Man hat sich selber nie genug gesehen, niemals ganz. Der Blick in den Spiegel stumpft ab, macht das Auge matt, ist Suche, oft auch Sucht, doch nie Gewinn. Nicht nur sieht man sich – doch wer sieht wen? – immer nur seitenverkehrt (eine ungewöhnliche Sicht, gewiß, deren Interesse aber illusionär bleibt, da es dazu für das Man im Spiegel keine Alternative gibt), man sieht sich auch meistens in Teilstücken, sieht sich beim Rasieren, beim Schminken, sieht sich beim Sehen, sieht das Gesicht, manchmal die Hände, die Schultern, die Brust, mehr nicht; und man sieht dies, sieht sich stets in jenem aufgebrochenen, zum Schnittmuster verflachten Raum, der kaum noch Wirklichkeitscharakter hat. Der Spiegel versammelt nichts als Fragmente – als wäre er, ohne je zerbrochen zu sein, aus lauter Scherben gefügt.
Statt sich immer wieder – wenn auch nie von neuem – so zu sehen, wie man sich zu sehen pflegt, müßte man sich mit andern Augen, mit den Augen der andern zu sehen versuchen; müßte sich als ein anderer – unter andern – sehen können.
Zum Beispiel sich selbst, von hinten, vor dem Spiegel stehen sehen und sich selber, vor dem Spiegel stehend, betrachtend, während einem – zum Beispiel mir – der andere – also ich – amüsiert über die Schulter schaut.
So zum Beispiel.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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