SYZYGIUM / URSPRUNG DES FLUSSES
Fluß-Ursprung: wo selbst unter Gletschergeröll, jenen
aaaaarauhen, windgeweihten Trümmern der Rockies,
Einer, der hinhorcht, weit unten, das sanfteste
aaaaaSprudeln, ein neues Schmelzen, ein schwaches
aaaaaTröpfeln vernimmt
Und sicher weiß, dies ist die Spitze, dies, wenn auch
aaaaadie kleinste Spur,
Ist tatsächlich des Flusses äußerster Zoll.
Oder an wolkenvermummten Tagen dort oben in dichter Weiße,
Wo in der Blendung die Gipfel einander zurufen:
Fahr mit nur dem Finger über den Zweig, streich ab den Reif,
Nichts als der Dunst einer Wolke, kaum eine Feuchte.
Doch du weißt, auch dies ist Wachstum, auch dies kann Meer werden,
Das tätige Element, reines Beginnen, der bleibende Ursprung des Flusses.
Leg die Hand unters Moos, bieg um einen Farn, wend einen Stein, heb eine Senke aus –
Reine Feuchtigkeit, die geringste Nässe ist bereits dort und reicht –
Mehr ist nicht nötig zur Quelle,
Das schon ist Anfang, so schwillt der FLUSS.
Selbst das, selbst jene, aus kaum mehr, aus weniger nicht,
Aus einem jeden, aus allen, Tropfen um Tropfen, Kälte, die den Wind anstachelt,
Genügt: dies allein, in seiner Geringe, kann den Fluß gebären.
Hier nimmt die Nässe Form an, kelcht sich der Springquell,
Aus Schrundlippen, einer aufgeschlitzten Ader des verstümmelten Bergs,
Ein Befreiungsstoß – und ist rasch entschwunden.
Und spritzt und rieselt und bahnt sich den Lauf,
Bildet auf Kiesgrund sein Flußbett.
Zwei verbunden, finden ein Drittes, das Vierte saugt ein Fünftes an,
Eins nach dem andern, Schnellen hinab, über Sperren, unter Busch, an der Biegung vorbei,
Sie vermischen und verschmilzen, beginnen und strecken sich.
Das Eis der Gletscher gibt nach, das Hochland tritt seine Gabe ab.
Über die Felswände spült nun der Fluß, krümmt sich, taucht ein,
Er hat sein Maß gefunden und ist auf dem Weg.
Möge Gestein von Hängen schlittern, mögen Ponderosa-Pinien über ihn stürzen –
Stämme des Winters, aufgehäuft, sturmentrissene Wurzeln und das Bruchwerk der Wälder
Versperren Canyons – für ihn, den Fluß, sind sie nichts.
Er hat seine Kraft erlangt und läßt nicht mehr los.
Er hat sein Ziel im ersten Anfang gewittert- zurückhalten wird ihn nichts.
In seinen Eingeweiden führt er das Meer mit; Fersen in den Gipfeln, aber Kehle am Golf;
Darbringen ist seine Bestimmung.
Bringt, um zu bringen, seine ganze Libido dar: bringen ist sein Geschlecht.
Denn männlich ist der Fluß. Er scharrt Kuppen hinab,
Saugt Schlick aus dem Schwemmland, aus dem Mergel ferner Täler.
Er schleppt über weite Strecken kalten Schlamm, Begierde des Bringens,
Greift hinter sich, holt das Verbliebene nach und furcht sich fort.
Ganz Kopf: und dennoch, seine Wurzeln sind rastlos.
Ihr Bedürfnis ist Saugen, die Begierde des Vollbringens. In der Unstillbarkeit des Hungers
Zermalmt er die Kniescheiben der Berge.
Und mitreißen um hinzutragen hat nur einen Sinn: überliefern.
Darin besteht sein elementares Bedürfnis,
Dies macht seinen Urgrund aus, das tiefsehnende Geschlecht des Flusses.
(…)
Hundertjahrfeiern sind Auferstehungen und Rückbesinnungen gleichermaßen. Bei solchen Gelegenheiten scheinen die ursprünglichen Energien einer Nation nach Erneuerung zu verlangen, um den Glauben des Volks an seine mythische Herkunft wieder zu beleben. Dann erstehen und konvergieren lange unterdrückte und halb vergessene archetypische Elemente und nehmen eine Bedeutung an, die bei deren Entstehung nicht abzusehen war. Lebensweisen berühren einander, Ausblicke öffnen sich, viele nur undeutlich verstandene Zeugnisse entspringen ihrem Schoß, um sich spontan zu verbinden. Plötzlich liegt eine scharfe Klarheit über dem zuvor Dunklen und eine kurze Offenbarung erfolgt.
Diese Gedanken kamen mir, als ich jenes eigenartige Gedicht, Syzygium, für den Druck vorbereitete. Es wurde schon viele Jahre früher geschrieben, vor mehr als zwei Jahrzehnten, genau genommen im Herbst 1957, aber es lag wie ein Samenkorn schlafend in der Erde bis die Umstände es in Vibration versetzten. Durch die Zweihundertjahrfeier erwachte es aus seinem langen Schlaf, um sich zu erheben und jene Kräfte zu verkünden, die es feiert. Geschrieben im Kloster, von wo ich damals sogar als Bruder Antoninus an dem künstlerischen Aufbruch der San Francisco Renaissance teilnahm, hortete es seine Bedeutungskeime für den jetzigen historischen Anlaß. Nicht daß die Zeit selbst unfruchtbar war. Allen Ginsberg’s bahnbrechendes Gedicht „Geheul“ ging um die Welt und veränderte die Ansichten. Eine Neugeburt des Bewußtseins regte sich, alte Schranken brachen ein. Erotische Undergroundklassiker wie Lady Chatterley und Wendekreis des Krebses tauchten gerade auf. Diese heftige Gärung wehte nun ins Kloster und bewirkte das Syzygium vom Ursprung des Flusses.
Beschleunigt wurde sie durch die Einsicht, daß die religiösen und geistigen Dimensionen der Sexualität, über die in der pluralistischen Gesellschaft endlich offen gesprochen wurde, gleich zu Anfang durchgesetzt werden sollten; daß die Welle neuen Bewußtseins von authentischen Impulsen gespeist werden muß. Aber dieses Entfalten brauchte Zeit zur stufenweisen Entwicklung. Daher die lange Ruhephase.
Zunächst mußte die Sexualität in ihren schmerzhaft deutlichen und morbiden Ausprägungen erscheinen, die doch noch den alten religiösen Kern enthielten. „Geheul“ führte uns den obsessiven Wahn entwurzelter Sexualität vor, aber auch ihre tiefe religiöse Eigenschaft: „Heilig ist der Phallus!“ Lenore Kandel’s The Love Book feierte Sex anbetend und Michael McClure’s Dark Brown jubelnd. Dann folgte, ein Jahrzehnt später, die Legalisierung der Pornographie als legitime Äußerung, vor allem im Kino, aber berührte ebenso die anderen Künste. Jetzt, Mitte der Siebziger, haben wir erreicht, was als die endgültige Verweltlichung der Sexualität begrüßt wird, als ihre Entwertung, ihre Trennung vom Heiligen wie vom Profanen, ihre Loslösung von den alten Quellen der Moral und der Ekstase.
Am 4. Juli 1976 beurteilten Vertreter verschiedener Fachrichtungen in einer Bestandsaufnahme der Zweihundertjahrfeier des San Francisco-Examiner, „Die nächsten 100 Jahre“, die Zukunftstrends im Hinblick auf ihre jeweiligen Gebiete. Unter der Überschrift SEX erschien folgendes:
Eine Möglichkeit für die Zukunft ergibt sich aus dem heutigen Trend immer stärkerer Säkularisierung der Sexualität. Noch ist sie größtenteils mit Gut und Böse, Treue und Untreue verbunden und wird durch Institutionen von sozialer Wichtigkeit mit einer nachhaltigen Bedeutung versehen. Allmählich verschiebt sich ihr Wesen in die Kategorie Spaß. Beschleunigt sich dies, ist eine positive Folge, daß Sexualität nicht so wichtig sein wird, wie manche Leute annehmen. Es könnte sogar zu einem Rückgang an sexueller Aktivität kommen, weil es nicht mehr notwendig ist, herumzulaufen und mit dem Sex etwas zu beweisen. Es wird einfach ein netter Zeitvertreib für zwei Leute sein.
In gewisser Hinsicht wird Sexualität verwickelter sein als die übliche Einteilung in „männlich“ und „weiblich“. Es wird einiges Unbehagen entstehn, denn die Leute werden keine Rollen haben, in die sie zurückfallen können, und müssen daher viele Dinge in ihrer Beziehung klären.
Sexualität wird immer mehr unter dieselbe Kategorie wie Essen fallen, das wichtig, bedeutsam und genußvoll, nicht aber der gefühlsmäßige Mittelpunkt der Erfahrung ist. Ich denke, in der Zukunft wird es eine Zunahme an offenen Beziehungen geben. Liebe und Heirat werden nicht notwendig sexuelle Ausschließlichkeit beinhalten. Jetzt zum Beispiel würde ein konservatives Paar denken, daß es in Ordnung ist, wenn einer von ihnen mit jemand anderem essen oder ins Kino geht, nicht aber wenn ihr Partner mit jemand anderem Sex hat.
Bisexualität wird als Experiment fortbestehn, ob aber auf Dauer, ist weniger sicher. Die meisten Bisexuellen finden, soweit ich das beurteilen kann, zu ihrer ursprünglichen Veranlagung zurück, aber stimmen zu, daß dies Experiment interessant war.
Ein beunruhigender Trend, von dem ich hoffe, daß er aufhört, ist der zunehmende Druck auf beide Geschlechter hinsichtlich sexueller Athletik. In gewisser Hinsicht ist dies ein Gegentrend. Der Akzent liegt darauf, wie gut und wie oft du es tust. Das läuft auf sexuelle Unfähigkeit und einen Rückzug aus Beziehungen hinaus. Was sexuelle Freiheit wirklich meint, ist die Freiheit sich zu beteiligen oder nicht, oder in angenehmer Art und Weise sich zu beteiligen. Ich bin beunruhigt über die Sensationslüsternen, jene, die hoffen, im Sex die „ultimative Erfahrung“ und den „ultimativen Orgasmus“ zu finden. Es gibt eine Grenze dessen, was Sex leisten kann.
Falls sich die Suche nach Nervenkitzel fortsetzt, werden wir eine neue Welle sexueller Unterdrückung erleben, wie schon oft in der Geschichte. Das ist eine Gefahr für die Zukunft, die nur verhindert werden kann, wenn die Leute begreifen, daß Sexualität nicht das Nirvana ist. Sie kann die Welt nicht für dich verändern. Selbst nach dem weltbesten Orgasmus mußt du noch die Wäscherechnung und Steuern bezahlen und den Hund ausführen.
Dr. phil. Bernie Zilbargeld, Sexual-Berater an der University of California, San Francisco.
Angesichts dessen steht Syzygium wie ein monolithischer Anachronismus da, ein ursprünglicher Jubelruf aus vergangener Zeit. Innerhalb seines Rahmens findet Sexualität ihre Mitte nicht in urbanisierter Ernüchterung, sondern in den alten Quellen von Religion und Familie und Landschaft. Es feiert Liebe und Gottesdienst, und preist Sexualität als die Kraft, die beide zur Apotheose führt, als die Energie, die beide in Dimensionen erweitert, die sie anders nicht erreichen könnten. Statt Ansprüche zu senken und dazu beizutragen, daß Sexualität im Zusammenhang des mondänen Stadtlebens verharmlost wird, feiert es die Wandlung des Bewußtseins in Taumel und Verzückung.
Obgleich zufällig, ist sein Erscheinen zur Zweihundertjahrfeier günstig, weil die ursprünglichen Kräfte der Nation, wie oben gesagt, nach Erneuerung zu rufen scheinen, indem sie den Glauben der Menschen an ihre Möglichkeiten wieder erweckt. Gewiß kann Syzygium die Zukunft nicht durch Rückkehr zur Vergangenheit ändern. Es erinnert nur an die zentrale Stellung der Vergangenheit für die Zukunft und bestätigt die Natürlichkeit, die dem Leben zugrunde liegt. Die Aufgabe der Kunst ist es, das Mögliche zu benennen; basierend auf der Wirklichkeit, zeigt sie unserm staunenden Blick, was wir werden könnten. Mehr vermag Syzygium nicht. Aber wenn es davon überzeugt, wurde es nicht umsonst geschrieben.
William Everson, 5. Juli 1976, Swanton, California
Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.
William Everson unterrichtet „Birth of a Poet“ an der UC Santa Cruz – in den frühen 70er Jahren.
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