DIE HÄLFTE DES LEBENS
Ein Blick in Terminkalender und Aufzeichnungen der siebziger und achtziger Jahre erinnert mich an Tiefen und Höhen meines Lebens. Die endgültig nicht mehr zurückzuweisenden persönlichen und gesundheitlichen Krisen, Liebe, Scheidung, häufiger Wohnungswechsel, die durch Scheidung bedingten Schicksale der Kinder – all das hinterließ Narben, auch wenn mir erspart blieb, durch die Mühlen von Verhören und Gefängnisaufenthalten gedreht zu werden oder durch „Republikflucht“ in eine mir damals ungewiß erscheinende Zukunft zu gelangen.
Als Volker Braun einmal angesichts des Lebenslaufes von Stephan Hermlin bemerkte, wir alle hätten keine Biographien, widersprach ich ihm heftig. Hatten wir nicht Krieg und Nachkrieg, die Zerstörung Dresdens, die Nazis und die Russen erlebt? Waren unsere Bildungswege oft nicht abenteuerlich genug? Waren wir nicht von bedeutenden Zeitgenossen beachtet und ihre Freunde geworden? Ich dachte an Maurer, Kundera, Jan Skácel, Erich Arendt und viele andere, aber auch an uns selber, die wir uns anschickten, mitzureden.
Hatte ich mich in dem Gedichtband Wasserfahrt (1967) noch unentschlossen geäußert und mich in dem Gedicht „In diesem besseren Land“ vorsichtig und mit Zurückhaltung zur DDR bekannt, so stellte sich mein Verhältnis zu diesem Staat schon in Schafe und Sterne (1974) und vor allem in Was mich betrifft (1981) ganz anders dar. Freunde und kritische Zeitgenossen hatten mir auf die Sprünge geholfen. Zu ihnen gehörten neben Uwe Grüning und Wulf Kirsten auch der Germanist Günter Hartung, ein allseits gebildeter und kluger Mann, von dessen langjähriger Tätigkeit als Stasi-Informant ich erst nach 1989 erfuhr.
Ich war nach dem Studium ganz ohne mein Zutun nach Halle gekommen. Werner Bräunig, schon in der im Bau befindlichen Trabantenstadt Halle-Neustadt ansässig, befreundet mit dem I. Sekretär der Bezirksleitung Horst Sindermann, vermittelte mir nicht nur eine Stelle als Lektor im Mitteldeutschen Verlag, sondern einige Zeit danach auch eine Wohnung in Halle-Trotha, einem weiteren Neubaugebiet.
Als ich zum ersten Mal das Gebäude des Mitteldeutschen Verlages betrat, das ehemalige Domizil einer Schlagenden Verbindung – der Paukboden war noch erhalten –, begegnete ich auf der Treppe einem Mann, der sich als Horst Drescher vorstellte. Meine Euphorie, hier als Lektor arbeiten zu dürfen, quittierte er mit einem müden und nachsichtigen Lächeln. Er hatte, wie ich bald erfuhr, gerade gekündigt und war im Begriff, das Haus endgültig zu verlassen und anderen Lektoren – so dem späteren Filmregisseur Egon Günther – zu folgen.
Ich wurde zunächst in ein verstaubtes Dachzimmer gesetzt. Meine Aufgabe bestand darin, unverlangt eingesandte Manuskripte zu lesen. Es war die Zeit nach der I. Bitterfelder Konferenz, und jedermann schien zu schreiben. Das einzige Pfund, mit dem ich wuchern konnte, war meine Erziehung durch Georg Maurer am Literaturinstitut. Eine Ausbildung im Verlag gab es nicht. Ich war mir selbst überlassen. Meine ablehnenden Briefe führten zu Protestschreiben der Betroffenen. Ich wurde zum Cheflektor Heinz Sachs zitiert und gerügt. Meine Maßstäbe seien abstrakt und viel zu hoch.
Heinz Sachs war im übrigen ein umgänglicher Mann, ein kommunistisches Urgestein. Ernst Thälmann hatte, wenn er in Halle war, immer bei den Eltern Sachs übernachtet. Über irgendeine einschlägige Ausbildung verfügte er nicht; er war, ebenso wie der Verlagsleiter Bressau, der als Häftling das KZ Buchenwald überlebt hatte, von der Partei auf diesen Posten berufen worden. Es gab eine sehr geschmeidige graue Eminenz, den immer tadellos gekleideten Herrn Noglik, der angeblich in Wien auch bei Sigmund Freud studiert hatte und Breslauer war. Er „überarbeitete“ die Bücher von Otto Gotsche und einigen anderen Parteiautoren, bewohnte in Leipzig ein nobles Haus und diente, wie viele, dem Überwachungsapparat, der sich so gern „Tscheka“ nannte, mit Informationen. Er hatte sich Ruhm erworben, als er das Gesamtwerk von Wolfgang Borchert herausbrachte.
Von dieser Sorte gespaltener Menschen, die in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine so große Rolle gespielt hatte, war auch Dr. Reso, ein ebenso gebildeter wie schizophrener Mann. Erst nach 1989 fiel mir auf, daß Intellektuelle offenbar besonders anfällig für die Stasi-Mitarbeit waren. Waren sie besonders erpreßbar? Oder reizte es sie, ein Doppelleben zu führen? Doch während meiner Arbeit im Verlag bemerkte ich davon nichts.
Auch ich wurde, obwohl ich nun Kandidat der Partei war, argwöhnisch beobachtet, was ich damals freilich noch nicht mit der Stasi, die mir herzlich gleichgültig war, in Verbindung brachte. Sicher lagen in meiner Kaderakte Papiere aus meiner Leipziger Zeit, denn ich wurde – das erfuhr ich bei Durchsicht meiner Akte 1995 – seit 1961 observiert.
Geradezu als Lichtgestalten gegenüber den zwiespältigen Figuren des Verlages empfand ich Christa und Gerhard Wolf, die allerdings erst zaghaft begannen, eine kritische Distanz zu Partei und Staat aufzubauen. Diese sich ankündigende Distanzierung wurde schon in der Moskauer Novelle Christa Wolfs sichtbar. Aber so etwas behielt man während der Lektoratssitzungen, an denen auch Christa und Gerhard teilnahmen, lieber für sich. Und wer hätte damals ahnen können, daß diese bescheidene junge Autorin, die eines Tages, schon prominent geworden, ihre Kinder in der Zeitschrift Für dich stolz als das blaue Halstuch tragende Junge Pioniere präsentierte, einmal zur deutschen Großschriftstellerin avancieren würde?
Gerhard Wolf hatte als erstes Signal für das Aufkommen neuer Stimmen in der Lyrik der DDR mit ungewöhnlicher Sensibilität die Anthologie Bekanntschaft mit uns selbst ediert, die viele Autoren vorstellte, die ein paar Jahre später von sich reden machten, als die durch Stephan Hermlin inaugurierte Lyrikwelle anbrach.
Unter Wolfs „Stabführung“ (wie Endler es genannt hatte) begann ich nun als Lyrik-Lektor tätig zu werden. Walter Werner, Reiner Kunze, Georg Maurer und später Uwe Greßmann gehören zu den Autoren, deren Manuskripte über meinen Tisch als „Kolektor“ gingen. Lyrikerinnen gab es, abgesehen von der Erzgebirglerin Martha Weber, einem „Naturtalent“, eigentlich nicht. Sarah Kirsch war die erste, die bei uns erscheinen sollte, aber sie und Rainer Kirsch zogen es vor, zum Verlag Junge Welt und später zum Aufbau Verlag zu wechseln.
Dem Verlag hing immer ein wenig der Ruf des Mittelmäßigen an – was ihm den Spottnamen „Mittelmäßiger Verlag“ einbrachte. Das traf sicher auf viele Prosabücher zu, konnte aber nicht für die Lyrik gelten. Auf diesem Gebiet leistete Gerhard Wolf jene Schrittmacherdienste, die beispielsweise die Anthologie Sonnenpferde und Astronauten hervorbrachten, in der auch der damals noch nicht verfemte Wolf Biermann vertreten war.
Nach der Maßregelung durch die Partei sangen Biermann und Evamaria Hagen gelegentlich in privaten Zirkeln Halles, so im Atelier Sittes, oder bei dem Germanisten Kurt Krolop, einem Kafka-Spezialisten, der sich mit schönen Frauen umgab. Nach einem solchen Auftritt begegnete ich Biermann und der Hagen vorm Händel-Denkmal auf dem Hallmarkt. Biermann fragte mich: Hast du schon eine Drahtharfe? Ich mißverstand die Frage total und sagte: Nein, nur ein Klavier. Das wurde als Witz verstanden und mit Lachen quittiert. Biermann schenkte und signierte mir das eben bei Wagenbach erschienene Büchlein, und ich verstand nun, worum es sich handelte…
Ermutigt durch die Bitterfelder Konferenz und deren Motto „Greif zur Feder, Kumpel!“ tauchten auch im Mitteldeutschen Verlag alsbald Leute mit Manuskripten auf, die samt und sonders nichts als ihre Unbrauchbarkeit unter Beweis stellten. Der Aufruf „Greif zur Feder…“ ging angeblich auf meinen Freund Werner Bräunig zurück, dem jedoch von höherem Ort die ganze Angelegenheit zugeschoben worden war. Warum, fragte ich mich, wehrt er sich nicht gegen diesen Unsinn? Gleichzeitig sah man in Bitterfeld auch keine geringere als Anna Seghers, die, müde geworden, alles hinnahm.
Gegen solche Unerträglichkeiten gab es nur ein Mittel: das Seine zu tun und als „junger Autor“, der man ewig war, seine eigene Sprache zu finden. Es galt als unklug, im Schriftstellerverband aufzubegehren. Doch mitunter hielt ich mich nicht an diese Regel, so, als der Verband eine Ergebenheitsadresse an Werner Felfe, den I. Sekretär der BZL Halle verabschiedete, in der es hieß, daß die Autorinnen und Autoren Halles immer an Werner Felfe dächten, wenn sie die Feder zur Hand nähmen. Mein Einwand, daß wir doch nicht mehr in Zeiten der Ming-Dynastie lebten, rief Bestürzung hervor. Rainer und Sarah Kirsch meinten:
Czecho, du bringst uns alle noch ins Unglück!
Was tat man nach solchen Versammlungen? Man ging saufen und spülte alles hinunter… Aber nicht immer lief es so glimpflich ab. Als eine solche Versammlung eines Nachts zu Ende ging und ich schon vor der Tür des Heinrich-Heine-Pavillons stand, entdeckte ich im Foyer den griechischen Autor T. N., der mir eine Lederjacke zu besorgen versprochen hatte. Mein Versuch, noch einmal in das Haus zu gelangen, wurde von Leuten des MfS verhindert. Man schlug mich grundlos zusammen, doch ich wehrte mich, so gut ich konnte. Ich höre noch die Stimme des damaligen Verlagsleiters Sachs, der mir zurief:
Czecho, du machst dich unglücklich!
Irgendwie entkam ich und lief die endlose Trothaer Straße heimwärts, als mich ein Trabi überholte. In ihm saß ein Sekretär Sindermanns, Dr. H., der mich mitnahm. Er versprach mir, sich für mich einzusetzen. Einige Tage später erhielt ich tatsächlich eine Einladung von der Bezirksleitung.
Doch nicht Sindermann empfing mich, wie ich gehofft hatte, sondern Edith Brand, eine gelernte Köchin, jetzt Mitarbeiterin der Bezirksleitung. Sie hatte mir nichts weiter zu sagen, als „Czecho, beim nächsten Mal wanderst du in den Knast.“ (Die Brand wurde später übrigens berühmt dafür, daß sie Jagdanekdoten aus dem Leben Felfes zum Besten gab, die sie irgendwo aufgeschnappt hatte. So die, daß Felfe einen Adler geschossen habe, der einen Karpfen in seinen Fängen hielt… Man kannte diese Anekdote aus dem Leben Hindenburgs, so daß sich die Genossin Brand lächerlich machte, was sich die Genossen freilich nur hinter vorgehaltener Hand erzählten.)
Von der alten Geschichte Halles und seiner Umgebung, dem Saalkreis, wußte ich noch nichts. Es war ein Wintertag, als ich, damals noch Student, zum ersten Mal nach Halle gekommen war, um auf der Blumenstraße, einer Nebenstraße der Ludwig-Wucherer-Straße, meine Bewerbung abzugeben. Die Stadt war düster und von Rauch durchdrungen, der Schnee, der eben fiel, war – wie Sarah Kirsch gedichtet hat – tatsächlich schwarz. Damals ahnte ich noch nicht, daß diese Stadt mir einmal für lange Zeit so etwas wie eine Heimat werden könnte.
Die Kräfte, die hier zwischen Anziehung und Abstoßung herrschten, waren deutlich zu spüren. Halle verfügte über eine der am wenigsten zerstörten Altstädte Deutschlands. Doch der Verfall, dem sie ausgesetzt war, erwies sich als unübersehbar.
Mit meiner Frau und unseren zwei Kindern, zwei und drei Jahre alt, zog ich nach Trotha. Der Block, in dem wir in einer 2½-Raum-Wohnung (so hieß das offiziell, ein Beispiel unzähliger DDR-spezifischer Sprachregelungen) untergebracht wurden, war vorwiegend Mitarbeitern der Bezirksleitung der SED und Wirtschaftsfunktionären vorbehalten. Wir lebten zunächst sehr bescheiden von meinem Einkommen als Lektor und hatten nur wenige Möbel, was sich besserte, als meine Frau Anne, die Bibliothekarin des Literaturinstitutes gewesen war, als Bibliothekarin in der zweiten Medizinischen Klinik der Universität eine Anstellung fand. Mein Nachbar, Joachim Rähmer, ein Philosophie-Dozent, tat sich während der Lyrikwelle mit dem sympathischen Alltagsgedicht „Der Salznapf“ hervor und war ebenfalls (was ich, wie in den meisten Fällen, erst nach 1989 erfuhr) Stasi-Informant; auch sein Sohn lieferte später unter dem Decknamen „IM Waldhorn“ Informationen über unsere Familiensituation!
Als ich „freischaffend“ wurde, konnte ich von meinem Schreibtisch aus, ob ich wollte oder nicht, den gegenüberliegenden Parkplatz einsehen. Dort hielten vormittags die Autos der Liebhaber einiger Ehefrauen, die ihren „Haushaltstag“ nützten, um ihrem außerehelichen Liebesverlangen nachzukommen. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch Männer auftauchten, die ich kannte. Die Verhältnisse waren durchsichtig und durchaus nicht unüblich. Die Freigabe der „Pille“ durch Lotte Ulbrichts „Frauenkommission“ tat ein übriges.
Eines Tages hielt dort ein Käfer mit Bremer Kennzeichen, der allerdings schon am nächsten Abend vom liebeskranken Franz zu Bruch gefahren werden sollte. Ihm entstieg mein Freund aus der Leipziger Zeit, eben der Isländer Franz Gislasson, und mit ihm eine schöne dunkelhaarige Frau. Es war Helga Novak. Noch ahnte ich nicht, was mir bevorstand. Helga, die schon einmal in Leipzig studiert hatte, dort politisch „auffällig“ geworden war und dann nach Island geheiratet hatte, war gekommen, um sich um einen Studienplatz am Literaturinstitut zu bewerben. Ich fuhr mit ihr nach Leipzig zu Georg Maurer, der, offensichtlich von ihr beeindruckt, dafür sorgte, daß sie „außerplanmäßig“ immatrikuliert werden konnte. Zunächst jedoch kam Helga bei uns unter, kettenrauchend und unter dem Sofa, auf dem sie schlief, leergetrunkene Flaschen ansammelnd. Sie brachte nicht nur die Männerwelt unseres Blocks durcheinander, sondern auch Sarah Kirsch, zu der ich sie brachte. Nicht, daß sie ihr Rainer Kirsch abspenstig gemacht hätte – sondern beide Frauen verliebten sich ineinander. Das hinderte Helga nicht, die Ehe eines in der Nähe wohnenden Kollegen aus dem Geleise zu bringen. Kurz: Helga war ein Unruhefaktor, der schließlich auch noch das Literaturinstitut in politischer und erotischer Hinsicht aufmischte.
Ich muß in Beziehung auf Franz Gislasson einfügen, daß ich während meiner Leipziger Zeit eine besondere Beziehung zu der im Lumumba-Heim untergebrachten Isländischen Kolonie unterhielt. Und das, seitdem am Literaturinstitut der isländische Dichter, Pfarrer und Kommunist Thorsteinn Valdimarsson aufgetaucht war. Thorsteinn, aus dem fast baumlosen Inselland kommend, konnte stundenlang auf einer Wiese im Rosental liegen und voll Bewunderung die Wipfel der alten Eichen betrachten. Als ich eines Tages seinen Kienzle Duo-Wecker bewunderte, bekam ich diesen sofort geschenkt. Ich erfuhr erst später, es sei in Island üblich, beispielsweise ein Pferd, das man geschenkt haben will, zu loben. Das freilich tut ein taktvoller Isländer auf keinen Fall. Ich hatte ahnungslos ein Tabu gebrochen, was jedoch unsere Freundschaft nicht beeinträchtigte…
Ein anderer liebenswerter, aber seltsamer Zeitgenosse war in diesen Jahren Eckard Krumbholz, den ich vom Institut her kannte, zeitweilig Redakteur der Zeitschriften Junge Kunst und Für dich. Er erschien zu den unmöglichsten Zeiten, natürlich unangemeldet. Es konnte passieren, daß er, eben von einer ländlichen Reportagefahrt nach Aschersleben zurückkehrend, schon früh gegen sechs klingelte und dann aufgeregt schimpfend in der Wohnung umherlief und schrie: „Ihr liegt hier noch in den Betten, und draußen verrecken die Schweine!“ –
Krumbholz, der, nebenbei gesagt, aus Weimaraner Familienerbe angeblich einen Handzettel Goethes mit der Aufschrift „Brauche neue Socken. Goethe“ besaß, war Anekdotenschreiber, der mehrere Bücher über seine Zeitgenossen verfaßte. (In Karl Mickels Roman Lachmund ist er die titelgebende Figur!) In einem seiner Bücher hat er auch mir unter dem Titel Wem die Stunde schlägt ein „Denkmal“ gesetzt. Darin glossiert er meinen Erwerb einer vermeintlich antiken Wanduhr (die 10 Mark kostete!) in einer Zeit, in der meine Familie angeblich hungerte… Krumbholz war in seiner Skurrilität viel zu liebenswert, als daß man ihn deshalb der Verleumdung bezichtigen konnte. – Er war über lange Jahre ein treuer Satellit, der mit mir, als ich es zu einem kleinen Wohlstand gebracht hatte, in Halle die Antiquitätenläden und Trödler heimsuchte, freilich das Beste für sich abschöpfend.
Zu dieser Zeit erschien auch der begabte Uwe Grüning, ein promovierter Diplomingenieur, im Lektorat. Er brachte mir mit Grüßen von Peter Huchel – den ich kurz vorher wegen meiner Anthologie Zwischen Wäldern und Flüssen besucht hatte, um seine Zustimmung zum Abdruck einiger seiner Gedichte zu erlangen – ein umfangreiches Manuskript. Grüning war nicht nur ein passionierter Motorradfahrer, der mit seiner MZ 125 ständig unterwegs war, um einen umfangreichen Freundeskreis zu besuchen, sondern auch ein Lyriker mit einem nicht zu bezähmenden Schreibdrang. Mindestens 300 Gedichte enthielt der Leitz-Ordner, den er mir gebracht hatte. Während ich las, konnte es geschehen, daß ich den Ordner stöhnend in eine Ecke warf.
Neben zweifellos Begabtem gab es Texte, die das Unsägliche streiften. Im persönlichen Umgang offenbarte Grüning ein geradezu übersteigertes Selbstbewußtsein. Er hielt sich zweifellos für einen der größten Lyriker der DDR, von der er allerdings nichts wissen wollte. Das hinderte ihn freilich nicht, später mit meiner Bürgschaft Mitglied des Schriftstellerverbandes zu werden. Kam er zu mir nach Trotha, kapitulierte ich vor seinem Drang, mir oft stundenlang seine neuesten Hervorbringungen vorzulesen. Dann positionierte ich mich mit einem gehörigen Zigarettenvorrat auf dem Sofa und ergab mich meinem Schicksal. Doch es gelang mir, aus den immer umfangreicher werdenden Manuskripten eine Anzahl wichtiger Gedichte für eine Anthologie mit dem Titel Erlebtes hier (deren Herausgeberschaft mir allerdings aus kulturpolitischen Gründen entzogen wurde) herauszufiltern. Später schrieb ich das Nachwort zu seinem ersten Gedichtband Fahrtmorgen im Dezember, der 1977 im Union Verlag erschien und dem noch viele Publikationen folgten. Grüning brachte mir ein Widmungsexemplar, in dem er vermerkte, dieses Nachwort sei vielleicht das beste, was er je bekommen werde… Wie dem auch sei – nach der „Wende“ trennten sich unsere Wege. Grüning ging in die Politik, wurde Landtagsabgeordneter und Medienberater der CDU, der er noch in DDR-Zeiten beigetreten war.
Von den Ereignissen um die Anthologie In diesem besseren Land wird noch zu berichten sein. Meine „Demissionierung“ als Lektor stellte mich also vor die Frage, wie ein Leben als „freier Schriftsteller“ möglich sei. Die Nachdichtung von Mieželaitis’ Versdichtung Der Mensch für den Verlag Volk und Welt bedeutete für mich eine Übergangszeit, in der u.a. auch die Gedichte von Schafe und Sterne entstanden.
In diese Zeit gehört meine fast zweijährige Tätigkeit als Entwicklungsdramaturg an den Bühnen der Stadt Magdeburg. Zu dieser Stadt habe ich, nebenbei gesagt, niemals auch nur den geringsten Kontakt aufbauen können. Vom Krieg schwer gezeichnet, und außer dem berühmten Dom mit nichts als einer sozialistischen Prachtstraße gesegnet, war diese Stadt für mich ein Ausdruck von Ödnis und Langeweile. Mit Kurt Götz hätte ich sagen können:
Das Beste, das Magdeburg hat, ist sein Bahnhof. Von ihm kann man jederzeit abfahren.
Ich bekam, nachdem ich eine Zeitlang im Dachgeschoß des Interhotels Stadt Magdeburg einigermaßen komfortabel untergebracht war, ein Zimmer bei einer alten Schauspielerin zugewiesen, eine Art Totenkammer, in der sogar der Versuch, eine Kollegin zu verführen, scheitern mußte.
Vom Theater an und für sich verstand ich so gut wie gar nichts. Hinzu kam, daß mir jede Art von Theaterblut fehlte und mich die üblichen Kantinengespräche anödeten. Um so mehr entsprach der Chefdramaturg Heiner Maaß allen Vorstellungen von einem Theatermann: gut sitzende, sonore Stimme und vor allem eine nicht zu ermüdende Neigung zu unendlichen Diskursen, in die er mich zu verwickeln suchte.
Neben der Arbeit mit Autoren wie Volker Braun, Erich Köhler und Rainer Kirsch beteiligte ich mich am Rande an einigen Inszenierungen. Auch gelangte ein Märchenstück von mir als Weihnachtsmärchen zur Aufführung, an dessen Inszenierung ich in keiner Weise beteiligt war, das mir aber zum bissigen Neid einiger Kolleginnen und Kollegen etwas Geld einbrachte, so daß ich mir mein erstes Auto, einen DKW IFA F8, kaufte. (Dieses Vehikel kostete mich durch laufende Reparaturen nicht nur viel Geld, sondern auch Nerven. Mit ihm begann mein unseliges Verhältnis zu Autos überhaupt, das bis heute anhält…)
Der Intendant Mewes war ein umgänglicher Mann, jedoch alles andere als ein Künstler. Er unterhielt gute Beziehungen zur Bezirksleitung der SED und ging am Abend mit dem I. Sekretär am Elbufer spazieren. So ließ er sich die Inszenierungen absegnen, aber sein Engagement für Heiner Müller brach ihm zuletzt doch das Genick. Denn die Inszenierung von Mauser, einem Stück, das ich nie mochte, fand nicht die Gnade der Bezirksleitung: einer der für die Kulturpolitik typischen Eingriffe, der schließlich mit dem Verbot der Inszenierung endete.
Mewes, Maaß und ich – wir beschlossen, die Flinte ins Korn zu werfen und zu kündigen. Unsere Kündigung war ein unmißverständlicher Affront gegen die herrschende Kulturpolitik, wurde jedoch zunächst ohne sichtbare Folgen hingenommen. Mewes kletterte sogar karrieremäßig nach oben, indem er zum Regisseur von Parteiveranstaltungen nach Berlin berufen wurde. Er inszenierte die die Parteitage umrahmenden Bühnenschauen, auf denen sogar der international berühmte Tenor Peter Schreier und der Dresdner Kreuzchor auftraten, Beispiele der Anpassungsfähigkeit von DDR-Künstlern, die sich fortsetzen ließen…
Ich ging also als „freier Autor“ nach Halle zurück, aber die kommenden Jahre waren durchaus nicht die glücklichsten meines Lebens. Ich ahnte auch nicht, daß ich nach der Wende noch einmal nach Magdeburg zurückkehren würde. Ich sollte an einigen Lesungen teilnehmen, die der Magdeburger Schriftstellerverband, jetzt VS, veranstaltete. Spät in der Nacht kam ich von Schöppingen und konnte das „Hotel“, in dem ich untergebracht war, nicht finden. Es befand sich, wie sich herausstellte, weit außerhalb der Stadt an einem See und machte den Eindruck einer Festungsanlage des MfS. Als ich an der Rezeption nach dem für mich reservierten Zimmer fragte, wurde mir bedeutet, daß ich dieses mit einem Herrn Erik Neutsch aus Halle zu teilen hätte… Ich kann heute kaum noch beschreiben, wie schnell ich meinen Koffer an mich riß und eiligst das Haus verließ. Dieser Erik Neutsch, Verfasser des vielbändigen Machwerks Der Friede im Osten, war der gefürchtetste Scharfmacher der Parteigruppe der SED im Schriftstellerverband Halle gewesen und als Reserveoffizier der NVA in Uniform 1968 bereit, dem Prager Frühling den Todesstoß zu versetzen. Schon in tiefster DDR-Zeit hatte ich ihm ein unzweideutiges Gedicht mit dem Titel „Einer von uns“ gewidmet, dessen dritte Strophe lautete:
Er wurde gewählt in die höchsten
Ämter, sein Haus
Wurde vergrößert,
Der Ortstiger selbst
Trank mit ihm und sie einigten sich,
Einander am Ruder zu halten.
Während ich auf der Autobahn zurück nach Schöppingen fuhr, fiel mir ein, daß Neutsch bei einer Begegnung nach meinem Parteiaustritt mir in Gegenwart seiner Frau versicherte, wie sehr er sich meinetwegen schäme. –
Durch meine Kinderstücke, die auch als Weihnachtsmärchen in verschiedenen Kinder- und Stadttheatern aufgeführt wurden, zu bescheidenem Wohlstand gelangt, verließen wir die 2½-Raum-Wohnung in Trotha und zogen in eine ehemalige „Bürgerwohnung“ auf der Wilhelm-Külz-Straße am Rande der Halleschen Innenstadt, ganz in der Nähe des Hanserings, der Universität, des Theaters und einiger Kinos.
Im Hinterhof von Grüns Weinstuben auf der Rathausstraße, unweit vom berüchtigten „Fahnenmonument“ (das in HP-Bauweise aus Betonschalen errichtet war), wohnte Rainer Kirsch nach der Scheidung von Sarah mit seiner neuen Frau Lilja, einer Russin aus Chabarowsk.
Wenn man von den kulturpolitischen Einschränkungen absieht, vor allem von dem indoktrinierten Schriftstellerverband, in dem Parteischriftsteller wie Werner Reinowski und der erwähnte Erik Neutsch das Sagen hatten, ließ es sich in der „Diva in Grau“ leben, zumal die Chemiearbeiterstadt mit „Artikeln des täglichen Bedarfs“ zeitweilig etwas besser versorgt wurde als andere Städte des Landes.
Mein „intimes“ Verhältnis zur Nomenklatura beschränkte sich auf die Bekanntschaft mit Horst Sindermann, damals erster Sekretär der Bezirksleitung Halle. Sindermann, Dresdner wie ich und Absolvent des Kreuz-Gymnasiums, lud ab und zu Künstler seines Bezirkes zum geselligen Beisammensein – so nannte sich das offiziell – in sein Jagdhaus im Harz oder in die „Eselsmühle“ am Rand von Halle-Neustadt ein. Sindermann war, soweit ich das beurteilen kann, der umgänglichste von allen SED-Funktionären und eine Ausnahmeerscheinung. Seine etwas weiche Dresdner Gemütsart neigte nicht zu den sonst in seinen Kreisen üblichen Drohgebärden. Doch auch er tendierte, was seine Bezirkshauptstadt Halle anging, zum Größenwahn. So hieß es, er wolle auf dem Gelände des historischen Stadtgottesackers ein Opernhaus errichten. Auch eine Tiefgarage unter dem Hallmarkt gehörte zu seinen Träumen. Beide Projekte wurden Gott sei dank nie verwirklicht, ja nicht einmal in Angriff genommen, obwohl die Stellplätze der Tiefgarage schon verteilt wurden. (Auch die Kirschs hatten schon reserviert, obwohl sie kein Auto besaßen…) Es waren die „fetten“ Jahre der DDR, und das NÖSPL (neues ökonomisches System der Planung und Leitung) versprach Wohlstand. Einmal allerdings, während einer dieser geselligen Zusammenkünfte in Harzgerode, wich der unablässig HB rauchende und offenbar stark alkoholisierte Sindermann von seiner kommoden Rolle ab. Ihm war offenbar eine schwächlich zum Pazifismus neigende Diskussion zu Kopf gestiegen. Diesmal verließen ihn die guten Manieren, und er ließ die Katze aus dem Sack. Er beschimpfte und bedrohte die „Pazifisten“, unter ihnen Willi Sitte und die Kirschs, die sich bei aller Zurückhaltung zu weit vorgewagt hatten. Hier im Walde, so hörte ich ihn donnern, stünden schon die Raketen – und die Damen und Herren der Runde sollten sich auf einen dritten Weltkrieg vorbereiten, wenn es die Herren in Bonn wagen sollten, die DDR anzugreifen. So unverblümt hatte man es noch nie gehört. Die Diskussion verstummte unverzüglich. Die sensiblen Künstler liefen in den Wald und umarmten dort tief getroffen die Bäume. Am nächsten Morgen war alles vergessen, und auf dem obligatorischen Waldspaziergang wurden Witze gemacht. Ich wies auf eine Tanne, deren Wipfel schon abgestorben war, während der untere Teil noch in üppigem Grün stand. Wie die DDR des NÖSPL, muß ich gesagt haben: unten schon alles grün, oben alles noch kahl. Ob das ein guter Witz war, muß ich bezweifeln. Sindermann jedoch lachte.
Während einer Aufführung des unsäglichen Stücks Haut oder Hemd von Erik Neutsch, in der ich neben Tragelehn saß, machte ich mich durch abfällige Äußerungen bemerkbar. Sindermann, der in einer Reihe vor mir saß, drehte sich um und äußerte vernehmbar:
Czecho, randaliere nicht schon wieder!
Es herrschte also ein glimpfliches Verhältnis zur Macht, das sich jäh änderte, als Sindermann, der Volkskammerpräsident wurde, von Werner Felfe abgelöst wurde. Felfe war dumm und ungelenk, ein typischer Apparatschik. Auch er besuchte eine Versammlung des Schriftstellerverbandes, machte dabei aber eine denkbar unglückliche Figur. So trat er zu einer Gruppe jüngerer Schriftsteller mit der Bemerkung:
Ihr seid ja alle noch so junge, da könnt ihr ja eine FDJ-Gruppe aufmachen.
Dennoch kam es einmal – ich weiß nicht mehr zu welchem Anlaß – zu einer der üblichen Ergebenheitsadressen. Der amtierende Verbandsvorsitzende Hans-Jürgen Steinmann verlas ein Schreiben an Felfe, in dem es in etwa hieß, daß wir nie die Feder in die Hand nähmen, ohne an die Partei und an Werner Felfe zu denken. Als der Text durch Abstimmung verabschiedet werden sollte, erhob ich mich und protestierte, wie schon erwähnt:
Wir leben doch nicht mehr in Zeiten der Ming-Dynastie!
Einige jüngere Autoren folgten mir, so daß, und das war neu, die Adresse nicht einstimmig verabschiedet werden konnte. Damit war mein Bruch mit der Partei vollzogen, auch wenn es noch dauern sollte, bis ich tatsächlich austrat.
In jenen Jahren besuchte ich einmal eine Autorentagung in Quedlinburg. Einige junge Leute, die kritische Gedichte lasen, erregten das Mißfallen einiger Parteigenossen. Der Zufall wollte es, daß ich mich in eine Toilettenkabine eingeschlossen hatte, als Werner Reinowski und Heinz Sachs das Pissoir betraten und ich unfreiwilliger Ohrenzeuge eines Dialoges wurde, der mich erschütterte. Beide Herren beklagten vor dem Urinal stehend die Renitenz der jungen Leute, worauf Sachs fragte, was man denn mit ihnen tun solle, und Reinowski lapidar antwortete:
Vergasen!
Meine Bestürzung war groß. Was sollte ich als unfreiwilliger Zeuge tun? Im Saal vor allen Versammelten darüber berichten? Hätte man es mir geglaubt? – Ich behielt die Sache für mich und verzichtete darauf, was ich bis heute bereue. Der Konflikt, in den ich durch mein Schweigen geriet, hat mich jahrelang und eigentlich bis heute beschäftigt. Im übrigen war mir ein derartiger Jargon unter Parteimitgliedern nicht neu. Während einer Tagung in Petzow hörte ich, wie der Sekretär des Staatsrates Otto Gotsche, der sich auch als Schriftsteller gerierte, in Hinsicht auf einen jungen Lyriker und Brecht-Schüler sich über dessen Kleidung mokierte, jedoch nicht vergaß hinzuzufügen, daß man ihn ja deswegen nicht „vergasen“ könne. –
Mit dem Fahrrad, dem Moped, später auch mit dem Motorrad durchstreifte ich die nähere Umgebung, vor allem aber den Saalkreis in Richtung Wettin – eine Landschaft, die von Erich Arendt einmal, als wir mit Sarah Kirsch einen Ausflug dorthin unternahmen, als „Provence der DDR“ bezeichnet wurde.
Die uralten Siedlungen und romanischen Dorfkirchen stammen teilweise aus der Zeit, als die Saale noch die Grenze des karolingischen und ottonischen Reiches war und die Ostkolonisation die slawische Bevölkerung zurückdrängte. Eine dieser Kirchen, die Tempelherrenkirche zu Mücheln, diente als Speicher der LPG und war mit Heu, Stroh und landwirtschaftlichen Geräten vollgestopft. Die Deckenmalereien aber hatten sich erhalten: Ornamente, aus Disteln und anderen anspruchslosen Feldkräutern zusammengesetzt, Kunstwerke und historische Zeugnisse hohen Ranges. Auch die Basilika auf dem Petersberg gehörte zu jenen Entdeckungen, die mir den Saalkreis und seinen ottonischen Ursprung nahebrachten.
Über die Gegend um Wettin las ich u.a. in Sigmund Schulze-Galleras Wanderungen durch den Saalkreis. Die Kultur dieser Landschaft war eine der Gutsbesitzer, wie sie Fontane in seinen Wanderungen durch Brandenburg beschrieben hat. Diese hatten nach 1945 ihre Güter und Schlösser verlassen müssen, die sich nun oft in einem erbärmlichen Zustand befanden. Die Dörfer waren nicht die freier Bauern, wie ich sie aus Sachsen kannte, sondern die landloser Kossäten. Die Bodenreform hatte diese zu Neubauern gemacht und eine Reliktkultur hinterlassen, deren feudale Wurzeln noch immer sichtbar waren.
Eine pikante Geschichte, die nicht bei Schulze-Gallera zu finden war, ist die des preußischen Prinzen Louis-Ferdinand, der als junger Mann wegen seines frivolen Lebenswandels auf die Burg Wettin verbannt worden war und 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstedt fiel. Man erzählte sich, er habe Nacht für Nacht in den Betten seiner Geliebten verbracht, oft einen Ritt bis in die Nähe Berlins nicht scheuend. Auch ging die Sage, daß in den aufgelassenen Kohlengruben um Wettin noch unterirdische Feuer schwelten, welche die Temperatur stellenweise auch im Winter hoch hielten und das Gedeihen bestimmter Pflanzen förderten.
Die Ergebnisse meiner Exkursionen schlugen sich in Gedichten und in feuilletonistischen Prosastücken nieder. Zuerst in Schafe und Sterne, später in Ich, beispielsweise, Kein näheres Zeichen und Herr Neidhardt geht durch die Stadt.
Doch die Entdeckung des Saalkreises verdanke ich nicht nur mir selbst, sondern vor allen einer Malerin aus dem Kreis um die Burg Giebichenstein, jener Kunsthochschule, die ich als das „andere Gesicht“ Halles bezeichnen möchte. Die Burg, auf einem Felsen über der Saale, galt als ein Hort schöner junger Frauen, die in der Stadt durch Kleidung, Haartracht und andere Besonderheiten auffielen. Es war, kurz gesagt, ein anderer Lebensstil, der sich hier manifestierte und der den Spießern ein Dorn im Auge war. Maler, Designer, Töpferinnen hatten sich in den Straßen rund um die Burg angesiedelt. Die Kneipe Zum Mohren war nicht nur ein Künstler-Treffpunkt, im Saal des Etablissements fanden auch die alljährlichen „Burgfeste“ statt. Durch vielfältige Beziehungen und Freundschaften fühlte ich mich mit der Burg verbunden, wo einige Jahre später, noch vor der „Wende“, meine beiden Söhne Grafik und Design studierten.
Die Räume, die ich in Halle bewohnt habe, sehe ich noch immer deutlich vor mir: mein Arbeitszimmer in Trotha mit dem Blick auf den Parkplatz. Das Zimmer in der Külz-Straße mit dem Meißner Kachelofen, den man abreißen wollte und den uns ein alter Ofensetzer Stück für Stück wieder aufbaute. Der tägliche Gang in den Keller um Briketts fiel mir nach der ferngeheizten Wohnung in Trotha schwer, doch ich gewöhnte mich daran.
Frieden für die Seele? Hat es den je gegeben? – R., die Malerin jedenfalls, die ich nach einem Abend bei einem befreundeten Arzt-Ehepaar kennengelernt und in einer kalten Winternacht von dort nach Hause begleitet hatte, schien es darauf abgesehen zu haben, in jener Nacht, an eine Mauer gelehnt, geküßt zu werden. Daß alles übrige seinen Lauf nahm – dafür sorgte der Sommer des kommenden Jahres. Unsere gemeinsamen Fahrten in die Dörfer des Saalkreises, wo R. zeichnete und aquarellierte, während ich zusah, endeten stets im hohen Gras oder auf schattigen Plätzen, wo wir uns liebten.
War es der Sommer meines Lebens, der uns zusammenbrachte? Wir ließen nichts aus, sahen uns zu den unmöglichsten Zeiten und an den unmöglichsten Orten. Gleichzeitig versuchten wir, unser Verhältnis vor unseren Ehepartnern zu verbergen. Wie es schien, bemerkten sie nichts. R.s Mann war Arzt und in der Klinik über Gebühr beschäftigt, außerdem, so vermutete ich, war er der Liebhaber einer jungen Kinderärztin. Meine Frau tolerierte meine Beziehung, weil, wie ich glaubte, sie nicht ahnte, wie weit diese fortgeschritten war.
Untreue schien bei den unterschiedlichsten Ehepaaren an der Tagesordnung zu sein. Aber das war nichts weiter als einer jener Rechtfertigungsversuche, wie sie innerhalb unserer DDR-Moral üblich waren. Der Tatsache, daß meine Frau dem – wie man es nannte – Küchenalkoholismus erlegen war, beunruhigte mich zunächst nicht besonders. Die Spuren der Rotweingläser zu verfolgen, fiel mir nicht ein. Das sollte sich bitter rächen.
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Erinnerung und Erfindung – ein Nachwort
Die Frage: mit welchem Recht einer seine Vergangenheit in aller Öffentlichkeit sich vergegenwärtigt, ist ebensoviel wert wie die andere, mit welchem Recht er in aller Öffentlichkeit lacht und weint.
(Ludwig Marcuse)
Warum und zu welchem Ende liest man eine Autobiographie? – Man tut es, unter anderem, um sich über untergegangene Zeiten unterrichten zu lassen. Wenn man Heinz Czechowski zuhört, wie er von einem Dresdner Vorort der Zwischenkriegszeit erzählt, wie er von dem Dreiundzwanzigjährigen berichtet, der – ahnungslos, welches Leben er in diesem Moment gewählt hat – 1958 ein Studium am Leipziger Literaturinstitut beginnt, und wie er den Rückzug des der sozialistischen Gesellschaft überdrüssigen Schriftstellers aufs Land in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschreibt: Dann sind das fast märchenhaft anmutende Nachrichten aus einer untergegangenen Welt.
Man liest eine Autobiographie nicht, weil man von ihr Objektivität erwartete, im Gegenteil – man liest sie wegen ihrer ganz und gar subjektiven Perspektive. Das Bekenntnis zum gelegentlich schonungslosen Subjektivismus ist Czechowskis Schreiben immanent. Ich, beispielsweise und Was mich betrifft heißen zwei seiner Gedichtbände. Aber man halte das nicht für Hochmut und nicht für den Ausdruck übertriebener Nabelschau. Vielmehr spricht hier ein „Ich“ stellvertretend für viele andere, weil es sich als Künstler die Pflicht des Chronisten auferlegt hat. Heinz Czechowski ist ein mit vielen Zweifeln beladener Chronist, und diese Zweifel enthält er dem Leser nicht vor. Nur deshalb traut er sich, exemplarisch zu sprechen. Sich selbst kennt er am besten, und er weiß, daß seine eigenen Zweifel eben nicht singulär sind, sondern die Signatur der von ihm durchlebten Epoche tragen. In den von ihm erlittenen Beschädigungen werden die Spuren des gesellschaftlichen Ganzen sichtbar. Die etwas abgenutzte Benjaminsche Formel vom „unberatenen Individuum“ – hier ist sie unbedingt am Platz: „Dreimal verfluchte DDR – Hoffnung, Enttäuschung, Zusammenbruch: Hinter dieser Dreiheit verbirgt sich genügend Stoff, um damit den Rest eines Lebens zu füllen“, schreibt Czechowski einmal.
Welcher literarische Text wäre nicht mehr oder minder autobiographisch gefärbt? Von den Gedichten dieses Autors läßt sich das fast ausnahmslos behaupten. Dresden als biographische Landschaft grundiert seine Lyrik: Hier verschmelzen erinnerte Geschichte und erlebte Gegenwart miteinander. Das vorliegende Buch führt diesen Topos, der Czechowski wie Lehm an den Fußsohlen haftet, zum ersten Mal in einem weit ausgreifenden Prosatext vor. Halle und Leipzig haben ihn zweifellos stark geprägt, aber die Stadt der Kindheit ist omnipräsent. Im Viertel Wilder Mann, wo ihm schon früh die „Pflanze der Melancholie“ eingesetzt wird, beginnt die Erzählung, und dort endet sie auch – in einem Rückblick, nachdem der Autor längst in der Gegenwart des wiedervereinigten Deutschland angelangt ist. Man liest einen autobiographischen Text, der sich nicht vor der bitteren Vermutung scheut, daß das ganze Leben eine Täuschung gewesen sein könnte, weil man sich nicht nur in der Kunst, sondern erst recht in der Wirklichkeit verirren kann.
Man muß die vorliegende Autobiographie ergänzen durch jene beiden Essaybände, die in den vergangenen Jahren in diesem Verlag erschienen sind und die Czechowskis essayistische Äußerungen summieren. Dort findet sich eine Vielzahl von Essays, die autobiographischen Charakter haben, die Orte in der Erinnerung wiederauferstehen lassen und die mit diesen verbundenen Menschen porträtieren. Und dort sind auch vielerlei Äußerungen der Skepsis einem autobiographischen Unternehmen gegenüber zu lesen. Der Zweifel sind hier viele, und sie sind grundsätzlich:
Ich muß, will ich nicht ganz ohne ein Mitbringsel das neue Jahrtausend erreichen und im Sumpf der Trostlosigkeit versinken, etwas finden oder erfinden, das mich trägt. Also erfinde ich meine Identität! – […] Auf der Suche nach dem fruchtbaren Moment, von dem aus mein Leben sich vielleicht beschreiben ließe, gerate ich aber immer wieder ins Schleudern. Nicht, daß es zu wenige Episoden gegeben hätte, die sich erzählen ließen, ist das Problem, sondern vielmehr meine Abgeneigtheit, in den Chor der Vergangenheitsbewältiger einzustimmen, und auch meine Befürchtung, es werde mir an der Fähigkeit mangeln, das Vergangene in seiner Tatsächlichkeit als Text wieder hervorzurufen. In Wirklichkeit, so scheint mir, ist auch die Vergangenheit nur eine Imagination, die dem jeweils gegenwärtigen Stand des Bewußtseins entspricht.
Das ist ein eindeutiger Kommentar, der aus dem Essay „Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich“ stammt, dem Versuch der Selbstvergewisserung und der Vorstufe zum eigentlichen Projekt Autobiographie. In diesem Text wird Czechowski noch schärfer:
Das Wissen um seine eigene Vergangenheit ist dem Menschen nicht eigen. Alle Autobiographien sind Fiktion, sind das Ergebnis eines Nachdenkens über sich selbst, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt.
Diese geradezu unbarmherzigen Äußerungen vorausgeschickt, war es eigentlich nur ein Frage der Zeit, bis Heinz Czechowski der Verlockung erliegen würde, doch eine Autobiographie zu schreiben.
Wer sich selbst auf solche Weise mahnt, dessen Erinnrungsmechanismus läuft schon heiß und reproduziert Bilder – oder produziert Trugbilder –, die festgehalten werden wollen. Jener Sturz des Kindes ins Wasserfaß, an den sich der Siebzigjährige zu erinnern glaubt – ist er nicht bereits imaginiert? Wer seinem Gedächtnis auf solche Weise mißtraut, der unterzieht seine Erinnerungen vor deren Fixierung einer peinlichen Selbstprüfung. Auch Heinz Czechowski ist der ungehorsamen „Katze Erinnerung“ ausgeliefert, die Uwe Johnson in den Jahrestagen dingfest gemacht hat, um resignierend festzustellen:
Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt.
Das Gedächtnis ist unfähig, die Vergangenheit mit Hilfe jener Kategorien zu erfassen, mit denen wir die Wirklichkeit einteilen. So bleibt dem Schreibenden nichts anderes, als sich an die „Pole der Erinnerung“ zu halten, an die vermeintlich unhintergehbaren Fixpunkte der eigenen Existenz. Diese Formel markiert bei Heinz Czechowski zugleich die Sorge, die Gestaltlosigkeit der Wirklichkeit könne seine Biographie geradezu „verschlucken“. Die Pole der Erinnerung, das sind Rettungsinseln im grauen Meer der Zeit, von denen aus man sich schreibend vorantasten kann.
Die Rede von der „Identität“ – eine Fiktion. Die Erinnerung – eine Fiktion. Daraus folgt mit gnadenloser Notwendigkeit: Eine Autobiographie ist nichts anderes als – Fiktion. Warum und zu welchem Ende also liest man eine Autobiographie? Sie ist doch bloße Erfindung! Sie ist in dem Grad Fiktion, wie es jede Beschreibung eines Lebens ist. Wer dies erkannt und artikuliert hat, der schreibt der Erzählung seiner Biographie das höchstmögliche Maß an Wahrhaftigkeit, an Überzeugungskraft und an Objektivität ein, derer ein einzelner fähig ist.
Sascha Kirchner, Nachwort
Heinz Czechowski
hat seine Autobiografie geschrieben – und wer seine Gedichte und Essays kennt, weiß, dass dieser Autor sich selbst und „die Verhältnisse“ nicht schont. Hier berichtet einer von seiner Kindheit im Dresdner Stadtviertel Wilder Mann, in das der Krieg langsam einsickert, ebenso lakonisch und illusionslos wie von einer Schriftstellerkarriere, die sich im steten Widerstreit zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt. Gegen nostalgische Verklärung des Vergangenen seit jeher zutiefst immun, beschreibt Czechowski ein Leben „zwischen den Zeiten“: die Verdunklung der Kriegstage, den „schönen blauen Septembertag“, an dem er eine Lehre als graphischer Zeichner beginnt, das Studium am Leipziger Literaturinstitut unter der Ägide des charismatischen Georg Maurer, seine tragikomische „Lehrzeit als Soldat“, die sogenannte „Sächsische Dichterschule“ – aber auch die missglückte Ankunft in der wiedervereinigten Republik, die ihn ironischerweise zunächst nach Italien und schließlich nach Limburg und Schöppingen führt.
Grupello Verlag, Klappentext, 2006
Klatsch und Tratsch aus der Sächsischen Dichterschule
Czechowskis Autobiografie habe ich gelesen, weil ich ihn für einen wichtigen Lyriker halte. Ohne Zeilenstopps kann er auch flüssig erzählen. Das erinnert allerdings auf vielen Seiten an Plappern, Geschwätz. Czechowski verharrt überwiegend im Anekdotischen. Seine Einblicke in das Privatleben bekannter Literaten und anderer Künstler tratscht er hemmungslos breit, sodass mir das Lesen schon bald peinlich wurde. Meiner Ansicht nach geht es mich und andere Leser nichts an, wer mit wem ein Verhältnis hatte, bei wem die Toilette nicht benutzbar war, wer was im Kühlschrank lagerte usw. Zumal solcher Klatsch literaturgeschichtlich völlig wertlos ist und nichts zum Werkverständnis beiträgt. Glücklich können sich die Dichter schätzen, die nur eine Schar Stasispitzel verfolgte, doch niemals Czechowski in einer unpässlichen Situation begegneten. Die Spitzel verbreiteten die Peinlichkeiten wenigstens nicht in der Öffentlichkeit.
Für die stärkeren Teile des Buches halte ich Czechowskis Kindheitserinnerungen, seine zwar auch nur anekdotische, aber doch literaturhistorisch interessante Schilderung der Zustände am Literaturinstitut Johannes R. Becher sowie seine uneitle Darstellung der eigenen Person. Diese Selbstdarstellung liest sich zwar wenig erbaulich – Czechowski ist psychisch krank, kämpft mit der Armut, dem Alkohol und der Liebe –, erscheint mir in ihrer Schonungslosigkeit doch achtenswert.
Vom aus Lesersicht Wesentlichen seines Lebens, seinen Gedichten, seiner Arbeitsweise, seinen poetischen Prinzipien erfährt man kaum etwas. Manche Gedichte stellt Czechowski im Zusammenhang mit persönlichen Erlebnissen vor. So lassen sie sich mit dem Wissen um Biografisches besser verstehen. Aber die Gedichte, die einer Erklärung bedürfen, halte ich nicht für seine besten.
balea, amazon.de, 29.10.2008
Weitere Beiträge zu diesem Buch:
Volker Strebel: Czechowski randaliert wieder
literaturkritik.de, Dezember 2006
Sabine Brandt: Ein Mann sucht die Mitte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.2007
Richard A. Zipster: DDR-Literatur im Tauwetter Stellungnahmen
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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