– Zu Jan Wagners Gedicht „giersch“ aus Jan Wagner: Regentonnenvariationen. –
JAN WAGNER
giersch
nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.
kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-
standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch
geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
Ohrwurm mit Ziegenfuß
– „giersch“ als „Smash Hit“ der Gegenwartslyrik. –
Im Jahr 1990 veröffentlichte Robert Gernhardt einen Essay mit dem Titel „Golden Oldies oder Wo zum Teufel bleiben eigentlich die Lyrik-Hämmer der Saison?“ Darin geht es zunächst um die bemerkenswerte Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Gedichts „Weltende“ von Jakob van Hoddis, das zuerst im Jahr 1911 in der Berliner Wochenschrift Der Demokrat erschien und dann schnell bekannt wurde: Acht Jahre später eröffnete es etwa die (laut Untertitel) ,Symphonie jüngster Dichtung‘ Menschheitsdämmerung, seitdem fehlt es wohl in keiner Anthologie deutschsprachiger Lyrik – bis heute. Gernhardt folgert daraus, man habe es bei „Weltende“ mit einem „Smash Hit“ zu tun, der „zuerst ein Oldie und dann ein Evergreen“ wurde,1 kurz: „mit einem Ohrwurm der zähesten Art“.2 Wer wollte ihm da widersprechen? Doch in Gernhardts Essay geht es eigentlich gar nicht um dieses Gedicht. Gernhardt verwies darauf vor allem deshalb, weil er ein Problem seiner Gegenwart verdeutlichen wollte:
Heute wüßte ich einige, wenige Lyrik-Hits der 50er zu nennen, hätte allerdings Schwierigkeiten, die der 60er, 70er oder gar 80er anzuführen. Weil ich sie nicht kenne? Weil es sie gar nicht gibt?3
Auf letzteres läuft Gernhardts Argumentation hinaus: Seine These lautet, dass bei den deutschsprachigen Lyrikern die „Fähigkeit, so etwas wie Ohrwürmer zu schreiben, in den letzten vierzig Jahren kontinuierlich abgenommen zu haben scheint“.4
Man mag nun einverstanden sein mit dieser These oder nicht: Sicher ist, dass im frühen 21. Jahrhundert ein Gedicht entstanden ist, dessen bisherige Rezeptions- und Wirkungsgeschichte darauf hindeutet, dass es sich dabei um einen „Smash Hit“ im Sinne Gernhardts handeln könnte: Die Rede ist von Jan Wagners Gedicht „giersch“, das zuerst im Jahr 2011 – zufälligerweise also genau hundert Jahre nach „Weltende“ und nicht weniger zufällig ebenfalls zuerst in einer Wochenzeitung – erschien und seitdem in vieler Munde (und Ohren) ist. Nicht ohne Grund hat Heinrich Detering dieses Gedicht als „bekannteste[] ,Single-Auskoppelung‘ des neuen Bandes [der Regentonnenvariationen; FvA]“ bezeichnet.5 Zumal nachdem Jan Wagner im Jahr 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hatte, wurde „giersch“ – analog zu dem Phänomen des Signature Songs in der Popmusik – zu einer Art Signature Poem des Lyrikers Jan Wagner, also zu dem einen Gedicht von ihm, das jeder Leser zeitgenössischer Lyrik kennt und das jeder solche Leser auch als ein Gedicht Jan Wagners erkennt. Wenn er es bei Lesungen vorträgt, kann er sicher sein, im Publikum spontane Beifallsbekundungen auszulösen: Immer haben sich einige Zuhörer speziell auf dieses Gedicht gefreut, ähnlich wie sie im Konzert dem größten Hit ihrer Lieblingsband entgegenfiebern.
Wenn also in der Tat manches dafür spricht, dass „giersch“ ein „Lyrik-Hit“ oder gar ein „Lyrik-Hammer“ ist, dann stellt sich die Frage, welche Eigenschaften es sind, die unter den zahlreichen Gedichten Jan Wagners gerade dieses eine zu einem solchen machen: Was hat dieses Gedicht, was andere nicht haben? Weist es – und wenn ja, inwiefern – jene drei Qualitäten auf, die laut Gernhardt ein Hit in der Popmusik wie in der Lyrik aufweisen muss, also „Attraktivität, Plausibilität und Suggestivität“?6 Im Folgenden soll versucht werden, diese Fragen zu beantworten.
I. Von Ziegen- und Versfüßen: Zum Verhältnis von Inhalt und Form
Wie bereits der Titel angibt, geht es in „giersch“ um den Giersch und damit um eine Pflanze, die in Europa weit verbreitet und an ihren charakteristischen weißen Blüten leicht erkennbar ist. War sie in früheren Jahrhunderten als Heilkraut unter anderem gegen Gicht verwendet worden (daher auch ihre botanische Bezeichnung Aegopodium podagraria), wird diese Pflanze von den meisten Menschen heute als Unkraut wahrgenommen, weil es überaus schwierig ist, ihr Wuchern zu verhindern, sobald sie sich einmal in einem Garten festgesetzt hat. Und genau dies – das unkontrollierbare Wuchern des Giersch im Garten – ist das Thema des Gedichts. Eine nicht näher konturierte Äußerungsinstanz, die offenbar über einschlägige Erfahrungen verfügt, beschreibt den Vorgang des Wucherns, wobei sie selbst zurückhaltend bleibt; an keiner Stelle tritt sie als ein „Ich“ hervor. Wer oder was hier eigentlich ,spricht‘, bleibt also offen. Am Rande bemerkt: Eine solche – wie man vielleicht sagen könnte – ,Dezenz‘ der Äußerungsinstanz ist ein charakteristisches Merkmal nicht nur dieses einen, sondern vieler Gedichte Jan Wagners.
Das Wuchern des Giersch wird zwar dezent, aber dennoch auch mit einiger Emphase bzw. genauer: mit einer durchaus ambivalenten Faszination beschrieben. Denn zum Einen wird auf die oft übersehenen positiven Eigenschaften dieser bei den meisten Zeitgenossen ja eben verhassten Pflanze hingewiesen („nicht zu unterschätzen: der giersch“), es wird also gewissermaßen geworben für sie. (Vorerst nur in Klammern sei darauf hingewiesen, dass einer der zähesten Ohrwürmer der modernen deutschsprachigen Lyrik mit einem ähnlichen Gestus des Aufmerksammachens beginnt: „Komm in den totgesagten park und schau“ – so lautet der erste Vers des bekanntesten Gedichts von Stefan George.)7 Auch viele der bei der Beschreibung des Giersch verwendeten Metaphern und Vergleiche sind positiv konnotiert („begehren“, „weiß“, „schäumen“, „gischt“). Im Gedicht werden also die botanisch Desinteressierten und Ahnungslosen über die durchaus bemerkenswerte Pflanze aufgeklärt; zugleich wird sie vor ihren Gegnern gleichsam in Schutz genommen: vor den „tyrannen[]“ der Gärten, denen „keusch[e]“ und damit kontrollierbare Pflanzen lieber sind und die deshalb mit allen Mitteln gegen den promiskuitiven Giersch vorgehen, der ihre Herrschaft über die Gärten zu gefährden droht. Insgesamt wird also ein Naturphänomen von unbändiger elementarer und damit anti-autoritärer Kraft gegen ein tendenziell totalitäres Ordnungssystem menschlicher Herkunft ausgespielt.
Zum anderen wird im Gedicht aber eben auch die negative Seite des Giersch hervorgehoben, und zwar mit nicht weniger großer Eindringlichkeit; dass am Ende alles von der immer weiter wuchernden Pflanze verschlungen wurde, die letztlich auch die Äußerungsinstanz selbst zum Verstummen gebracht hat, das ist ja ebenfalls ein Vorgang von beängstigender Totalität. Insofern hat der Giersch also auch eine bedrohliche Seite, und beide Seiten, die positive wie die negative, werden im Gedicht gleichermaßen intensiv behandelt. An keiner Stelle in Frage gestellt wird aber die große Faszinationskraft, die von diesem Naturphänomen ausgeht. So ambivalent diese Pflanze auch immer zu beurteilen sein mag: Unterschätzt werden darf sie auf keinen Fall.
Das Besondere an dem Gedicht ist nun, dass von dem Wuchern des Giersch nicht nur die Rede ist, sondern dass es zugleich auch dargestellt wird, und zwar auf der Ebene der Form. Wie kaum zu übersehen ist, nehmen einige Konsonanten (,d‘, ,g‘, ,k‘, ,sch‘, ,w‘) und Vokale (,i‘, ,ie‘, ,u‘, ,ü‘) nach und nach gewissermaßen überhand im Text, wodurch andere an den Rand gedrängt werden. Der letzte Vers besteht dann fast nur noch aus ,g‘, ,i‘, ,ie‘ und ,sch‘, also allesamt Buchstaben, die aus dem Wort ,Giersch‘ selbst gewonnen wurden: „sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch“. Dem Wuchern des Giersch, von dem auf der Ebene des Inhalts gesprochen wird, entspricht also das Wuchern einiger Grapheme bzw. Phoneme auf der Ebene der Form: Das Gedicht thematisiert das Wuchern nicht nur, sondern vollzieht es auch selbst.
Damit ist aber noch längst nicht alles über das Verhältnis von Inhalt und Form in diesem Gedicht gesagt. Wie ebenfalls schwer zu übersehen, handelt es sich bei „giersch“ um ein Sonett, allerdings um kein strenges Sonett, wie sie in der deutschsprachigen Lyrik vom Barock bis in die Romantik und teilweise auch später noch geschrieben wurden, sondern um eines, für das gleichsam gelockerte Spielregeln gelten, wie dies schon für den größten Teil der Sonettdichtung des 20. Jahrhunderts der Fall war (etwa für die Sonette Rilkes und Brechts). Für „giersch“ gilt zum Beispiel die Spielregel der Isometrie nicht, also die Vorgabe, dass allen 14 Zeilen dasselbe Versmaß zugrunde liegen muss (in der deutschsprachigen Lyrik seit der Romantik ist das in der Regel der jambische Fünfheber). Mehr noch: In diesem Gedicht gibt es gar kein Versmaß, was aber nicht heißt, dass man es hier mit Freien Versen zu tun hätte. Vielmehr hat jede Zeile eine spezifische rhythmische Gestalt. „giersch“ ist also ein zwar ametrisches, aber polyrhythmisches Sonett. Des Weiteren ist festzuhalten, dass sich in der Polyrhythmik die Tendenz zu einer jambischen Bewegung abzeichnet: Dies wird bereits im ersten Quartett erkennbar („mit dém begéhren schón im námen – dárum“) und verfestigt sich sukzessive. Die letzte Zeile ist dann vollends ein regelmäßig alternierender jambischer Sechsheber. Eine zunächst vielfältige Rhythmik wird also zunehmend vereinheitlicht, bis sie am Ende in eine völlig gleichmäßige Bewegung übergegangen ist. Es liegt auf der Hand, dass dieser charakteristische rhythmische Verlauf des Gedichts in einem Zusammenhang steht mit seinem bereits beschriebenen graphemischen bzw. phonetischen Verlauf: Dem Wuchern des Giersch auf der Ebene des Inhalts entspricht auf der Ebene der Form also nicht nur das Wuchern der Grapheme bzw. Phoneme, sondern auch das Wuchern der Jamben. Es ist naheliegend, dies mit der botanischen Bezeichnung des Giersch in Verbindung zu bringen: Aegopodium bedeutet ja ,Ziegenfuß‘. Das Wuchern der jambischen Versfüße in einem Gedicht über den Ziegenfuß ist demnach eine besondere Pointe, die sich allerdings nur dem erschließt, der die botanische Bezeichnung des Giersch kennt und sie auch übersetzen kann.
Und damit noch immer nicht genug: Auch die Reime sind in das Wuchern der Form mit eingebunden. Zunächst ist aber darauf hinzuweisen, dass Jan Wagner die Spielregeln des Sonetts auch in dieser Hinsicht gelockert hat (und auch in diesem Punkt an Vorgänger im 20. Jahrhundert anschließt). So nimmt er sich die Freiheit, in den Quartetten vier Reime zu verwenden, statt, wie es die ältere Tradition verlangt, zwei. Und er nimmt sich weitere Freiheiten, indem er zum Beispiel „darum“ auf „-traum“ reimt, „schuld“ auf „feld“ und „kassiber“ auf „wider-“. Ein solcher spielerisch-experimenteller Umgang mit dem Reim nach dem Vorbild des angelsächsischen slant rhyme ist ein Markenzeichen der Gedichte Jan Wagners, der seine Reimtechnik auch poetologisch expliziert hat.8
Im Hinblick auf das Verhältnis von Form und Inhalt sind aber vor allem die Reime im Sextett signifikant: Denn werden im ersten Terzett – entgegen der Tradition – bereits keine neuen Reime mehr eingeführt, weist das zweite Terzett nur noch ein einziges Reimwort auf, nämlich „giersch“. Auch hier lässt sich also eine Entsprechung zwischen der Ebene des Inhalts und der der Form feststellen: Analog zu dem Wuchern des Giersch wuchern nicht nur die Grapheme bzw. Phoneme sowie die Versfüße, sondern auch die Reime.
Damit wird auch deutlich, warum Jan Wagner die Sonettform für sein Gedicht gewählt hat: Um das Wuchern des Giersch formal wirkungsvoll darstellen zu können, bedurfte er einer bekannten vorgegebenen Form, um dann deren Überwucherung vorführen zu können. In einem formal völlig freien Gedicht hätte dieser Vorgang nicht derart anschaulich (und ,anhörlich‘) zur Darstellung gebracht werden können. Anders gewendet, könnte man auch sagen: So wie das Wuchern der Grapheme, Phoneme, Reime und Versfüße ein formales Analogon zu dem Wuchern des Giersch bildet, bildet die Sonettform ein Analogon für den Garten, innerhalb dessen sich der Giersch ausbreitet.
In jedem Fall stehen Inhalt und Form hier in einem spezifischen Verhältnis zueinander, und zwar in einem Verhältnis der Kongruenz. Damit ist auch ein erster Gesichtspunkt gefunden, in dem „giersch“ sich von vielen anderen Gedichten des frühen 21. Jahrhunderts unterscheidet: Eine solche Kongruenz von Inhalt und Form ist zumindest in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik nämlich keineswegs die Norm, oft wird vielmehr geradezu demonstrativ die Inkongruenz der Ebenen betont. Ein einschlägiges aktuelles Beispiel wäre Verbannt!, ein Versepos der Lyrikerin Ann Cotten, in dem eine Gegenwartshandlung in der aus dem 16. Jahrhundert stammenden Spenser-Strophe erzählt wird; die Inkongruenz der Ebenen ist hier also Programm.9 Zweifellos wird ein Verhältnis der Kongruenz von Inhalt und Form aber von vielen, gerade auch von nicht-professionellen Gedichtlesern und -hörern als ästhetisch befriedigend empfunden, und dies auch dann, wenn nicht alle Feinheiten dieses Verhältnisses auf Anhieb für sie erkennbar sein sollten. Denn selbst wenn man nicht durchschaut, worin etwa der Zusammenhang zwischen Ziegen- und Versfüßen besteht, wird man ihn dennoch sinnlich wahrnehmen können. Und ganz ohne Zweifel trägt auch dies dazu bei, dass „giersch“ für viele Rezipienten ein so überzeugendes Gedicht ist.
II. Nichts als Giersch? Deutungsmöglichkeiten
Ansprechend wirkt aber sicher auch die Aussage des Gedichts, wie sie bisher paraphrasiert wurde: Die meisten Leser dürften sich spontan mit dem so fertilen wie freien und subversiven Giersch solidarisieren. Wer stellt sich schon freiwillig auf die Seite der Ignoranten und der Tyrannen?
Eine weitere Qualität dieses Gedichts besteht nun darin, dass es nicht nur diese eine Deutung erlaubt, sondern auch noch weitere; und es erlaubt sie nicht nur, es legt sie sogar nahe. Zum Beispiel gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, dass „giersch“ auch als ein poetologisches Gedicht zu verstehen ist.10 Ein erster solcher Hinweis ist die Tatsache, dass es in der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik einige berühmte Beispiele für poetologische Pflanzengedichte gibt. Georges „Komm in den totgesagten Park und schau“ wurde bereits erwähnt, und tatsächlich sind die Übereinstimmungen zwischen diesem Gedicht und „giersch“ nicht von der Hand zu weisen: In beiden Fällen unternimmt es eine nicht näher konturierte Äußerungsinstanz, Naturphänomenen, die von den Zeitgenossen „totgesagt[]“ oder eben „unterschätz[t]“ werden, zu ihrem Recht zu verhelfen, und in beiden Fällen geschieht dies auf eine formal elaborierte Weise; im Übrigen entsprechen sich die beiden Gedichte auch im Hinblick auf die konsequente Kleinschreibung. Doch es gibt weitere Texte, die in diesem Zusammenhang anzuführen wären: Goethes „Metamorphose der Pflanzen“ zum Beispiel, Rilkes „Blaue Hortensie“ (ebenfalls ein Sonett) und Benns „Astern“. In all diesen Gedichten ist auf einer ersten Ebene von Pflanzen bzw. Blumen die Rede, zugleich werden in ihnen aber auch poetologische Probleme verhandelt; bei George geht es um die symbolische Entsprechung von Natur und Kunst,11 bei Goethe um die Integration von Naturwissenschaft und Poesie,12 bei Rilke um die Figur der Wendung13 und bei Benn um die Kunst als „Gegenwelt zu Gesellschaft und Politik“.14 „giersch“ in diese Tradition einzuordnen, ist also in der Tat naheliegend.
Ein zweiter Hinweis auf eine mögliche poetologische Dimension des Gedichts ist der Umstand, dass Jan Wagner es an die erste Stelle (und auf den hinteren Buchdeckel) seines Gedichtbands Regentonnenvariationen gestellt hat (und ein Jahr später dann auch an die erste Stelle des Hörbuchs Selbstporträt mit Bienenschwarm).15 Eröffnet werden Gedichtsammlungen aber traditionell von poetologischen Gedichten: Man muss nur an Petrarca und seinen Canzonière denken, in dessen Eröffnungssonett wichtige Aspekte seines poetologischen Programms formuliert werden, oder an das erste von Shakespeares Sonnets, wo dies ebenso der Fall ist. Aber auch bei Horaz könnte man schon fündig werden, und zwar in seinem ersten Odenbuch (das von dem großen Widmungsgedicht an Maecenas eingeleitet wird) genauso wie in seinem zweiten (an dessen Beginn die Rückkehr des Autors zur Lyrik thematisiert wird). Oder wiederum bei Stefan George: „Komm in den totgesagten Park und schau“ eröffnet seinen Gedichtband Das Jahr der Seele und legt es somit nahe, den Park mit dem Band in Verbindung zu bringen und die Schönheiten der im Park zu findenden Pflanzen mit denen der im Band enthaltenen Texte. Vor dem Hintergrund dieser Tradition ist es fast schon unumgänglich, „giersch“ auch als ein poetologisches Gedicht zu lesen. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass auf dem Cover der Regentonnenvariationen die bildliche Darstellung einer Pflanze zu sehen ist, sodass auch hier von Anfang an ein Zusammenhang zwischen dieser Pflanze und den Texten suggeriert wird, die laut dem auf dem Cover abgedruckten Untertitel – ,Gedichte‘ – in dem Band enthalten sind.
Des Weiteren gibt es textinterne Hinweise, die eine poetologische Deutung nahelegen: Nicht nur die beschriebenen formalen Auffälligkeiten des Gedichts, sondern im Speziellen auch die Sonettform lenken die Aufmerksamkeit des Rezipienten (sofern er diese Form und ihre Tradition kennt) von vornherein auf die Faktur des Gedichts und damit auch auf poetologische Fragen. Zudem haben Sonette, selbst wenn sie nicht am Anfang einer Sammlung stehen, spätestens seit Petrarca so gut wie immer auch eine poetologische Dimension, wenn nicht explizit, dann implizit.
Liest man „giersch“ nun, all diesen Hinweisen folgend, als ein poetologisches Gedicht, welche Poetik wird dann in ihm verhandelt? Im Vordergrund steht zunächst ein Aspekt, den man als das ,poetische Potenzial des Marginalen‘ bezeichnen könnte: Im Gedicht wird ja exemplarisch vorgeführt, was man entdecken kann, wenn man nur genau genug hinsieht und sein Desinteresse an oder auch seine Vorbehalte gegen einen allgemein marginalisierten Gegenstand hinter sich lässt. Auch das Marginale – so könnte man dieses ,Poetologem‘ zusammenfassen – birgt demnach poetisches Potenzial. In diesem Sinne hat Jan Wagner sich mehrfach geäußert, zum Beispiel in einem poetologischen Statement aus dem Jahr 2016:
Ich glaube, dass sich aus grundsätzlich allem ein Gedicht machen lässt. Die vermeintlich banalsten, im Alltag so leicht übersehenen Gegenstände enthüllen mit einem Mal ungeahnte poetische Qualitäten. Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ,Freiheit‘ zu schreiben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.16
Jan Wagner redet hier also einer Gegenstands- oder Objektlyrik das Wort, wobei er auffälliger Weise den in diesem Zusammenhang naheliegenden Begriff des ,Dinggedichts‘ meidet (vielleicht weil er durch Rilke ,besetzt‘ ist).17 Die von ihm anvisierte Objektlyrik bringt er dabei in einen polemischen Gegensatz zu einer – mit dem traditionellen Begriff, der ebenfalls nicht genannt wird – ,Gedankenlyrik‘, die nicht von konkreten Gegenständen, sondern von abstrakten Ideen ausgeht.18 Dieser Produktionsweise begegnet er aber voller Skepsis, um stattdessen für scheinbar unbedeutende Alltagsobjekte als Ausgangspunkt der Gedichtproduktion einzutreten. Vielleicht könnte man sagen, dass Jan Wagner an dieser Stelle eine induktive Methode der Gedichtproduktion postuliert; eine Methode, die seiner Meinung nach eher zu einem Gedicht mit einem bedeutendem ideellen Gehalt führt als der umgekehrte Weg der Deduktion.
Dieses Statement wird in „giersch“ nun geradezu exemplarisch umgesetzt, und das nicht nur im Allgemeinen (indem in diesem Gedicht eben ein gemeinhin unterschätzter Gegenstand behandelt wird), sondern auch im Besonderen mit Blick auf die Tradition des Pflanzengedichts in der deutschsprachigen Lyrik: Hatten sich Lyriker wie George, Rilke und Benn nämlich fast ausschließlich für exquisite, ja extravagante Pflanzen bzw. Blumen interessiert (Astern, Georginen, Hortensien, Levkoien etc.), zeigt Jan Wagner nun, dass man aus einem Unkraut ein nicht weniger bedeutsames Gedicht machen kann, er legt also dessen poetisches Potenzial frei. Man könnte dies auch als Demonstration einer besonderen Kunstfertigkeit interpretieren: Denn um beim Rezipienten Interesse für eine solche Pflanze zu wecken, bedarf es – so darf man zumindest annehmen –, eines größeren poetischen Geschicks als im Fall einer Blume, die, wie etwa die Hortensie, an sich schon schön ist. Jan Wagner schreibt sich also nicht nur ein in die Tradition deutschsprachiger Pflanzengedichte, zugleich versucht er, sie zu überbieten, und zwar interessanterweise indem er sich einer bis dahin nicht als gedichtwürdig angesehenen Pflanze zuwendet.
Nun wird der Giersch im Gedicht aber, wie beschrieben, nicht nur gefeiert, sondern in seiner ganzen Ambivalenz vorgeführt; gezeigt wird, wie er alles andere überwuchert und am Ende gewissermaßen sogar den Text selbst zum Schweigen bringt. Im Rahmen einer poetologischen Deutung kann man in diesem Vorgang einen weiteren Aspekt erkennen, den man als die ,Dialektik von Form und Formlosigkeit‘ bezeichnen könnte: Denn das unförmige Wuchern der einzelnen Formelemente des Gedichts steht ja in einem Spannungsverhältnis zu der strengen Form des Sonetts. Einerseits wird diese zwar überwuchert, andererseits spielt sich das Wuchern aber innerhalb der von ihr vorgegebenen Grenzen ab. Form und Formlosigkeit befinden sich in diesem Gedicht somit in einem Gleichgewicht, in einem prekären Gleichgewicht allerdings.
Auch für diesen Aspekt lassen sich Äußerungen Jan Wagners anführen, so etwa eine Passage aus seinem Essay „Vom Pudding. Formen junger Lyrik“ aus dem Jahr 2006, in der er Folgendes formuliert:
In letzter Zeit gab es, wenn der Anschein nicht trügt, zwei Tendenzen, die der jüngeren deutschsprachigen Lyrik nachgesagt, wenn nicht gar zum Vorwurf gemacht wurden: eine zur Formlosigkeit und eine zum Formalismus. Beide mögen nachvollziehbar sein, und doch sind beide falsch.19
Trotzdem aber seien „jene beiden, einander abstoßenden Begriffe aufschlußreich, weil sie immerhin zwei extreme Punkte auf der Skala der lyrischen Sprechweisen markieren“:
Und richtig ist zweifellos, daß bei Überschreiten des einen Punktes die Versumpfung, jenseits des anderen Punktes aber die Erstarrung, die Verkarstung und formale Versteppung des Gedichts liegt. In dieser trostlosen Landschaft, wenn man sie denn betreten wollte, träfe man den Pedanten beim Zählen seiner letzten Erbsen an; in der anderen aber hilft zur Orientierung nur noch das überstrapazierte Genie, das sich so leicht behaupten und dessen Nichtvorhandensein sich so schwer nachweisen läßt.20
Jan Wagner wendet sich hier also sowohl gegen den Formalismus als auch gegen die Formlosigkeit und setzt diesen beiden Positionen eine dritte, genau dazwischen liegende Position entgegen:
Vielleicht liegt nicht der geringste Reiz des Gedichts in der Spannung zwischen der Form, die das Gedicht immer ist, und der inspirierten Lust am Spiel und am spontanen Regelbruch, ohne die es nicht auskommen kann und will – und über die auch die bleierne, theorieschwere Strenge des Begriffs Form niemals hinwegtäuschen kann.21
Zu dieser „Spannung“ zwischen – wie es an anderer Stelle heißt – „Regelwerk“ und „Regelbruch“ kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, den Jan Wagner auf den Begriff der „forme juste“22 bringt. Gemeint ist damit, dass das Verhältnis von Formalismus und Formlosigkeit bzw. Regelwerk und Regelbruch, nachdem es einmal in ein Gleichgewicht gebracht wurde, in anderen Gedichten nicht einfach reproduziert werden kann, sondern dass es im Gegenteil bei jedem einzelnen Gedicht neu austariert werden muss. Jan Wagner erläutert dies mit Bezug auf die etymologische Verwandtschaft von ,Form‘ und ,Formel‘:
Nur mit dem Ausruf „Sesam, öffne dich!“, nicht ersatzweise mit den Worten „Mach, Sesam, die Pforte auf!“, findet Ali Baba Einlaß in die Höhle der vierzig Räuber. Das ist wunderbar, täuscht jedoch nicht über die Tatsache hinweg, daß dieser magische Spruch schon bei der Nachbarhöhle nicht mehr anschlüge. Er gilt nur und ausschließlich an einem Ort und in einer Situation. Für die nächste Höhle wie für das nächste Gedicht muß eine andere Formel gefunden werden […].23
Genau diesem Poetologem aber entspricht die Dialektik von Form und Formlosigkeit in „giersch“. Oder, anders formuliert: Das in diesem Gedicht erreichte prekäre Gleichgewicht von unförmigem Wuchern und strenger Sonettform ist eine exemplarische Realisierung der forme juste. So und nur so kann das Gedicht folglich aussehen: Eine Hebung oder Senkung an einer anderen Stelle, eine Alliteration oder Assonanz mehr, ein Reimwort weniger, schon wäre die Kohärenz des Ganzen gefährdet. Damit wird zugleich der zentrale Unterschied zwischen dem Gedicht und dem zitierten Essay deutlich: Im Gedicht bleibt es nicht bei einem bloßen poetologischen Statement, dem man sich anschließen kann oder auch nicht. In „giersch“ wird das Poetologem der forme juste vielmehr in Poesie überführt und gewinnt dadurch eine besondere Überzeugungskraft.
Eine solche Interpretation ist freilich nur eine Möglichkeit, dieses Gedicht zu verstehen. Darüber hinaus kann man es als ein politisches Gedicht deuten, und auch für diese Lesart gibt es sowohl textinterne als auch -externe Hinweise. Um mit jenen zu beginnen: Mehrfach werden im Gedicht Metaphern und Vergleiche aus der Sphäre des Politischen verwendet, was im Kontext eines Pflanzengedichts besonders ins Auge sticht. Am deutlichsten politisch konnotiert sind die Begriffe „tyrannentraum“, „kassiber“ und „widerstandsnest“, die den Giersch, wie bereits angedeutet, mit der Opposition in einem totalitären System in Verbindung bringen. Ähnlich wie die poetologische wird also auch die politische Deutung durch das Gedicht selbst herausgefordert. Hinzu kommt ein starkes textexternes Signal: Zum ersten Mal wurde „giersch“ nämlich am 11. März 2011 in der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht, und zwar als Teil der Serie „Politische Lyrik in der ZEIT“, in deren Rahmen ein Jahr lang jede Woche ein Gedicht im Politikteil der Zeitung gedruckt wurde. Die mit dieser Serie verbundenen Intentionen hat der zuständige Redakteur Bernd Ulrich unter der Schlagzeile „Macht, Gedichte“ wie folgt beschrieben:
Es ist ein Versuch, das Politische und die Politiker auf andere Weise wahrzunehmen, ihre Sprache neu zu hören und sie mit anderen Worten zu beschreiben, Worten, die so noch nicht gefallen sind. Und es ist ein Versuch, uns aus dem Konzept zu bringen.24
Weiter heißt es:
Ob die unvorhergesehene Protestwelle gegen Stuttgart 21 oder die springflutartige Sarrazin-Debatte – allzu oft geschieht Politik auch ohne Politiker. Und ohne politischen Journalismus. Offenkundig gibt es Dinge, die der politischen Klasse insgesamt entgehen. Die Bevölkerung reagiert auf Signale aus der Politik, die von den Medien zugleich transportiert und überhört werden. Damit möglichst wenig verloren geht, sucht der Journalismus immer wieder nach anderen Perspektiven auf die Politik, er nutzt die gesamte Bandbreite von Darstellungsformen. Nicht nur den Kommentar, die Analyse, das Porträt, auch Fotoreportagen und Comics. Doch eine Wahrnehmung, eine Ausdrucksweise fehlt, eine, die mitunter tiefer geht, schärfer und witziger sein kann als Artikel oder Fotos: das Gedicht.25
Es ging bei dieser Serie also ganz explizit darum, dem Gedicht als einem spezifischen Medium des politischen Diskurses öffentlich Gehör zu verschaffen. Dabei war es Ulrich durchaus bewusst, dass sein Vorstoß in eine schlechte Zeit für politische Lyrik fiel; er hatte also auch ein Interesse an einer Revitalisierung dieses Genres, wobei aber nicht einfach ältere Traditionen fortgesetzt, sondern neue Formen erprobt werden sollten.
Jan Wagner nun hat sich – gleich in der ersten Woche – an dieser Serie beteiligt, und zwar mit „giersch“. Ob er das Gedicht – wie die Einleitung Ulrichs es nahelegt – wirklich eigens für diesen Anlass geschrieben hat, sei einmal dahin gestellt. In diesem Zusammenhang entscheidend ist nur die Tatsache, dass er sich mit diesem Gedicht überhaupt an der Serie beteiligt hat: Er muss also zumindest damals damit einverstanden gewesen sein, dass es von den Rezipienten in den Bezugsrahmen Politik gestellt wurde.
Wenn man „giersch“ aber nun in diesem Bezugsrahmen wahrnimmt, was besagt es dann? Zunächst einmal wird deutlich, dass Jan Wagner sich den Anforderungen, die traditionellerweise an politische Lyrik gestellt werden,26 insofern entzog, als er ein explizites Sprechen über Politik, mit dem Ziel, den status quo zu verändern, in seinem Gedicht verweigerte: Namen werden in „giersch“ nicht genannt, weder von Politikern noch von Parteien, und auch auf konkrete politische Ereignisse oder Entwicklungen wird an keiner Stelle verwiesen. Im Rahmen der Serie „Politische Lyrik in der ZEIT“ wird man dies bereits als ein poetologisches Statement verstehen müssen: Eine poésie engagée im Stile Brechts, Frieds und anderer – so könnte man es auf den Punkt zu bringen versuchen – ist bei Jan Wagner nicht zu haben; an den tagespolitischen Debatten, die in der Öffentlichkeit geführt werden, zum Beispiel in der ZEIT, beteiligt er sich geradezu demonstrativ nicht. Stattdessen beharrt er auf der Autonomie der Lyrik. An anderer Stelle hat Jan Wagner dies explizit formuliert:
Es [das Jahr 2016] war, blickt man auf all die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zurück, wahrlich kein gesegnetes Jahr; nein, man muss schon sehr gründlich suchen, um einen Glanz, etwas Erfreuliches auszumachen. All das wird zweifellos in die kommenden Gedichte Eingang finden – auch in solche, die den direkten Kommentar zu aktuellen Geschehnissen vermeiden, und ich gebe gern zu, dass ich das Gedicht, das eine Antwort geben will, einen Rat zu wissen behauptet, das auf einen Anlass und einen politischen Umstand gemünzte Gedicht, immer mit Skepsis betrachtet habe, so sehr auch mir die großen und gelungenen politischen Gedichte vertraut sind, die es in allen Sprachen und zu allen Zeiten gegeben hat.27
Hier wird eine im traditionellen Sinn politische Lyrik also ganz ausdrücklich zurückgewiesen. Doch Jan Wagner belässt es nicht bei der Zurückweisung. Stattdessen fährt er fort:
Ein Gedicht ist kein Leitartikel, doch bedeutet das keinesfalls, dass es weltabgewandt wäre, seiner Zeit ganz bewusst den Rücken kehrte.28
Wie er an dieser Stelle skizziert, liegt ein indirektes oder implizites Sprechen über Politik in der Lyrik für ihn somit durchaus im Bereich des Möglichen, jedoch lässt er offen, wie genau dies aussehen könnte.
Kehrt man von hier aus zu „giersch“ zurück, wird deutlich, dass in diesem Gedicht – und zwar wiederum exemplarisch – vorgeführt wird, wie ein solches implizites Sprechen über Politik in der Lyrik aussehen könnte. Denn deutet man den im Gedicht dargestellten Vorgang politisch, könnte man ihn als die allegorische Darstellung eines politischen Prozesses interpretieren: Eine oppositionelle Bewegung, wiewohl von dem herrschenden totalitären System bekämpft, gewinnt nach und nach an Stärke, verdrängt das bisher herrschende System und nimmt schließlich selbst dessen Platz ein. Da „giersch“ ein deutschsprachiges Gedicht ist, liegt es nahe, dies mit dem bekanntesten Beispiel für einen solchen Prozess aus der deutschen Geschichte in Verbindung zu bringen: mit der ,Friedlichen Revolution‘ also, in deren Verlauf die Bürger der DDR immer stärker gegen dieses totalitäre System opponierten, sodass es schließlich durch ein demokratisches ersetzt werden konnte. Nichts im Gedicht allerdings deutet darauf hin, vielmehr verbleibt es ganz im Allgemeinen, sodass es auch auf ganz andere historische Prozesse bezogen werden könnte, zum Beispiel auf den ,Arabischen Frühling‘ (dafür spräche, dass er mit der Entstehungszeit des Gedichts zusammenfällt). Auch an die sogenannten ,Farbrevolutionen‘ der frühen 2000er Jahre könnte man denken: die ,Rosenrevolution‘ in Georgien, die ,Orangenrevolution‘ in der Ukraine, die ,Zedernrevolution‘ im Libanon und die ,Tulpenrevolution‘ in Kirgisien (dafür spräche, dass diese Revolutionen allesamt mit Pflanzen in Verbindung stehen). Ist mit der ,Gierschrevolution‘ des Gedichts entsprechend der ,Arabische Frühling‘ gemeint oder eben die ,Friedliche Revolution‘ in Deutschland?
Es liegt auf der Hand, dass diese Frage falsch gestellt ist, denn entscheidend ist ja, dass in „giersch“ eben gerade kein historisch spezifischer Vorgang dargestellt wird, sondern im Gegenteil eine typische politische Verlaufsform. Dazu passt auch, dass das Gedicht keine Aussagen über irgendwelche näheren Umstände dieses Vorgangs trifft und ihn (über eine mehr insinuierte als explizierte Sympathie für den Giersch hinaus) auch nicht wertet; vielmehr wird er als ein ambivalenter Vorgang dargestellt. In „giersch“ geht es somit nicht um Politik in einem historisch konkretisierbaren Sinn, sondern um Politik als überhistorische Struktur. Vor allem aber wird über Politik eben nicht explizit gesprochen, sondern im Modus der Allegorie. Dies freilich ist keine neue Form politischer Lyrik, wie sie dem Redakteur der ZEIT vorgeschwebt haben mag, sondern im Gegenteil eine alt-ehrwürdige: Das klassische Beispiel dafür ist die Ode 1.14 des Horaz, in der durchgängig von einem Schiff die Rede ist:
O navis, referent in mare te novi
Fluctus? O quid agis? Portiter occupa
Portum!
Und am Ende heißt es:
Nuper sollicitum quae mihi taedium,
Nunc desiderium curaque non levis,
Interfusa nitentis
Vites aequora Cycladas.29
Doch diese Rede ist vieldeutig: Das Schiff ist nämlich auch ein in der Antike geläufiges Symbol für den Staat, sodass es nahe liegend ist, die Schiffs-Ode des Horaz als ein politisches Gedicht zu interpretieren, in dem im Modus der Allegorie über den römischen Bürgerkrieg gesprochen wird.30 Bei Horaz wie bei Jan Wagner aber – und darauf kommt es an – ist dies lediglich eine mögliche Deutung, eine von vielen.
III. Attraktiv, plausibel, suggestiv: Hit-Qualitäten
„giersch“ könnte man zum Beispiel nämlich auch als ein physikalisches Gedicht interpretieren, in dem die thermodynamische Zustandsgröße der Entropie am Beispiel des Giersch allegorisch dargestellt wird (dafür sprächen unter anderem die naturwissenschaftlichen Interessen Jan Wagners, der im Titel eines seiner Gedichtbände programmatisch auf den Physiker Otto von Guericke Bezug genommen hat).31 In diesem Zusammenhang entscheidend ist aber vor allem die Tatsache, dass das Gedicht überhaupt auf derart verschiedene Weisen interpretiert werden kann (ohne dass ihm dabei Gewalt angetan würde). Denn diese Vieldeutigkeit ist zweifellos eine der Eigenschaften, die zu der Popularität des Gedichts nicht unwesentlich beitragen. Es ist jedoch nicht die einzige Eigenschaft, die angeführt werden kann, wenn es darum geht, seine ,Hit-Qualitäten‘ zu benennen. Zu der Vieldeutigkeit kommen mindestens zwei weitere Eigenschaften hinzu: Erstens die unmittelbare Zugänglichkeit des Gedichts, das sich auch einem in der Lektüre von Lyrik ungeübten Rezipienten auf Anhieb erschließt, und das auch dann schon Sinn ergibt, wenn man nur seine Oberfläche wahrnimmt. Zweitens ist die handwerkliche Meisterschaft, ja Virtuosität Jan Wagners anzuführen, die in „giersch“ gar nicht zu übersehen ist, die aber gerade kein Selbstzweck ist, sondern zu der Stimmigkeit des Gedichts entscheidend beiträgt. Hinzu kommen noch die Eleganz und Leichtigkeit, mit der Jan Wagner seine Fähigkeiten einsetzt: Von der mühevollen Arbeit, die dem Gedicht sicherlich auch in diesem Fall vorausgegangen ist,32 ist bei der Lektüre nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Das Gedicht wirkt so sehr aus einem Guss, dass man sich nur schwer vorstellen kann, es könnte einmal anders ausgesehen haben.
Insofern wird man auch sagen können, dass „giersch“ die drei Eigenschaften besitzt, die ein „Lyrik-Hit“ laut Robert Gernhardt besitzen muss: „Attraktivitat, Plausibilität, Suggestivität“. Ob dieses Gedicht irgendwann auch als „Oldie“ und eines Tages vielleicht sogar als „Evergreen“ gelten kann, das wird die Zukunft erweisen.
Frieder von Ammon, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017








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