den Bäumen, die Mäuse oberhalb der Zimmerdecke, den Dampfzug, der nur eine Feldbreite hinterm Haus vorüberrumpelte – aber wir taten es dösend, wie im Winterschlaf. Ahistorisch, vorgeschlechtlich, schwebend zwischen dem Archaischen und dem Modernen, waren wir empfänglich und beeindruckbar wie das Trinkwasser im Eimer unserer Spülküche: jedesmal, wenn ein vorbeifahrender Zug die Erde erschütterte, kräuselte sich die Wasseroberfläche, konzentrisch und in völliger Stille.
Aber nicht nur die Erde erbebte: die Luft um und über uns lebte gleichfalls und gab uns Zeichen. Wenn der Wind sich regte in den Buchen, bewegte er zugleich einen Antennendraht, der am obersten Ast der Kastanie befestigt war. Abwärts führte er durch ein in die Ecke des Küchenfensters gebohrtes Loch geradewegs in die Eingeweide unseres Rundfunkempfängers, in welchem ein kleines Pandämonium von Gurgeln und Pfeifen urplötzlich der Stimme des BBC-Nachrichtensprechers wich wie einem Deus ex machina. Auch diese Stimme konnten wir in unserem Schlafraum vernehmen, wie sie hinter und unter den Stimmen der Erwachsenen in der Küche hindurchdrang; so wie wir oft, durch sämtliche Stimmen, die hektischen, durchdringenden Zeichen des Morsealphabets hörten.
Aufschnappen konnten wir die im lokalen Akzent unserer Eltern ausgesprochenen Namen der Nachbarn, und im sonoren Englisch der Nachrichtensprecher die Namen der Bomber und bombardierten Städte, der Frontlinien und Divisionen, die Zahl der eingebüßten Maschinen und gemachten Gefangenen, der erlittenen Verluste und erzielten Geländegewinne; und selbstredend erhaschten wir immer auch jene anderen, ernsten und seltsam straffenden Worte wie „der Feind“ und „die Alliierten“. Gleichwie, keine der Nachrichten von diesen Weltkrämpfen erfüllte mich mit Schrecken. Schwang in den Nachrichtentönen etwas Unheilvolles, traf es auf unseren Stumpfsinn, der nur schwer begriff, was auf dem Spiel stand. Mag da und damals so viel politische Unwissenheit auch sträflich gewesen sein, erzeugte sie wenigstens jenes Gefühl der Sicherheit, in dem ich mich wiegte.
Mit anderen Worten, die Kriegszeit war für mich eine Zeit vor jeglichem Nachdenken. Auch vor-literarisch. Und auf ihre Weise vor-geschichtlich. Als ich dann mit den Jahren anfing, bewußter hinzuhören, erklomm ich immer wieder eine Armlehne unseres großen Sofas, um mit meinem Ohr dichter an den Lautsprecher heranzukommen. Es waren aber noch immer nicht die Nachrichten, die mich interessierten. Worauf ich aus war, das war der Nervenkitzel von Geschichten wie jener Detektivserie über einen englischen Spezialagenten namens Dick Barton oder die Funkfassung von Captain W.E. Johns Abenteuergeschichten über Biggles, den Meisterflieger der Königlich Britischen Luftwaffe. Als die Geschwister heranwuchsen, wurde es in der Küche so turbulent, daß ich näher an das Radio heranrücken mußte. Und in dieser angespannten Nähe zur Senderskala wurden mir die Namen ausländischer Stationen wie Leipzig und Oslo, Stuttgart und Warschau, und natürlich Stockholm vertraut.
Auch gewöhnte ich mich an die kurzen Eruptionen fremder Sprachen, wenn der Zeiger von der BBC zum Irischen Rundfunk, vom Londoner Tonfall zu dem Dublins schwenkte. Und selbst wenn ich nicht verstand, was in jenen ersten Begegnungen mit den Kehl- und Zischlauten europäischen Sprechens gesagt wurde, hatte ich bereits eine Reise in die Weite der Welt angetreten. Diese wiederum geriet zu einer Reise in die Weite der Sprache, eine Reise, bei der jede Ankunft – sei es in der Dichtung oder im Leben – sich mehr als ein Meilenstein denn als ein Zielpunkt erwies. Und es ist diese Reise, die mich nun an diesen ehrenvollen Ort gebracht hat. Doch gleicht unser Podium hier weniger einem Meilenstein oder Sprungbrett als einer Raumstation, so daß ich mir einmal in meinem Leben den Luxus gestatte, im siebten Himmel zu schweben.

Der Poesie verdanke ich, daß sie mir diesen Raumspaziergang ermöglicht bat. Und das ganz direkt durch eine Zeile, die ich unlängst schrieb und in der ich mich (und jeden, der mir zuhören mochte) anhielt, „wider bessres Wissen auf Wolken zu wandeln.“ Letztlich aber danke ich ihn ihr doch, weil sie, die Poesie, eine Ordnung schaffen kann, so realistisch im Hinblick auf den Einfluß des Äußeren und so sensibel gegenüber den inneren Gesetzen der dichterischen Existenz wie jene winzigen Wellen, die vor fünfzig Jahren über den Wasserspiegel des Spülkücheneimers einwärts und auswärts liefen. Eine Ordnung, die uns zu dem heranwachsen läßt, was wir in uns anreicherten. Eine Ordnung, die befriedigt, was begehrlich ist am Geist und faßlich an den Gefühlen. Mit andern Worten, ich danke der Dichtung doppelt: für ihre bloße Existenz und für ihre Hilfe, eine flexible und stärkende Beziehung zwischen dem Zentrum des Geistes und seinem Umfeld herzustellen, zwischen dem auf das Skalenwort Stockholm starrenden Kind und dem Mann, der in die Gesichter sieht, denen er in seinem erhabensten Moment in Stockholm begegnet. Ich danke ihr, weil ihr heute und zu allen Zeiten Dank gebührt für ihre umfassende Lebenswahrheit.

Anfangs suchte ich diese Lebenswahrheit, um eine konkrete Verläßlichkeit zu besitzen. Und es freute mich besonders, wenn ein Gedicht ganz direkt zu sein schien, es als genaue Entsprechung der Welt für sie einstand, aufstand oder ihr auch widerstand. Schon als Schüler liebte ich John Keats „Ode an den Herbst“ als Heiligen Schrein der Beziehung zwischen Sprache und Gefühl. Als Heranwachsender liebte ich Gerard Manley Hopkins wegen der Heftigkeit seiner Ausrufe, die für mich zugleich Reaktionsgleichungen bis dahin kaum gekannten Schmerzes und Entzückens waren. Ich liebte Robert Frost für seine bäurische Genauigkeit und schlaue Nüchternheit; und Chaucer, aus nämlichen Gründen. Später entdeckte ich eine andere Art von Genauigkeit, eine sittliche Sachlichkeit, die mich stark berührte und stets anrühren wird: in den Kriegsgedichten Wilfried Owens, einer Dichtung, wo die Empfindsamkeit des Neuen Testaments den Schock über die Barbarei des neuen Jahrhunderts erleidet und in sich aufnimmt. Und wieder später stieß ich in der puren Konsequenz des Stils von Elizabeth Bishop, in der reinen Halsstarrigkeit Robert Lowells und in der schamlosen Konfrontation Patrick Kavanaghs auf weitere Gründe, an die Fähigkeit – und Verantwortung – der Poesie zu glauben, die Ereignisse zu benennen, „den Planeten zu beklagen“, „nicht mit ,Dichtkunst‘ beschäftigt“ zu sein.
Der in mir angelegte Hang zu einer aufrichtigen Kunst, welche die Dinge nimmt, wie sie sind, erhärtete sich durch die Erfahrung, in Nordirland geboren und aufgezogen worden zu sein und dort gelebt zu haben, auch wenn ich das letzte Vierteljahrhundert außerhalb zubrachte. Keine Weltgegend ist stolzer auf ihre Wachheit und ihren Wirklichkeitssinn, keine hält sich für berufener, rhetorische Schnörkel und extravagantes Streben zu mißbilligen. Teils durch Verinnerlichung dieser Haltungen, mit denen ich aufgewachsen bin, teils durch eine mir zugelegte Schutzhaut, verbrachte ich Jahre halb meidend, halb meuternd gegenüber dem Reichtum und der Weite so unterschiedlicher Dichter wie Wallace Stevens und Rainer Maria Rilke; mit zu wenig Verständnis für die kristalline Innerlichkeit einer Emily Dickinson mit ihren Zackenblitzen und Gedankensprüngen; in völliger Ignoranz gegenüber der visionären Fremdheit eines Eliot. Diese mehr oder weniger verhärteten Haltungen verstärkten sich noch durch die Weigerung, dem Dichter größere Freiheiten einzuräumen als jedem anderen Staatsbürger. Sie wurden weiter gefördert durch den Zwang, sich in einer Situation dauernder politischer Gewalt und öffentlicher Erwartungen als Dichter zu verhalten. Öffentlicher Erwartungen, das sei gesagt, nicht an die Dichtung als solche, sondern an politische Positionen, wie sie in den einander ablehnenden Gruppen jeweils Anerkennung fanden.
Unter solchen Umständen möchte das Gemüt Ruhe in dem finden, was Samuel Johnson, durchaus eingedenk des Destabilisierenden des eigenen Suchens und Handelns, einst stolz die Wertbeständigkeit der Wahrheit nannte. Auch ohne theoretische Unterweisung erkennt das Bewußtsein schnell, daß es die Bühne verschiedenster Streitgespräche ist. Das Kind im Schlafzimmer, das zugleich dem häuslichen Zungenschlag seiner irischen Heimat und den offiziellen Wendungen des englischen Rundfunksprechers lauschte und hinter beiden die Zeichen anderer Gefahr wahrnahm, dieses Kind war schon geschult für die Vielschichtigkeit seines Erwachsenenlebens, einer Zukunft, in der es zwischen den verschiedensten Einflüsterungen: ethischen, ästhetischen, moralischen, politischen, metrischen, skeptischen, kulturellen, thematischen, typischen, postkolonialen: summa summarum unmöglichen, zu wählen haben würde. Dergestalt fand ich mich Mitte der siebziger Jahre in einem anderen kleinen Haus wieder, diesmal in der Grafschaft Wicklow, südlich von Dublin, mit meiner eigenen, jungen Familie und einem etwas weniger imposanten Radio. Ich lauschte dem Regen in den Bäumen und den nicht mehr so fernher kommenden Bombennachrichten: nicht nur jenen von den Anschlägen der Provisorischen IRA in Belfast, sondern auch den nicht weniger grausamen in Dublin seitens der loyalistischen paramilitärischen Gruppen des Nordens. Klein und schwach fühlte ich mich in meiner mißlichen Lage, als ich von der tragischen Logik im Schicksal Ossip Mandelstams in den dreißiger Jahren las; herausgefordert, doch standhaft in meinem Status des Nichtkämpfers, als ich erfuhr, daß ein besonders gutmütiger Schulfreund ohne Gerichtsverfahren eingesperrt worden war, weil man ihn verdächtigte, in einen politischen Mord verwickelt zu sein. Wonach ich mich sehnte, war nicht schlicht Stabilität, sondern eine aktive Flucht aus dem Treibsand des Relativismus, eine Möglichkeit, der Poesie ohne Angst und Abbitte zu trauen. In einem Gedicht mit dem Titel „Entdeckung“ schrieb ich damals:

Träfe ich doch auf einen Meteoriten!
Stattdessen streife ich durch klammes Laub
Und Fruchthülsen, das verbrauchte Glück des Herbstes.

Und denk mir einen Helden,
Der, auf schlammigem Lager
Sein Talent wie einen Katapultstein
Für die Verzweifelten verschleudert.

Wie bin ich so weit gekommen?
Ich erinnre mich oft der schönen
Funkelnden Ratschläge meiner Freunde
Und der Amboßbirne derer, die mich hassen,

Während ich dasitze und endlos
Meine einklagbaren Tristiae wäge.
Wofür? Für das Ohr? Für das Volk?
Für das Rückengeflüster?

Regen dringt durch die Erlen.
Seine leisen Dienerstimmen
Murmeln von Demütigungen und Verschleiß;
Und doch mahnt jeder Tropfen

Ans diamantene Absolute.
Ich bin weder Gefangener noch Spitzel;
Ein innerer Emigrant, langhaarig
Und gedankenvoll; ein hölzerner Bauernlümmel,

Der dem Massaker entkam,
Tarnfarbe annimmt
Von Baum und Borke
Und jeden Windhauch spürt;

Der um dürftige Hitze
Diese Funken aufblies
Und dabei das Lebenswunder versäumte,
Die pulsende Rose des Kometen.

(aus: Norden)

In einem den Studenten meiner Generation bestens bekannten Gedicht, einem, von dem man sagen könnte, daß es die Nährsubstanz des Symbolismus hergenommen und zu Kapseln gepreßt verfügbar gemacht hat, bekräftigte der amerikanische Dichter Archibald MacLeish:

Dichtung sollte Gleichnis sein
nicht gleich.

Als provokante Feststellung über die Fähigkeit der Dichtung, die Wahrheit zu sagen, ohne sie peinlich auszuwiegen, ist es zugleich zwingend und akzentverschiebend. Doch gibt es Zeiten, in denen die Bedürfnisse tiefer reichen und wir uns das Gedicht nicht nur angenehm richtig, sondern auch unausweichlich weise wünschen, nicht bloß als verblüffendes Spiel mit der Welt, sondern als neue Gestimmtheit. Wir wollen, daß die Überraschung transitiv ist wie das unwirsche Klopfen, das urplötzlich das Fernsehbild wiederherstellt oder wie der Elektroschock, der dem flimmernden Herzen zu seinem richtigen Rhythmus zurückhilft. Wünschen, was jene Frau in der Schlange vor dem Leningrader Gefängnis wünschte, die dort blau vor Kälte stand, angstflüsternd den stalinschen Terror erduldete und Anna Achmatowa fragte, ob sie dies alles beschreiben, ihre Kunst dem gleichkommen könne. Und dies war der Wunsch, den, unter den geschützteren Umständen der Grafschaft Wicklow, auch ich verspürte, als ich die zitierten Zeilen schrieb, dieser Hunger nach einer Dichtung, welche die vorhin genannte Definition verdient: als eine Ordnung, „realistisch im Hinblick auf den Einfluß des Äußeren und… sensibel gegenüber den inneren Gesetzen der dichterischen Existenz“.

Die äußere Realität und die innere Dynamik der Ereignisse in Nordirland zwischen 1968 und 1974 waren bezeichnend für den zwar gewaltsamen aber eben doch eingetretenen Wandel, der für die dort lebende Minderheit längst überfällig gewesen ist. Er hätte früher kommen sollen, als Folge der gärenden Straßenproteste Ende der sechziger Jahre, aber es kam anders, und die latente, ständig inkubierende Gefahr entfaltete sich rasant. Während der christliche Moralist in unsereinem sich gedrängt fühlte, die Grausamkeit des Bomben- und Mordfeldzugs der IRA zu beklagen, und der in uns steckende pure Ire sich über die Unbarmherzigkeit der Britischen Armee bei Anlässen wie dem Blutsonntag von Derry 1972 entsetzte, stimmte der im Bewußtsein offiziellen und inoffiziellen Mißtrauens und in Kriminalisierung seiner Gruppierung aufgewachsene innere Minderheitler mit der dichterischen Wahrheit der Situation darin überein, daß, wenn das Leben in Nordirland je wirklich gedeihen soll, sich zuvor ein Wandel vollziehen muß. Doch die Wahrnehmung dieses Minderheitlers deckte sich auch mit der Erkenntnis, daß die äußerste Brutalität, mit der die IRA den Wandel anstrebte, das Vertrauen zerstörte, auf dem die neuen Möglichkeit gründen müßten.
Ehe sich die britische Regierung nach der Sunningdale-Konferenz von 1974 der Gewalttaktik seitens der loyalistischen Arbeiter von Ulster unterwarf, konnte ein Wohlmeinender noch darauf hoffen, die Situation zu verstehen, das Zerstörerische mit dem Verheißungsvollen auszubalancieren und damit das zu tun, was W.B. Yeats ein halbes Jahrhundert zuvor versucht hatte, nämlich Wirklichkeit und Gerechtigkeit in einem Gedanken zu fassen. Nach 1974 jedoch und die zwanzig langen Jahre von da bis zum Waffenstillstand von August 1994 erwies sich eine solche Hoffnung als nichtig. Die Gewalt von unten brachte nichts anderes hervor als gewalttätige Vergeltung von oben. Der Traum von Gerechtigkeit wurde der harten Realität untergeordnet, und die Menschen gewöhnten sich an ein Vierteljahrhundert vergeudeten Lebens und verschleuderten Geists, sich verhärtender Haltungen und schwindender Möglichkeiten, welche die logische Folge von politischer Solidarität, traumatischem Leiden und rein gefühlsmäßigem Selbstschutz waren.

Einer der schmerzlichsten Augenblicke der leidvollen Geschichte Nordirlands kam an einem Januarabend des Jahres 1976, als ein mit Arbeitern besetzter Kleinbus auf der Heimfahrt von Bewaffneten und Maskierten gestoppt wurde, welche die Insassen mit vorgehaltener Waffe zwangen, sich am Straßenrand aufzustellen. Dann sagte einer der vermummten Scharfrichter:

Die Katholiken unter euch, vortreten.

Der Zufall wollte es, daß diese Gruppe, mit einer Ausnahme, aus Protestanten bestand. Man mußte annehmen, daß es sich bei den Maskierten um paramilitärische Prostestanten handelte, drauf und dran, in ihrem Zahn-um-Zahn-Wahn konfessionelle Morde an Katholiken wie diesem einzelnen Mann zu verüben, von dem sie vermuten konnten, daß er mit der IRA und ihren Aktionen sympathisierte. Gefangen zwischen Angst und Bekenntnis, war dies für ihn ein furchtbarer Augenblick; doch setzte er dazu an, den Schritt nach vorn zu machen. Da, so geht die Geschichte, im entscheidenden Bruchteil dieser Sekunde, und im Schutz des dunklen Winterabends, spürte er, wie die Hand des neben ihm stehenden protestantischen Arbeiters seine Hand nahm, sie drückte und ihm ein Zeichen gab, das besagte: nein, rühr dich nicht, wir werden dich nicht verraten, keiner braucht zu wissen, welchem Glauben oder welcher Partei du angehörst. Doch vergebens, der Mann trat vor. Aber statt einer Waffe an seiner Schläfe, fühlte er sich nach hinten gerissen, als die Bewaffneten das Feuer auf die in der Reihe Verbliebenen eröffneten; denn die Schützen waren keine protestantischen Terroristen, sondern vermutlich Mitglieder der Provisorischen IRA.

Mitunter fällt es schwer, den Gedanken zu unterdrücken, daß die Geschichte lehrreich ist wie ein Schlachthaus, daß Tacitus recht hatte und Frieden bloß die Wüste ist, welche die Entscheidungsschlachten gnadenloser Mächte hinterlassen. Ich erinnere mich beispielsweise, welchen Schock nur ein Gedanke an jenen Freund versetzte, der in den siebziger Jahren wegen des Verdachts seiner Verwicklung in einen politischen Mord verhaftet worden war: mich erschütterte die Vorstellung, daß er selbst im Falle seiner Schuld mitgeholfen haben könnte, die Zukunft zu gebären, Hemmnisse zu überwinden und neue Kräfte freizusetzen: auf dem einzig gangbaren Weg – dem der Gewalt – der durch seine Weiterungen zum richtigen wurde. Es war wie ein Augenblick des Ausgeliefertseins an die Kälte des Alls, eine Erinnerung an das Element des Schrecklichen, in welchem die Menschen, innen wie außen, ihr Leben angehen und bestehen müssen. Aber es war nur ein Augenblick. Die Geburt der Zukunft, die wir ersehnen, liegt sicher in dem sanften Druck, den der tödlich erschrockene Katholik spürte, als eine andere Hand die seine ergriff und nicht in dem folgenden Gewehrfeuer, jenem absoluten und trostlosen Teil der Weltmusik.
Als Schreiber und Leser, als Sünder und Bürger, warnen uns Realismus und Schönheitssinn davor, ausschließlich die positive Seite der Medaille zu würdigen. Das heftigste Geschützfeuer bestärkt uns, und die Greueltat adelt die Anstrengung, ihr zu begegnen. Wir haben zu Recht Ehrfurcht vor den Sinnschlingen in der Dichtung Paul Celans und sind mit Recht in die seufzende Stimme bei Beckett verliebt. Beweisen sie doch, daß die Kunst sich zur Höhe ihres Anlasses erheben und die natürliche Folge von Celans leidvollem Schicksal eines Überlebenden des Holocausts und Becketts nüchternem Heroismus eines Mitglieds des französischen Widerstands sein kann. Genauso sind wir berechtigt mißtrauisch gegenüber dem, was in dieser Lage zuviel Trost spendet. Das extreme Wissen gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unterwirft einen großen Teil unseres kulturellen Erbes einer strengen Prüfung. Nur die Dümmsten und Elendsten können noch so tun, als wüßten sie nicht, daß die Urkunden der Zivilisation mit Blut und Tränen geschrieben wurden, die nicht dadurch weniger wirklich sind, daß sie vor langer Zeit flossen. Trifft diese geistige Haltung mit den Tatsachen von Ulster und Israel, Bosnien und Ruanda und den zahlreichen andren Wunden im Antlitz der Erde zusammen, neigt man nicht nur dazu, dem Menschen kein allzu konstruktives Potential zuzuschreiben, sondern auch von den Kunstwerken nicht zuviel zu erwarten.
Darum saß ich jahrelang wie ein über sein Betpult gebeugter Mönch, ein pflichtbewußter Kontemplativer, der in dem Versuch, sein Teil der Weltenlast zu tragen, das Räderwerk seines Verstandes drillt und dreht, sich seines Mangels an Heroismus und Erlösertum bewußt ist, aber durch den Gehorsam gegenüber dem eigenen Reglement doch gezwungen wird, die Anstrengung und die Pose zu wiederholen. Aufzublasen die Funken um dürftige Hitze. Glaubensvergessen hingegeben an die gute Sache. Ungenügend zugewandt dem diamantenen Absoluten, zu dem die Selbstgenügsamkeit des absolut Gedachten zählt. Schließlich, und den schmerzlichen Verhältnissen meiner Heimat unangemessen, ja, ihnen zum Trotz, richtete ich mich auf. Vor ein paar Jahren begann ich mit dem Versuch, in meinen Gedanken und Vorstellungen sowohl dem Mirakel als auch dem Mörderischen Raum zu geben. Was diese veränderte Orientierung bedeutet, möchte ich mit einer anderen irischen Geschichte zu zeigen versuchen.

Es ist die Geschichte eines anderen Mönchs, der tapfer in seiner Geduldshaltung ausharrte. Es wird berichtet, daß der heilige Kevin einst mit zum Kreuz gestreckten Armen in Glendalough kniete, einem Kloster unweit unsres Wohnorts in der Grafschaft Wicklow, die bis heute eines der wald- und wasserreichsten Refugien des Landes ist. Kurzum, während Kevin knieend betete, mißdeutete eine Amsel seine ausgestreckte Hand als Schlafstange, ließ sich auf ihr nieder, legte Eier und nistete in ihr wie im Gezweig eines Baumes. Von Mitgefühl übermannt und bestimmt von seinem Glauben, der ihn hieß, das Leben in all seinen großen und kleinen Geschöpfen zu lieben, verharrte Kevin reglos Stunden und Tage, Nächte und Wochen, bis die Jungen schlüpften und flügge wurden: dem Leben getreu, verquer im Alltagssinn, an der Schnittstelle von Naturvorgang und aufschimmerndem Ideal, ein Wegweiser und zugleich ein Mahner. Als Bekundung jener Ordnung der Poesie, in der wir endlich zu dem heranwachsen, was wir gedeihend in uns anreicherten.

Die Geschichte vom heiligen Kevin ist eine irische Geschichte. Doch mir scheint, daß sie ebenso aus Indien oder Afrika, der Arktis oder den Amerikas kommen könnte. Womit ich sie keineswegs nur einem Typus von Volksmärchen zuordnen oder ihren Wert in ihrem kulturgebundenen Rang innerhalb des Multikulturellen infragestellen möchte. Im Gegenteil, ihre Glaubwürdigkeit und Übertragbarkeit kommt aus ihrem lokalen Rahmen. Natürlich kann ich sie mir heute, dekonstruierend neu, als Paradigma des Kolonialismus vorstellen: mit Kevin in der Rolle des guten Imperialisten (oder des Missionars im Kielwasser des Imperialisten), in der Rolle des Eindringlings, der sich das Eingeborenenleben zueigen macht und dabei dessen ursprüngliche Umweltbeziehungen stört. Ich gestehe, es schon als ironisch zu empfinden, daß es ein solcher war, der dieses Beispiel wahrer Schönheit des irischen Erbes aufzeichnete und bewahrte: Kevins Geschichte findet sich in den Schriften von Giraldus Cambrensis, einem jener Männer, die im 12. Jahrhundert in Irland einfielen, ja, wie es fünfhundert Jahre später der irische Sprachchronist Geoffrey Keating ausdrückte, „des Bullen der Herde jener, die Irlands falsche Geschichte schrieben“. Trotzdem bringe ich es nicht über mich, dieses Zeugnis frühchristlicher Zivilisation einfach als Wegmarke zu all dem auszulegen, was in unserer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte ausbeuterisch und barbarisch ist. In ihrer ganzen Anlage scheint sie mir eher mit jener Arbeit verwandt zu sein, die ich vor wenigen Wochen, am Morgen der Nachricht über den diesjährigen Literaturnobelpreis, in einem kleinen Museum in Sparta sah.
Bei ihr handelte es sich um Kunst, die einem ganz anderen Kult entsprang als dem Glauben, dem Kevin anhing. Sie zeigte einen schlafenden Vogel, ein verzücktes wildes Tier und einen selbstvergessenen Mann, nur daß dieser Mann Orpheus war und die Entrücktheit eher von Musik als vom Gebet herrührte. Die Arbeit bestand aus einem kleinen, gemeißelten Relief, und ich konnte nicht anders, als es zu skizzieren und die auf ein Kärtchen getippte Begleitinformation abzuschreiben. Die Darstellung bewegte mich durch ihr Alter und ihre Dauerhaftigkeit. Aber die Beschreibung rührte mich gleichfalls, benannte und beglaubigte sie doch, was ich in den vergangenen drei Jahrzehnten getan zu haben meine: „Votivtafel“, so die Legende, „vermutlich von einem Lokalpoeten für Orpheus aufgestellt. Regionaltypische Arbeit der hellenistischen Periode.“
Ich möchte wirklich weder sentimental sein, noch das Lokale – wie es neuerdings heißt – fetischisieren. Vielmehr möchte ich auf die genannten Darstellungen und Geschichten als Träger von Werten hinweisen. Unser Jahrhundert war Zeuge, wie der Nazismus mit Waffengewalt in die Knie gezwungen wurde. Aber der Verfall des Sowjetregimes vollzog sich, unter der Oberfläche aufgezwungener ideologischer Gleichschaltung, unter anderem durch reines Beharren auf kulturellen Werten und physischen Widerstand, wie er sich in diesen Bildern und Geschichten manifestiert. Selbst wenn wir gelernt haben, uns mit berechtigter Sorge davor zu hüten, die kulturellen Muster und Überlieferungen einer Nation zu einem normativen und exklusiven System zu erheben, und selbst wenn wir den schrecklichen Beweis dafür haben, daß der Stolz auf ein ethnisches und religiöses Erbe schnell in den Faschismus abgleiten kann, sollte unsere Wachsamkeit nicht unsere Liebe und unser Vertrauen in den Wert des Einheimischen per se verdrängen. Im Gegenteil, das Vertrauen in die Widerstandskraft und Übertragbarkeit solchen Gutes sollte uns ermutigen, an die Möglichkeit einer Welt zu glauben, in welcher der Respekt vor der Gültigkeit jeder Tradition zur Schaffung und Bewahrung eines gedeihlichen politischen Raums führt. Trotz der Zerstörungen und der sich wiederholenden politischen Morde, Massaker und Auslöschungsaktionen sind die neuen Beziehungen zwischen den Palästinensern und Israelis, den Schwarzen und Weißen Südafrikas, von wichtigen vertrauensbildenden Handlungen gekennzeichnet. Dies und die Art, wie in Europa die Mauern fielen und der Eiserne Vorhang geöffnet wurde, weckt die Hoffnung, daß sich auch Irland ein neuer Weg öffnen wird. Der kritische Punkt besteht in der andauernden Teilung der Insel in britische und irische Gerichtsbarkeit und in der gleichfalls fortbestehenden Spaltung der Gefühlslage Nordirlands in ein irisches und ein britisches Erbe. Gewiß kann jeder Landsmann nur hoffen, daß die Regierungen Einrichtungen ersinnen mögen, die es erlauben, die Teilung eher zu einem Netz auf einem Tennisplatz werden zu lassen, zu einer Trennlinie, die ein lebhaftes Geben und Nehmen, Begegnung und Wettstreit ermöglicht und so eine Zukunft vorzeichnet, in welcher die ursprünglich von den stärkenden Worten „Feind“ und „Alliierter“ kommende Lebenskraft schließlich von einem weniger polarisierten, weniger bindenden Wortschatz ausgehen wird.

Als vor mehr als siebzig Jahren der Dichter W.B. Yeats an diesem Pult stand, tauchte Irland gerade aus einem traumatischen Bürgerkrieg empor, der einem Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer auf dem Fuße gefolgt war. Der anschließende Kampf war denkbar kurz; er endete im Mai 1923, sieben Monate bevor Yeats das Schiff nach Stockholm bestieg. Aber er war blutig, wild und inbrünstig und prägte für Generationen die politischen Bedingungen in Irlands sechsundzwanzig unabhängigen Grafschaften, jenem Teil der Insel, der als Irischer Freistaat und Republik Irland bekannt wurde.
Yeats spielte in seiner Nobelrede kaum auf den Bürgerkrieg oder den Unabhängigkeitskrieg an. Keiner verstand besser als er den Zusammenhang zwischen Gründung oder Abwicklung staatlicher Institutionen und dem Schaffen oder Erschlaffen eines kulturellen Lebens, aber bei diesem Anlaß entschied er sich, über die Irische Theaterbewegung zu sprechen. Er sprach über ihren schöpferischen Zweck und ihr historisches Glück, das darin bestand, daß sie nicht nur von seinem eigenen Genius, sondern auch durch den seiner Freunde John Millington Synge und Lady Augusta Gregory gefördert wurde. Yeats kam nach Schweden, um der Welt mitzuteilen, daß das Schaffen der eigenen Dichter und Stückeschreiber für die Umwandlung seiner Heimat und seiner Zeit ebenso wichtig war wie die Hinterhalte der Heckenarmeen. Und der Stolz seiner erhabenen Prosa war im Kern derselbe wie in seinem mehr als ein Jahrzehnt später geschriebenen Gedicht „Die wiederbesuchte Städtische Galerie“. Darin zeigt er sich inmitten von Porträts und Heldengemälden zur Feier von Geschehnissen und Gestalten der jüngsten Geschichte, und wie er plötzlich erkennt, daß sich wahrhaft Epochales ereignet hat:

Dies ist nicht, ich sage es so
Das tote Irland meiner Jugend, sondern das
Von Dichtern ersonnene, schreckensvoll und froh.

Das Gedicht schließt mit den beiden meistzitierten Zeilen seines gesamten Werks:

Think where man’s glory most begins and ends,
And say my glory was I bad such friends.

Du fragst, wo Ruhm beginne, Ruhm ermatte.
Mein Ruhm war, daß ich solche Freunde hatte.

So ausgreifend und erregend diese Zeilen auch sein mögen, sind sie doch eher dichterische Selbstfeier denn poetischer Selbstbeweis; sie sind des Dichters Ehrenrunde, und hierin, wenn in nichts anderem, gleichen sie dem, was ich mit diesem Vortrag mache. Und tatsächlich solle ich um meinetwillen eine andere Stelle des Gedichts zitieren:

Der du mich beurteilst, urteile nicht
Nur über dieses oder jenes Buch.

Stattdessen bitte ich Sie zu tun, worum Yeats seine Zuhörer bat und so an die Erfolge irischer Dichter, Dramatiker und Romanciers während der letzten vierzig Jahre zu denken, Autoren, unter denen ich stolz enge Freunde weiß. Ezra Pound riet davon ab, in literarischen Fragen die Meinung jener anzuerkennen, „die nicht selbst Bemerkenswertes hervorgebracht haben“. Ich hatte das Privileg, diesem Rat folgen zu können, da ich, der ich vor mehr als dreißig Jahren in Belfast zu schreiben begann, mein Bemühen durch den Zuspruch angesehener Schriftsteller – nicht nur meines Landes – bestärkt sehe. Das Irland, das ich heute bewohne, haben diese irischen Zeitgenossen mit vorstellbar gemacht.
Yeats indessen erschöpfte sich keineswegs in Eigenlob. Zu den bleibenden Leistungen der Dichtung unseres Jahrhunderts müssen bei jeder Bilanz gewiß seine beiden großen Gedichtzyklen Neunzehnhundertneunzehn und Gedanken währrend des Bürgerkriegs gerechnet werden. Letzterer enthält das großartige Gedicht über das Vogelnest an seinem Fenster, das ein Star in einem Riß des alten Gemäuers gebaut hatte. Der Dichter lebte damals in einem normannischen Turm, der in früheren, genauso unruhigen Zeiten, eine wichtige Rolle in der Militärgeschichte des Landes gespielt hatte. Während er an die Ironie dachte, die darin liegt, daß die Zivilisationen von gewalttätigen und mächtigen Eroberern befestigt werden, die schließlich Künstler und Architekten in ihre Dienste nehmen, kam ihm beim Anblick einer fütternden Vogelmutter das Bild einer Honigbiene in den Sinn, das tief in der poetischen Überlieferung wurzelt und stets das Ideal eines fleißigen, harmonischen und förderlichen Gemeinwesens beschwört:

Die Bienen bauen in den Ritzen
Der morschen Mauer; Jahr um Jahr
Bringt die Vogelmutter Stibitztes.
Meine Mauer ist morsch; ihr Süßen, Gewitzten,
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Wir hocken hinter verschlossner Tür,
Eingesperrt und verzagt; im Park
Wird getötet; das Haus ist lädiert,
Und keiner, der Bescheid weiß hier:
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Ein Kugelfang aus Stein und Schrott;
Zwei Wochen Bürgerkrieg, Gefahr;
Sie schleiften durch den Straßenkot
Den jungen Söldner, blutigrot:
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Wir nährten das Herz mit Phantasien,
Das roh gedieh von diesem Mahl;
Der Haß gebiert mehr Energie
Als unsre Liebe; o Honigbienen,
Kommt, baut im leeren Nest des Stars.

Ich habe dieses Gedicht, ganz oder teilweise vorgetragen, während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in Irland oft gehört; kein Wunder, denn es ist behutsam gegenüber dem Leben wie der heilige Kevin und unsentimental gegenüber seinen Wechselfällen wie Homer. Es weiß, daß das Massaker am Straßenrand sich wiederholen, man die Arbeiter aus dem Kleinbus wieder aufstellen und kurz nach Feierabend erschießen wird. Aber ebenso würdigt es die Wirklichkeit jenes Händedrucks, das Mitgefühl und den Beschützerinstinkt zwischen Lebewesen. Es stillt die konträren Bedürfnisse, die wir in Extremsituationen verspüren: einerseits das Verlangen nach Aussprache der harten, vergeltungsheischenden Wahrheit; auf der anderen Seite den Wunsch, nicht so weit zu verhärten, daß die eigene Sehnsucht nach Freundlichkeit und Vertrauen geleugnet wird. Und es ist ein Beleg dafür, daß Poesie Gleichnis und Wahrheit in einem sein kann, Beispiel jener vollkommen adäquaten Dichtung, wie sie jene Russin von Anna Achmatowa ersehnte und wie sie vor fast genau zweihundert Jahren William Wordsworth in einem vergleichbaren Augenblick geschichtlicher Krise und persönlicher Erschütterung hervorbrachte.

Als der Sänger Demodokos vom Fall Trojas sang und dem Gemetzel, das ihn begleitete, weinte Odysseus, und Homer berichtet, daß seine Tränen denen einer Frau glichen, die diese über den Tod des auf dem Schlachtfeld gefallenen Mannes vergoß. Sein episches Gleichnis fährt fort:

Beim Anblick des keuchenden, sterbenden Mannes
gleitet sie schreiend zu Boden, ihn zu umarmen;
dann fühlt sie die Speere an Rücken und Schultern
und geht ein in Sklaverei und Gram.
Bittere Tränenhöhlen ihre Wangen:
aber nicht bittrere als die des Odysseus,
verborgen, vor jener Gesellschaft.

Noch heute, dreitausend Jahre später, da wir uns durch so viel Live-Berichterstattung von allgegenwärtigen Brutalitäten hindurchschalten, hochinformiert und trotzdem gefährdet abzustumpfen, mit den alten Wochenschauen über die Konzentrationslager und den Gulag bis zum Überdruß vertraut, vermag Homers Darstellung, uns zur Vernunft zu bringen. Die Roheit der Speerschäfte gegen Rücken und Schultern der Frau überdauert die Zeiten und Übersetzungen. Diese Szene besitzt jene dokumentarische Qualität, die alles ausspricht, was wir über das Nichthinnehmbare wissen.
Es gibt aber noch eine andere Art der Entsprechung, die eine Eigenart lyrischer Dichtung ist. Sie hat mit dem „Tempel in unserem Gehör“ zu tun, den der Gedichtvortrag errichtet. Sie ist eine Entsprechung, die von Mandelstams „Beständigkeit artikulierter Sprache“ herrührt, kommt her von der Entschiedenheit und Unabhängigkeit durch das vollkommen realisierte Gedicht. Sie hat so viel mit der durch das sprachliche Spalten und Schmelzen freigesetzten Energie, mit der durch Klang und Rhythmus, Reim und Strophe erzeugten Schweben zu schaffen wie mit der Bedeutung des Gedichts und der Aufrichtigkeit des Dichters. Tatsächlich zeigt sich in der Lyrik die Echtheit als ein ihr innewohnender Ton. Und es ist das unablässige Streben nach diesem Ton, den wir am schärfsten angeschlagen bei Emily Dickinson und Paul Celan, am reichsten orchestriert bei John Keats finden, welches das Ohr des Dichters angespannt lauschen läßt, um hinter all den berichtenden Stimmen die eine, vollkommen überzeugende herauszuhören.
Damit ist gesagt, daß ich nie gänzlich von jener Sofalehne heruntergeklettert bin. Gewiß bin ich aufmerksamer gegenüber den Nachrichten und der hinter ihnen verborgenen Weltgeschichte und Weltsorge geworden. Aber was der Sprecher mitteilt, ist noch immer nicht ganz das, was wirklich passiert. Es ist reflexiver; denn als Dichter achte ich angespannt auf eine Spannung, die eine stabile Ruhe hervorbringt, wie sie durch eine musikalisch befriedigende Anordnung von Lauten entsteht. Als würde jenes Kräuseln verlangen, durch seine eigene Umformung bestätigt, hinein- und hinausgezogen zu werden durch seinen Ursprung.
Darauf achte ich auch in den Gedichten, die ich lese. Und werde fündig beispielsweise in der Wiederholung von Yeats’ Refrain „Kommt, baut im leeren Haus des Stars“ – mit seinem flehenden Ton, seinen starken Angeln in den Worten baut und Haus sowie dem mit dem Wort leer eingeräumten Verfall. Fündig auch in dem durch den Dreifachreim im Gleichgewicht gehaltenen Kräftedreieck fantasies, enmities und honeybees sowie in der bloßen Anwesenheit des Gedichts als gegebener Form innerhalb der Sprache. Die dichterische Form ist Schiff und Anker zugleich. Ist Schwebendes und Haltgebendes in einem und erlaubt so die gleichzeitige Befriedigung alles Zentrifugalen und Zentripetalen von Körper und Geist. Damit erreicht Yeats die Wirkung jeglicher notwendigen Dichtung, nämlich, daß sie den Kern unseres mitfühlenden Wesens berührt und zugleich die Fühllosigkeit der Welt in sich aufnimmt, der dieses Wesen ständig ausgesetzt ist. Anders gesagt: Die Form eines Gedichts entscheidet über die volle Ausprägung des immerwährenden Verdienstes der Poesie: ihrer Kraft, trotz der Fülle des Falschen um uns herum, den verletzlichen Teil unseres Bewußtseins von ihrer Richtigkeit zu überzeugen und uns daran zu erinnern, daß wir Jäger und Sammler von Werten sind, ja, daß noch unsere größte Einsamkeit und Bedrängnis uns zur Ehre gereichen, solange sie Unterpfand unseres wahrhaftigen Menschseins sind.

Seamus Heaney,
Übertragen von Richard Pietraß

Nobelrede

− Das Verdienst der Dichtkunst. −

Als mir der Name der Stadt Stockholm erstmals begegnete, hätte ich kaum gedacht, daß ich sie je besuchen würde, und schon gar nicht, daß ich eines Tages als Gast der Schwedischen Akademie und der Nobelstiftung dorthin eingeladen werden würde. Zu der Zeit, von der ich spreche, war ein solcher Ausgang nicht nur nicht zu erwarten, er war einfach nicht vorstellbar. In den vierziger Jahren, als ich das älteste Kind einer ständig anwachsenden Familie in der ländlichen Grafschaft Derry war, wohnten wir eng zusammengedrängt in den drei Zimmern eines traditionellen strohgedeckten Bauernhauses und lebten eine Art Höhlendasein, das emotional und intellektuell mehr oder weniger gegen die Außenwelt gefeit war. Es war eine intime, körperliche, kreatürliche Existenz, in der die nächtlichen Geräusche des Pferdes im Stall hinter einer Schlafzimmerwand sich mit den Geräuschen der Unterhaltung Erwachsener aus der Küche hinter der anderen Wand mischten. Wir nahmen natürlich alles wahr, was geschah – Regen in den Bäumen, Mäuse auf dem Dachboden, einen dampfgetriebenen Zug, der über die Eisenbahnschienen jenseits eines Feldes hinter dem Haus rumpelte – aber wir nahmen es auf, als dösten wir im Winterschlaf dahin. Ahistorisch, vorsexuell, in der Schwebe zwischen dem Archaischen und dem Modernen, waren wir empfänglich und beeindruckbar wie das Trinkwasser, das in einem Eimer in unserer Spülküche stand: jedesmal, wenn ein vorbeifahrender Zug die Erde erzittern ließ, kräuselte sich die Wasseroberfläche zart, konzentrisch und in völliger Stille.
Aber nicht nur die Erde erzitterte für uns: auch die Luft um uns und über uns war lebendig und gab Zeichen. Wenn ein Wind die Buchen in Bewegung setzte, bewegte er auch eine Leitung, die am obersten Ast der Kastanie befestigt war. Er sauste nach unten, hinein in ein Loch, das durch die Ecke des Küchenfensters gebohrt war, geradewegs in die Innereien unseres Radioapparats, in dem ein kleines Pandämonium von Gurgeln und Piepsen plötzlich der Stimme eines BBC-Nachrichtensprechers wich, der wie ein Deus ex machina aus dem Unerwarteten heraus sprach. Und auch diese Stimme konnten wir in unserem Schlafzimmer hören, wie sie über und hinter den Stimmen der Erwachsenen das Draußen übermittelte, ebenso wie wir über und hinter jeder Stimme oft das hektische, durchdringende Senden von Morsezeichen hören konnten.
Wir konnten die im lokalen Tonfall unserer Eltern ausgesprochene Namen von Nachbarn aufschnappen und in den sonoren englischen Lauten des Nachrichtensprechers die Namen von Bombenflugzeugen und bombardierten Städten, von Kriegsfronten und Armeedivisionen, die Zahlen von abgeschossenen Flugzeugen und gefangenen gegnerischer Soldaten, von erlittenen Verlusten und zurückgelegten Vormärschen; und immer natürlich schnappten wir auch jene anderen feierlichen und seltsam aufmunternden Wörter „der Feind“ und „die Alliierten“ auf. Aber dennoch drang keine der Nachrichten über diese Weltzuckungen als Schrecken in mich ein. Wenn in der Betonung des Nachrichtensprechers etwas Unheilverkündendes lag, so hatte unser Verständnis für das, was auf dem Spiel stand, etwas Betäubtes; und wenn etwas Verwerfliches war an soviel politischer Ignoranz in jener Zeit und an jenem Ort, so war etwas Positives an der Sicherheit, in der ich ihrzufolge lebte.
Die Kriegszeit war mit anderen Worten eine vorreflexive Zeit für mich. Auch eine vorliterarische. Und auf ihre Weise vorgeschichtliche. Mit den Jahren, als mein Zuhören bewußter wurde, kletterte ich immer auf die eine Armlehne unseres großen Sofas, um mein Ohr näher an den Lautsprecher zu halten. Aber es waren immer noch nicht die Nachrichten, die mich interessierten; ich war auf die Spannung von Erzähltem aus, z.B. der Hörfolge über einen englischen Spezialagenten namens Dick Barton oder auch die Funkbearbeitung einer von Captain W.E. Johns Abenteuergeschichten über ein Royal-Air-Force-Flieger-As namens Biggles. Nun, da die anderen Kinder älter waren und soviel Trubel in der Küche war, mußte ich mich ganz nah an das Radio setzen, um mich aufs hören zu konzentrieren, und in dieser angespannten Nähe zur Senderskala wurde ich mit den Namen ausländischer Stationen, wie Leipzig und Oslo und Stuttgart und Warschau und, natürlich, Stockholm, vertraut. Ich gewöhnte mich auch an kurze Explosionen von Fremdsprachen, während der Senderanzeiger von BBC zu Radio Eriwan fuhr, von der Londoner Intonation zu der von Dublin, und obwohl ich bei diesen ersten Begegnungen mit den Kehl- und Zischlauten europäischen Redens nicht verstand, was gesagt wurde, hatte ich schon eine Reise in die Weite der Welt außerhalb begonnen. Dies wiederum wurde eine Reise in die Weite der Sprache, eine Reise, bei der jeder erreichte Punkt – ob in der eigenen Dichtung oder im eigenen Leben – sich eher als Sprungbrett denn als Ziel erwies, und diese Reise ist es, die mich nun an diesen ehrenvollen Ort gebracht hat. Und doch empfinde ich das Podium hier eher wie eine Raumstation als wie ein Sprungbrett, weshalb ich mir einmal in meinem Leben den Luxus gestatte, auf Luft zu gehen.

Ich schreibe der Dichtkunst das Verdienst zu, diesen Raumspaziergang ermöglicht zu haben. Ich schreibe es ihr unmittelbar wegen einer Zeile zu, die ich unlängst schrieb, in der ich mich (und jeden, der sonst noch zuhörte), anhielt, „wider besseres Wissen auf Luft zu gehen“. Doch letztlich schreibe ich es ihr zu, weil die Dichtkunst eine Ordnung herstellen kann, die die Einwirkung der äußeren Realität so wahrheitsgetreu wiedergibt und so empfindlich ist für die inneren Gesetze des Seins des Dichters wie die kleinen Wellen, die sich über das Wasser jenes Kücheneimers vor fünfzig Jahren nach innen und nach außen kräuselten. Eine Ordnung, in der wir endlich zu dem erwachsen können, was wir im Aufwachsen angesammelt haben. Eine Ordnung, die alles befriedigt, worauf die Intelligenz aus ist und wonach die Gefühle gieren. Ich schreibe der Dichtkunst das Verdienst zu, daß sie ist, was sie ist, und daß sie eine Hilfe ist, daß sie eine fließende und kräftigende Verbindung zwischen dem Zentrum des Geistes und seiner Peripherie ermöglicht, sowie zwischen dem Kind angesichts des Wortes „Stockholm“ auf der Radioskala und dem Mann angesichts der Gesichter, denen er in diesem höchst bedeutungsvollen Augenblick begegnet. Ich sage ihr Dank, weil ihr in unserer Zeit und zu allen Zeiten Dank dafür gebührt, daß sie lebenswahr ist.

Anfänglich wollte ich, daß dieses Lebenswahre an ihr konkret zuverlässig sei, und freute mich am meisten, wenn das Gedicht höchst direkt zu sein schien, eine unverblümte Darstellung der Welt, für die es stellvertretend war, für die es stand oder gegen die es seine Stellung behauptete. Als Schüler liebte ich John Keats Ode „An den Herbst“, weil sie den Vertrag zwischen Sprache und Empfinden enthielt; als Jüngling liebte ich Gerhard Manley Hopkins für die lntensität seiner Aufschreie, die auch Gleichungen für ein Entzücken und einen Schmerz waren, von denen ich nicht genau wußte, daß ich sie kannte, bis ich ihn las; ich liebte Robert Frost für seine bäuerliche Genauigkeit und seine raffinierte Nüchternheit; und auch Chaucer aus etwa den gleichen Gründen. Später sollte ich in den Kriegsgedichten von Wilfried Owen eine andere Art von Genauigkeit finden, eine moralische Nüchternheit, auf die ich stark reagierte und immer reagieren werde – Gedichte, in denen eine neu testamentarische Sensibilität den Schock der Barbarei des neuen Jahrhunderts erleidet und aufnimmt. Noch später begegnete ich in Elizabeth Bishops konsequenter Reinheit, in Robert Lowells absoluter Hartnäckigkeit und in Patrick Kavanaghs unverhüllter Konfrontation weiteren Gründen für meinen Glauben an die Fähigkeit – und Verantwortung – der Dichtkunst, zu sagen, was geschieht, „den Planeten zu bemitleiden“, „nicht an Dichtkunst interessiert“ zu sein.
Diese Veranlagung für eine Kunst, die ehrlich ist und sich den Dingen widmet, wie sie sind, wurde bestärkt durch die Erfahrung, in Nordirland geboren und aufgewachsen zu sein und mit diesem Ort gelebt zu haben, obwohl ich das vergangene Vierteljahrhundert außerhalb von ihm gelebt habe. Kein Ort der Welt ist stolzer auf seine Wachsamkeit und seinen Realismus, kein Ort hält sich für berechtigter, jeden rhetorischen Schnörkel, jeden Drang nach Extravaganz zu tadeln. So konnte ich, teilweise weil ich diese Haltung dadurch verinnerlicht hatte, daß ich mit ihr aufwuchs, und teilweise weil ich mir eine Haut zugelegt hatte, um mich vor ihr zu schützen, jahrelang der Opulenz und dem Ausladenden so verschiedener Dichter wie Wallace Stevens und Rainer Maria Rilke halb aus dem Weg gehen, halb widerstehen und so die kristallklare Innerlichkeit einer Emily Dickinson mit all den verästelten Assoziationsblitzen und -sprüngen nur unzureichend würdigen und mir Eliots visionäre Fremdartigkeit entgehen lassen. Diese mehr oder weniger verklemmte Haltung wurde noch verstärkt durch die Weigerung, dem Dichter mehr Freiheiten einzuräumen als einem beliebigen anderem Bürger; und sie wurde noch weiter dadurch gefördert, daß man sich als Dichter zu einer Situation andauernder politischer Gewalt und öffentlicher Erwartung verhalten mußte. Einer öffentlichen Erwartung, muß dazu gesagt werden, nicht nach Dichtung als solcher, sondern nach politischen Stellungnahmen, denen wechselseitig nicht übereinstimmende Gruppen zustimmen konnten.
In solchen Situationen sehnt sich der Geist noch immer danach, sich in dem auszuruhen, was Samuel Johnson einst mit grandiosem Vertrauen „die Stabilität der Wahrheit“ nannte, selbst wenn er das Destabilisierende seiner eigenen Operationen und Untersuchungen erkennt. Ohne theoretisch geschult sein zu müssen, wird dem Bewußtsein schnell klar, daß es der Sitz widerstreitender Diskurse ist. Das Kind im Schlafzimmer, das gleichzeitig dem heimischen irischen Dialekt und der offiziellen Sprache des Rundfunksprechers lauscht, während es hinter beiden die Signale irgendeiner anderen Not auffängt, jenes Kind wurde schon für die Komplexität seines Dilemmas als Erwachsener geschult, für eine Zukunft, in der es zwischen verschiedenen ethischen, ästhetischen, moralischen, politischen, metrischen, skeptischen, kulturellen, aktuellen, allgemeinen, postkolonialen und, alle zusammengenommen, schier unmöglichen Stimmen zu entscheiden haben sollte.
So erging es mir, als ich Mitte der siebziger Jahre in einem anderen kleinen Haus, diesmal in der Grafschaft Wicklow südlich von Dublin, mit meiner eigenen jungen Familie und einem etwas weniger imposanten Radioapparat lebte und dem Regen in den Bäumen und den Nachrichten von in nächster Nähe fallenden Bomben lauschte – nicht nur von den Attentaten der provisorischen IRA in Belfast, sondern von genauso entsetzlichen Anschlägen paramilitärischer Loyalisten aus dem Norden in Dublin. Ich fühlte mich schwach in meinem Dilemma, als ich über die tragische Logik in Ossip Mandelstams Schicksal in den dreißiger Jahren las, und ich fühlte mich in Frage gestellt, jedoch standhaft in meinem Status als Nichtkämpfer, als ich zum Beispiel hörte, daß ein besonders gutmütiger Schulfreund wegen des Verdachts, an einem politischen Mord beteiligt gewesen zu sein, ohne Gerichtsverfahren interniert worden war. Wonach ich mich sehnte, war nicht unbedingt Stabilität, sondern ein aktiver Ausweg aus dem Treibsand des Relativismus, ein Weg, der Dichtkunst ohne Angst und Apologie zu trauen. Aus diesem Bedürfnis heraus schrieb ich damals das Gedicht „Ausgesetzt“.

Träfe ich doch auf einen Meteoriten!
Stattdessen steife ich durch klammes Laub
Und Fruchthülsen, das verbrauchte Glück des Herbstes.

Und denk mir einen Helden,
Der, auf schlammigem Lager
Sein Talent wie einen Katapultstein
Für die Verzweifelten verschleudert.

Wie bin ich so weit gekommen?
Ich erinnre mich oft der schönen
Funkelnden Ratschläge meiner Freunde
Und der Amboßhirne derer, die mich hassen,

Während ich dasitze und endlos
Meine einklagbaren Tristiae wäge.
Wofür? Für das Ohr? Für das Volk?
Für das Rückengeflüster?

Regen dringt durch die Erlen.
Seine leisen Dienerstimmen
Murmeln von Demütigungen und Verschleiß;
Und doch mahnt jeder Tropfen

Ans diamantene Absolute.
Ich bin weder Gefangener noch Spitzel;
Ein innerer Emigrant, langhaarig
Und gedankenvoll; ein hölzerner Bauernlümmel,

Der dem Massaker entkam,
Tarnfarbe annimmt
Von Baum und Borke
Und jeden Windhauch spürt;

Der um dürftige Hitze
Diese Funken aufblies
Und dabei das Lebenswunder versäumte,
Die pulsende Rose des Kometen.

In einem Gedicht, das die meisten Studenten meiner Generation kannten, einem Gedicht, von dem man sagen könnte, es habe die Nährstoffe des Symbolismus aufgenommen und sie in Kapselform zugänglich gemacht, erklärt der amerikanische Dichter Archibald MacLeish, „Dichtung sollte entsprechend, nicht wahr sein“. Als herausfordernde Aussage über die Gabe der Dichtkunst, die Wahrheit zu sagen, sie aber verschoben zu sagen, ist dies zugleich zwingend und ausgleichend. Doch es gibt Zeiten, in denen ein tieferes Bedürfnis hinzukommt, in denen das Gedicht nicht nur angenehm passend, sondern unwiderstehlich weise sein soll, nicht nur eine überraschende Variation auf die Welt, sondern ein Neustimmen der Welt selbst. Die Überraschung soll transitiv sein, wie der ungeduldige Daumen, der unerwartet das Bild auf den Fernsehschirm zurückbringt, oder wie der Elektroschock, der das flimmernde Herz wieder in seinen richtigen Rhythmus bringt. Wir wollen, was die Frau wollte, die unter Stalins Schreckensherrschaft blau vor Kälte und vor Angst flüsternd im Leningrader Gefängnis in der Schlange stand und die Dichterin Anna Achmatowa fragte, ob sie all das beschreiben könne, ob ihre Kunst dem entsprechend sein könne. Das ist der Wunsch, den auch ich in der viel geschützteren Situation in der Grafschaft Wicklow empfand, als ich die eben zitierten Zeilen schrieb, ein Bedürfnis nach Dichtung, die die Definition verdienen würde, die ich vorhin formuliert habe: eine Ordnung, „die die Einwirkung der äußeren Realität wahrheitsgetreu wiedergibt und empfänglich ist für die inneren Gesetze des Seins des Dichters“.

Die äußere Realität und innere Dynamik der Ereignisse in Nordirland zwischen 1968 und 1974 waren Symptome für Veränderungen, zugegebenermaßen gewaltsamen Veränderungen, aber immerhin Veränderungen, die für die dort lebende Minderheit schon lange überfällig waren. Sie hätten als Ergebnis des gärenden Protests auf der Straße in den späten sechziger Jahren eher eintreten sollen, aber dazu kam es nicht, und die Eier der Gewalt, die ständig ausgebrütet werden, reiften sehr schnell. Während der christliche Moralist in einem genötigt war, die Grausamkeit des IRA-Feldzugs mit Bomben und Morden zu beklagen, und der „Ire als solcher“ in einem bei Anlässen wie dem Blutigen Sonntag 1972 in Derry entsetzt war über die Brutalität der britischen Armee, stimmte die Auffassung des Minderheitenangehörigen in einem, der in dem Bewußtsein aufgewachsen war, daß diese Gruppe auf alle möglichen offiziellen und inoffiziellen Arten mißtrauisch behandelt und diskriminiert wurde, mit der dichterischen Wahrheit der Situation in der Erkenntnis überein, daß, wenn das Leben in Nordirland je wirklich gedeihen sollte, Veränderungen stattfinden mußten. Doch die Auffassung jenes Minderheitenangehörigen stimmte auch mit der Wahrheit der Erkenntnis überein, daß die Brutalität der Mittel, mit denen die IRA die Veränderungen herbeiführen wollte, das Vertrauen zerstörte, auf dem neue Möglichkeiten aufgebaut werden sollten.
Bis die englische Regierung nach der Sunningdale Konferenz von 1974 der Gewaltstrategie der loyalistischen Arbeiter von Ulster nachgab, konnte ein freundlich gesonnener Geist noch hoffen, die Situation zu verstehen, das Vielversprechende und das Zerstörerische auszugleichen und zu tun, was W.B. Yeats ein halbes Jahrhundert zuvor zu tun versucht hatte, nämlich „Wirklichkeit und Gerechtigkeit in einen Gedanken zu fassen“. Nach 1974 jedoch und in den zwanzig langen Jahren von da an bis zur Waffenruhe vom August 1994 erwies sich eine solche Hoffnung als unmöglich. Die Gewalt von unten brachte nichts anderes hervor als gewalttätige Vergeltung von oben, der Traum von Gerechtigkeit ging in der fühllosen Härte der Wirklichkeit unter, und die Menschen lebten sich ein in ein Vierteljahrhundert vergeudeten Lebens und vergeudeten Geistes, sich verhärtender Haltungen und sich verringernder Möglichkeiten – das natürliche Ergebnis politischer Solidarität, traumatischen Leidens und reinem, emotionalem Selbstschutz.

Einer der erschütterndsten Augenblicke der ganzen herzerschütternden Geschichte Nordirlands kam, als an einem Januarabend im Jahr 1976 ein mit Arbeitern vollbesetzter Kleinbus auf dem Heimweg von bewaffneten und maskierten Männern angehalten wurde und die Insassen mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurden, sich am Straßenrand aufzustellen. Dann sagte einer der maskierten Henker: „Katholiken vortreten.“ Zufällig waren in dieser Gruppe bis auf eine Ausnahme alle Protestanten, so daß man annehmen mußte, die Maskierten seien paramilitärische Protestanten, die in einer Vergeltungsaktion den nicht dazugehörigen Katholiken ermorden wollten, weil er vermutlich mit der IRA und ihren Aktionen sympathisierte. Zwischen Furcht und dem Wunsch zum Bekenntnis hin und her gerissen, war es für den Katholiken ein schrecklicher Augenblick, aber er machte eine Bewegung vorzutreten. Da, in diesem entscheidenden Sekundenbruchteil und im relativen Schutz der Winterabenddunkelheit, fühlte er, wie die Hand des protestantischen Arbeiters neben ihm seine Hand nahm und sie als Zeichen drückte, das besagte, nein, beweg dich nicht, wir werden dich nicht verraten, niemand braucht zu wissen, zu welcher Konfession oder Partei du gehörst. Vergebens, der Mann trat vor, doch statt eine Pistole an seiner Schläfe zu fühlen, wurde er beiseite gestoßen, als der Bewaffnete das Feuer auf die in der Reihe Stehenden eröffnete, denn es waren keine protestantischen Terroristen, sondern vermutlich Mitglieder der provisorischen IRA.

Es fällt mitunter schwer, den Gedanken zu unterdrücken, daß Geschichte etwa so lehrreich ist wie ein Schlachthaus und daß Tacitus recht damit hatte, daß Frieden nur die nach den entscheidenden Einsätzen erbarmungsloser Macht hinterlassene Trostlosigkeit sei. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß ich mich selbst mit einem Gedanken über jenen Freund schockierte, der in den siebziger Jahren wegen des Verdachts der Beteiligung an einem politischen Mord im Gefängnis saß: ich schockierte mich selbst mit dem Gedanken, daß er, sogar wenn er schuldig war, vielleicht trotzdem zur Geburt der Zukunft beitragen könne, indem er auf die einzig wirksame Weise, d.h. die gewaltsame – die daher im weiteren Sinne die richtige Weise wurde – die repressiven Formen durchbrach und ein neues Potential freisetzte. Es war, wie einen Moment lang interstellarer Kälte ausgesetzt zu sein, eine Erinnerung an das furchterregende innere und äußere Element, in dem Menschen ihr Leben sich vorstellen und führen müssen. Aber es war nur ein Moment. Die Geburt der Zukunft, die wir uns wünschen, ist wohl in dem warmen Druck enthalten, die der angsterfüllte Katholik am Straßenrand fühlte, als eine Hand die seine ergriff, und nicht in den so absoluten und so trostlosen folgenden Schüssen, so sehr sie auch Teil der Musik des Geschehens sein mögen.
Als Schreiber und Leser, als Sünder und Bürger macht uns unser Realismus und unser ästhetischer Sinn mißtrauisch, dem positiven Ton zu trauen. Gerade die Schüsse bestärken uns, und das Entsetzliche verleiht der Anstrengung, die es hervorruft, um sich ihm zu stellen, einen Wert. Wir haben zu Recht Ehrfurcht vor der Zerrissenheit in der Dichtung Paul Celans und sind zu Recht entzückt von der seufzenden Stimme bei Samuel Beckett, weil sie ein Beweis dafür sind, daß die Kunst sich der Lage gewachsen zeigen kann und gleichsam die Entsprechung zu Celans leidvollem Schicksal als Überlebender des Holocaust und zu Becketts nüchternem Heroismus als Mitglied des französischen Widerstands sein kann. Ebenso sind wir zu Recht argwöhnisch gegenüber dem, was unter diesen Umständen zuviel Trost bietet; gerade das Extreme unseres Wissens im späten 20. Jahrhundert stellt viel von unserem kulturellen Erbe auf eine äußerste Probe. Nur die sehr Dummen oder sehr Unterprivilegierten können weiterhin nicht wissen, daß die Dokumente der Zivilisation mit Blut und Tränen geschrieben wurden, Blut und Tränen, die, weil in weiter Ferne, deshalb nicht weniger real sind. Und wenn diese intellektuelle Einstellung gleichzeitig mit den Gegebenheiten in Ulster und Israel und Bosnien und Ruanda und einer ganzen Zahl anderer offener Wunden auf der Erde vorhanden ist, ist man nicht nur geneigt, der menschlichen Natur kein allzu konstruktives Potential zuzutrauen, sondern dem Kunstwerk überhaupt nichts allzu Positives zuzutrauen.
Aus diesem Grund saß ich jahrelang über meinen Schreibtisch gebeugt wie ein Mönch über sein Betpult, ein pflichtbewußter Kontemplativer, der in dem Versuch, sein Teil des Gewichts der Welt zu tragen, sein Begriffsvermögen dreht und wendet, obwohl er um seinen Mangel Heldenmut und Erlösungskraft weiß, seinen Ordensregeln gehorchend aber gezwungen ist, Mühe und Pose zu wiederholen. Funken zu einem kärglichen Feuer anzufachen. Den Glauben zu vergessen und gute Werke anzustreben. Unzulänglich nach den diamantenen Absoluten zu trachten, zu denen das sich selbst Genügen des absolut Imaginierten zählt. Zu guter Letzt schließlich und nicht der schmerzlichen Lage in meiner Heimat gehorchend, sondern ihr zum Trotz, richtete ich mich auf. Vor ein paar Jahren begann ich mit dem Versuch, in meinem Denken und Vorstellen dem Wunderbaren als auch dem Mörderischen Raum zu geben. Wieder möchte ich das Wichtige an dieser veränderten Orientierung mit einer Geschichte aus Irland darzustellen versuchen.

Es ist die Geschichte eines anderen Mönchs, der tapfer seine Pose durchhält. Es wird erzählt, Sankt Kevin habe einmal mit kreuzförmig ausgebreiteten Armen in Glendalough gekniet, einem Kloster unweit unseres Wohnorts in der Grafschaft Wicklow, einem der bis heute wald- und regenreichsten Winkel dieses Landes. Während Sankt Kevin nun kniete und betete, verwechselte eine Amsel seine ausgestreckte Hand mit einer Stange, ließ sich darauf nieder, legte ihre Eier hinein und brütete darin, als wäre es der Ast eines Baumes. Voller Mitleid und von seinem Glauben angehalten, das Leben in allen Geschöpfen, ob groß, ob klein, zu lieben, hielt Kevin seine Hand für Stunden und Tage, für Nächte und Wochen ausgebreitet, bis die Kleinen geschlüpft und flügge waren, dem Leben getreu, wenn auch dem gesunden Menschenverstand zuwider, am Schnittpunkt von natürlichem Prozeß und dem flüchtig erblickten Ideal, zugleich ein Wegweiser und ein Mahner. In einer Bekundung jener Ordnung der Dichtkunst, in der wir Menschen endlich zu dem erwachsen, was wir im Aufwachsen angesammelt haben.

Sankt Kevins Geschichte ist, wie gesagt, eine Geschichte aus Irland. Doch mir fällt auf, daß sie genauso gut aus Indien oder Afrika oder der Arktis oder aus Amerika sein könnte. Womit ich sie nicht bloß einer Typologie von Volksmärchen zuordnen oder ihren Wert bestreiten will, indem ich ihren an eine Kultur gebundenen Status in einem multikulturellen Kontext in Frage stelle. Im Gegenteil haben ihre Gültigkeit und ihre Übertragbarkeit mit ihrer lokalen Umgebung zu tun. Natürlich kann ich mir vorstellen, daß sie heutzutage als ein Paradigma für den Kolonialismus dekonstruiert werden könnte, mit Kevin als dem hilfsbereiten Imperialisten (oder dem Missionar im Gefolge des Imperialisten), als dem, der sich in das Eingeborenenleben einmischt und in dessen ursprüngliche Ökologie eingreift. Und ich muß zugeben, daß es tatsächlich eine Ironie darstellt, daß es eben ein solcher war, der dieses Beispiel für die wahre Schönheit des irischen Kulturerbes niedergeschrieben und überliefert hat. Die Geschichte von Kevin findet sich nämlich in den Schriften von Giraldus Cambrensis, einem der Männer, die Irland im 12. Jahrhundert eroberten, einem, den Geoffrey Keating, der Chronist der irischen Sprache, fünfhundert Jahre später „den Leitbullen jener, die die falsche Geschichte Irlands geschrieben haben“, nennen sollte. Aber dennoch kann ich nicht glauben, daß diese Bekundung früher christlicher Zivilisation einfach nur als Hinweis auf all das ausgelegt werden sollte, was in unserer Geschichte, der vergangenen wie der gegenwärtigen, ausbeuterisch und barbarisch sein mag. Sie scheint mir eher ein anderes Beispiel für jene Art von Werk zu sein, das ich vor wenigen Wochen in dem kleinen Museum in Sparta sah, an eben dem Morgen, als der diesjährige Literaturnobelpreisträger bekanntgegeben wurde.
Dies war Kunst, deren Ursprung in einem von Sankt Kevins Glauben sehr verschiedenen Kult lag. Doch sie stellte einen auf einem Ast sitzenden Vogel und ein verzücktes wildes Tier und einen selbstvergessenen Mann dar, nur daß der Mann hier Orpheus war und die Selbstvergessenheit eher von Musik als vom Beten kam. Das Werk selbst war ein kleines gemeißeltes Relief, und ich mußte einfach eine Skizze davon machen, so wie ich auch die Angaben abschreiben mußte, die auf dem Kärtchen neben dem Exponat standen. Das Bild rührte mich wegen seines Alters und seiner Haltbarkeit, aber die Beschreibung auf der Karte rührte mich auch, weil es dem einen Namen und Glauben schenkte, dem ich mich in den letzten drei Jahrzehnten gewidmet habe: „Votivtafel“, stand auf dem Kärtchen, „vermutlich von lokalem Dichter für Orpheus aufgestellt. Lokales Werk des Hellenismus.“

Wieder kann ich nur hoffen, daß ich nicht sentimental bin oder nur das Lokale fetischisiere, wie wir gelernt haben, das zu nennen. Vielmehr möchte ich darauf hindeuten, daß Bilder und Geschichten, wie die hier erwähnten, als Träger von Werten dienen. Das Jahrhundert hat die Niederwerfung des Nationalsozialismus durch Waffengewalt erlebt; doch der Zusammenbruch des Sowjetregimes wurde unter anderem dadurch verursacht, daß unter der aufgezwungenen ideologischen Konformität kulturelle Werte und psychische Widerstände fortbestanden hatten, wie sie in diesen Geschichten und Bildern enthalten sind. Auch wenn wir gelernt haben, die Erhebung der kulturellen Formen und Überlieferungen einer Nation zu normativen und exklusiven Systemen zu Recht und zutiefst zu fürchten, auch wenn wir den schrecklichen Beweis dafür haben, daß Stolz auf ein ethnisches oder religiöses Erbe schnell ins Faschistische ausarten kann, sollte unsere Wachsamkeit in dieser Hinsicht unsere Liebe und unser Vertrauen in das Gute des Einheimischen als solches nicht verdrängen. Im Gegenteil sollte das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit und die Übertragbarkeit eines solchen Gutes uns ermutigen, an die Möglichkeit einer Welt zu glauben, in der der Respekt für die Geltung jeder Tradition zur Schaffung und Erhaltung eines zuträglichen politischen Raums führt. Trotz wiederholter verheerender Mord-, Massenmord- und Ausrottungsakte erwecken die gewaltigen Glaubensakte, von denen die neue Beziehung zwischen Palästinensern und Israelis, schwarzen und weißen Südafrikanern getragen war, und die Art, wie in Europa Mauern gefallen sind und eiserne Vorhänge sich geöffnet haben, eine Hoffnung, daß sich auch in Irland neue Möglichkeiten eröffnen können. Der Haken an diesem Problem ist die andauernde Teilung der Insel in eine britische und eine irische Rechtsprechung und eine ebenso bleibende Teilung des Gefühls für das britische und das irische Erbe in Nordirland. Aber bestimmt wird jeder Bewohner des Landes hoffen, daß die mit seiner Führung betrauten Regierungen Institutionen ersinnen können, mit denen diese Teilung ein wenig mehr so etwas wie das Netz auf einem Tennisplatz werden kann: eine Grenzlinie, die ein reges Geben und Nehmen, Sichbegegnen und Sichbehaupten erlaubt und so eine Zukunft vorwegnimmt, in der die Energie, die anfangs von den aufmunternden Worten „Feind“ und „Alliierte“ ausging, endlich von einem weniger binären und alles in allem weniger festlegenden Vokabular herkommen möge.

Als vor mehr als siebzig Jahren der Dichter W.B. Yeats auf diesem Podium stand, erholte sich Irland gerade von den Schmerzen eines traumatischen Bürgerkriegs, der schnell auf einen Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer gefolgt war. Der Kampf war zwar kurz gewesen im Mai 1923, gut sieben Monate bevor Yeats nach Stockholm fuhr, war er vorüber −, aber er war blutig, wild und inbrünstig, und er sollte für die kommenden Generationen die Bedingungen der Politik innerhalb der sechsundzwanzig unabhängigen Grafschaften Irlands diktieren, jenes Teils der Insel, der zuerst als Irischer Freistaat und später dann als Republik Irland bekannt war.
Yeats machte in seiner Nobelpreisrede kaum eine Andeutung auf den Bürgerkrieg oder den Unabhängigkeitskrieg. Niemand verstand die Verwandtschaft zwischen dem Aufbau oder der Zerstörung von staatlichen Institutionen und der Begründung oder dem Untergang von Kulturleben besser als er, aber bei dieser Gelegenheit entschied er sich, statt dessen über das Irish Dramatic Movement zu sprechen. Seine Rede behandelte das schöpferische Vorhaben jener Bewegung und ihr geschichtliches Glück, nicht nur von ihrem eigenem Genie, sondern auch vom Genie ihrer Freunde John Millington Synge und Lady Augusta Gregory gefördert zu werden. Er kam nach Schweden, um der Welt zu sagen, daß die Arbeit der lokalen Dichter und Dramatiker für die Veränderung seiner Heimat und seiner Zeit ebenso wichtig gewesen sei wie die Überfälle von Guerilla-Armeen; und sein Stolz auf diese erhabene Prosa war im wesentlichen der gleiche, die er ein Jahrzehnt später in seinem Gedicht „The Municipal Gallery Revisited“ in Versen ausdrücken sollte. Darin stellt sich Yeats zwischen den Porträts und heroischen Historiengemälden dar, die die Ereignisse und Persönlichkeiten der jüngsten Geschichte feiern, und erkennt plötzlich, daß etwas wirklich Epochemachendes geschehen ist:

This is not, I say
The dead Ireland of my youth, but an Ireland
The poets have imagined, terrible and gay.

Und das Gedicht endet mit zwei der meistzitierten Zeilen seines ganzen Werks:

Think where man’s glory most begins and ends,
And say my glory was I had such friends.

Du fragst, wo Ruhm beginne, Ruhm ermatte.
Mein Ruhm war, daß ich solche Freunde hatte.

Doch so überschwenglich und aufregend diese Zeilen auch sein mögen, sind sie doch ein Beispiel für Dichtung, die sich eher selbst gefällt, als daß sie sich selbst beweist, sie sind die Ehrenrunde des Dichters, und in dieser Hinsicht, und nur in dieser, ähneln sie dem, was ich mit dieser Rede tue. Tatsächlich sollte ich hier, an mich selbst gerichtet, noch einige Worte aus diesem Gedicht zitieren: „You that would judge me, do not judge alone / This book or that.“ Statt dessen bitte ich Sie, wie Yeats seine Zuhörer bat, an die Werke irischer Dichter und Dramatiker aus den vergangenen vierzig Jahren zu denken, von denen ich stolz einige zu meinen guten Freunden zähle. In literarischen Dingen riet Ezra Pound davon ab, die Meinung derer zu akzeptieren, „die selbst nichts Bedeutendes geschaffen haben“ ein Rat, den ich das Privileg hatte zu befolgen, da es die gute Meinung bedeutender Schöpfer war – und nicht nur solcher in meinem eigenen Land −, die mich in meinem Bemühen bestärkt haben, seit ich vor mehr als dreißig Jahren in Belfast zu schreiben anfing. Das Irland, in dem ich jetzt lebe, ist eines, das diese irischen Zeitgenossen zu imaginieren geholfen haben.
Yeats war jedoch keineswegs selbstgefällig. In jeder Würdigung der Dichtkunst unseres Jahrhunderts müssen seine großen Gedichtzyklen Nineteen Hundred an Nineteen und Meditations in Time of Civil War gewiß erwähnt werden. Letzterer enthält das berühmte lyrische Gedicht über das Vogelnest an seinem Fenster, wo sich ein Star in einer Mauerritze eingenistet hat. Der Dichter lebte damals in einem normannischen Turm, der in früheren, gleichermaßen unruhigen Zeiten eine wichtige Rolle in der Militärgeschichte des Landes gespielt hatte, und als ihm die Ironie großer, von gewaltsamen, mächtigen Eroberern begründeten Kulturen in den Sinn kam, die schließlich Aufträge an Künstler und Architekten vergaben, begann er den Anblick der Vogelmutter, die ihr Junges füttert, mit dem Bild der Honigbiene zu assoziieren, einem in der dichterischen Tradition fest verankertes Bild für das Ideal eines emsigen, friedlichen, förderlichen Gemeinwesens.

Die Bienen bauen in den Ritzen
Der morschen Mauer; Jahr um Jahr
Bringt die Vogelmutter Stibiztes.
Meine Mauer ist morsch; ihr Süßen, Gewitzten,
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Wir hocken hinter verschloßner Tür,
Eingesperrt und verzagt; im Park
Wird getötet; das Haus ist lädiert,
Und keiner, der Bescheid weiß hier:
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Ein Kugelfang aus Stein und Schrott;
Zwei Wochen Bürgerkrieg, Gefahr;
Sie schleiften durch den Straßenkot
Den jungen Söldner, blutigrot:
Kommt, baut im leeren Haus des Stars.

Wir nährten das Herz mit Phantasien,
Das roh gedieh von diesem Mahl;
Der Haß gebiert mehr Energie
Als unsre Liebe; o Honigbienen,
Kommt, baut im leeren Nest des Stars.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren habe ich immer wieder Menschen dieses Gedicht ganz oder teilweise aufsagen hören – kein Wunder, denn es sieht das Leben so sanftmütig wie Sankt Kevin, und das, was in und mit dem Leben geschieht, so knallhart wie Homer. Es weiß, daß das Massaker am Straßenrand wieder geschehen wird, daß gleich nach Feierabend die Arbeiter aus dem Kleinbus wieder aufgestellt und erschossen werden. Aber es erkennt auch den Händedruck, das Vorhandensein von Sympathie und Hilfsbereitschaft zwischen Lebewesen als Realität an. Es befriedigt die konträren Bedürfnisse, die unser Bewußtsein in Grenzsituationen aufweist, das Bedürfnis nach dem Aussprechen der Wahrheit, die hart sein wird, und das Bedürfnis, sich nicht so sehr zu verhärten, daß es die ihm eigene Sehnsucht nach Sanftheit und Vertrauen verleugnet. Es beweist, daß Dichtung zugleich entsprechend und wahr sein kann, es ist ein Beispiel für die ganz und gar angemessene Dichtung, die die russische Frau von Anna Achmatowa verlangte und die William Wordsworth vor fast genau zweihundert Jahren in einem entsprechenden Augenblick geschichtlicher Krise und persönlichen Schreckens schuf.
Wenn der Barde Demodokos den Fall von Troja und das ihn begleitende Gemetzel besingt, weint Odysseus, und Homer sagt, daß seine Tränen wie die eines Weibes auf einem Schlachtfeld sind, das den Tod eines gefallenen Ehemanns beweint. Sein epischer Vergleich geht folgendermaßen weiter:

Jene sieht ihn jetzt mit dem Tode ringend und zuckend,
Schlingt sich um ihn und heult laut auf; die Feinde von hinten
Schlagen wild mit der Lanze den Rücken ihr und die Schultern,
Binden und schleppen als Sklavin sie fort zu Jammer und Arbeit;
Und im erbärmlichen Elend verblühn ihre reizenden Wangen:
So zum Erbarmen entstürzt’ Odysseus’ Augen die Träne.
Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne;

Sogar heute noch, dreitausend Jahre später, wo wir auf allen Kanälen über so viele Life-Berichte zeitgenössischer Barbarei surfen, hochgradig informiert, aber dennoch in Gefahr, unempfindlich zu werden, bis zur intimen Kenntnis mit alten Dokumentarfilmen über das Konzentrationslager und den Gulag vertraut, kann uns Homers Bild noch zur Vernunft bringen. Die Gefühllosigkeit der Lanzen auf dem Rücken und den Schultern der Frau überlebt die Zeit und die Übersetzung. Das Bild besitzt jene dokumentarische Angemessenheit, die allem entspricht, was wir über das Unerträgliche wissen.
Aber es gibt eine andere Art von Angemessenheit, die für lyrische Dichtung charakteristisch ist. Sie hat zu tun mit dem „Tempel im Innern unseres Hörens“, der beim Erklingen des Gedichts entsteht. Es ist eine Angemessenheit, die von dem herrührt, was Mandelstam „die Beständigkeit von sprachlicher Artikulation“ nannte, von der Standhaftigkeit und Unabhängigkeit, die das vollkommen verwirklichte Gedicht fördert. Sie hat ebensoviel zu tun mit der durch linguistische Spaltung und Verschmelzung freigesetzte Energie, mit dem von Kadenz und Ton und Reim und Stanze erzeugten Schwung ebensoviel wie mit dem Anliegen des Gedichts und der Wahrhaftigkeit des Dichters. In lyrischer Dichtung ist Wahrhaftigkeit nämlich als ein Klang von Wahrheit innerhalb des Mediums selbst erkennbar. Die rastlose Suche nach diesem Ton, einem Ton, der von Emily Dickinson und Paul Celan am extremsten angeschlagen und von John Keats am opulentesten orchestriert wurde, ist das, wonach das Ohr des Dichters angespannt lauscht, um die absolut überzeugende Stimme hinter all den anderen berichterstattenden Stimmen zu hören.
Damit will ich sagen, daß ich eigentlich nie ganz von der Armlehne jenes Sofas heruntergeklettert bin. Ich mag aufmerksamer für die Nachrichten und bewußter für die Weltgeschichte und den Weltkummer dahinter geworden sein. Aber das von dem Sprecher gesprochene Ding, nach dem ich angespannt lausche, ist immer noch nicht ganz die Erzählung dessen, was geschieht; es ist reflexiver, denn als Dichter lausche ich tatsächlich angespannt auf eine Spannung, womit ich meine, daß die Anstrengung in dem durch eine musikalisch befriedigende Ordnung von Lauten hergestellten Gleichgewicht aufgehoben sein muß. So als sehne sich das Kräuseln in seiner weitesten Ausdehnung danach, durch eine Neugestaltung seiner selbst bestätigt zu werden, danach, durch seinen Ausgangspunkt hinein- und hinausgezogen zu werden.
Darauf lausche ich auch angespannt in der Dichtung, die ich lese. Und ich finde es zum Beispiel in der Wiederholung jenes Kehrreims von Yeats’ „Come build in the empty hause of the stare“, mit seinem flehenden Ton, seinen Angelpunkten von Kraft in den Worten „build“ und „house“ und seinem Eingeständnis der Auflösung in dem Wort „empty“. Ich finde es auch in dem Kräftedreieck, das durch den dreifachen Reim von „fantasies“ und „enmities“ und „honey-bees“ im Gleichgewicht gehalten wird, und in das absolut Zusammenpassende des ganzen Gedichts als einer gegebenen Form innerhalb der Sprache. Poetische Form ist sowohl das Schiff wie der Anker. Sie ist zugleich ein Schwung und ein Stabilisieren und läßt Raum für die gleichzeitige Befriedigung all dessen, was in Körper und Geist nach außen und nach innen strebt. Und mit diesen Mitteln bewirkt Yeats’ Werk das, was unentbehrliche Dichtung immer bewirkt, nämlich an die Wurzel unserer mitfühlenden Natur zu rühren und dabei gleichzeitig die teilnahmslose Natur der Welt einzuschließen, der diese Natur ständig ausgesetzt ist. Mit anderen Worten ist also die Form des Gedichts entscheidend, wenn es das erreichen will, was stets das Verdienst der Dichtkunst ist und sein wird: die Kraft, jenen verwundbaren Teil unseres Bewußtseins von der Richtigkeit seines Urteils zu überzeugen, auch wenn es ringsum in Frage gestellt wird, die Kraft, uns daran zu erinnern, daß wir Jäger und Sammler von Werten sind, daß selbst unsere Einsamkeiten und Nöte insofern verwertbar sind, als auch sie ein Pfand unseres wahren menschlichen Seins sind.

Seamus Heaney, 1995
Aus dem Englischen von Uli Aumüller
Die Gedichte wurden übertragen von Richard Pietraß und Johann Heinrich Voß

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Tobias Döring: Hier regiert die Zunge
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.4.2009

Volker Sielaff: Nachrichten aus dem irischen Ägypten
poetenladen.de, 13.4.2009

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Seamus Heaneys Rede zu seinem 70. Geburtstag.

 

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

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Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

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