EINFACH FREUNDLICH SEIN,
OBWOHLS SCHWERFÄLLT.
& ’n bißchen verrückt, nicht so verkrampft.
& ernst sein & spaß vertragen.
& indianer sein oder zigeuner
oder beamter auf lebenszeit.
einfach dasein & sich nur bücken
um was aufzuheben von unten.
die erdschwere spürn aber leicht sein
& sich querstelln, wenns drauf ankommt.
unangenehm werden können,
aber angenehm sein.
nach wie vor denken,
ab & zu sprechen,
begreifen.
obwohls schwer fällt.
obwohl regen fällt.
obwohl mir was einfällt
:
obwohl bomben falln irgendwo.
obwohl man fallen kann
oder fallen gelassen wird.
obwohls fallen gibt.
obwohls überfälle gibt.
obwohls unfälle gibt.
obwohls vorfälle gibt.
& kniefälle. & schneefälle.
Dieter Kerschek, Poesiealbum 188/1983
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POESIEALBUM
nannten sich die Lyrikbändchen, gedruckt und publiziert von 1969 bis 1990 in einem Teil Deutschlands, der DDR.
Zweihundertfünfundsiebzig Hefte – Zeugnisse einer nahen Vergangenheit, die in die Gegenwart hinein reichen und gelebtes, gespürtes bedeuten.
Gedichte, die von Hoffnung und Erfahrung erzählen, von Zeiten des Kampfes und bitterer Enttäuschung, die aufrufen wollen, und zugleich fürchten, ungehört zu bleiben. Gedichte, die Spiegel einer Gesellschaft in ihrem Alltag sind, die von Not und Glück erzählen, der eigenen, der inneren, der menschlichen und nicht zu verhindernden Not, vom Glück, das für sich allein oder auch von der Menschheit erhofft wird, und dem Erfahrungsmaß, das einfach Leben heißt.
Zeitgeist über die Jahre ist ablesbar, denn diese Gedichte sind geboren aus der Betrachtung und dem Erleben des Wirklichen.
Brechts „Lob des Kommunismus“, den jeder versteht, weil er vernünftig ist – Heft 1 dieser Reihe −, korreliert historisch sinnfällig mit den Worten Rainer Kirschs, „die Vernunft ist eine furchtbare Last. Nur die Vernünftigsten gehen mit ihr ein paar Schritte“. 1977 geschrieben, 1990 in diese Edition aufgenommen, als eines der letzten Hefte 1990 ausgeliefert, scheint solche Gedankenspanne eben auch den so schmalen Grat zwischen Ideal und Wirklichkeit anzuzeigen.
Der vorliegende Band erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit, wenn es darum geht, alle Autoren der ostdeutschen Landschaft zu versammeln, die in dreiundzwanzig Jahren in dieser so einmaligen Reihe zu Wort kamen.
Und gesagt werden soll auch, daß zweihundertfünfundsiebzig erschienene Hefte Lyrik dieser Welt auf jeweils zweiunddreißig schmalen Seiten und doch gewichtig einem großen und begeisterten Publikum nahe brachten, das den Herausgebern, Lektoren, Grafikern und Typographen Lob und Beifall spendete und treu blieb.
Bernd Jentzsch, Anreger dieser Edition, Lektor und Herausgeber, führte sie mit Sachverstand und feinem Gespür. Richard Pietraß und Dorothea Oehme setzten sie fort, fanden Talente, pflegten junge Stimmen und hielten die Tür zur Welt offen.
Nicht zu vergessen, die grafische und typografische Kultur, mit der Achim Kollwitz das Erscheinungsbild der Reihe über dreiundzwanzig Jahre unverwechselbar werden ließ.
Alle diese Qualitäten im Verbund machen heute eine Auswahl möglich, die von jenen Jahren ihres Entstehens erzählt, lebendig ist, Zeitblicke gewährt, Sprache und Bilder bietet, ganz Eigenes, ganz Unverwechselbares trägt.
Das allein ist Grund genug, mit Gedichten und Bildern dieser Edition wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu treten.
Könnte es nicht auch ein Auftakt zur Wiederaufnahme sein?
Zu wünschen wäre es allemal.
Katrin Pieper, Vorwort, Februar 1999
Potential eines Poesiealbums
Es ist schon viel versäumt. Es wird noch viel versäumt werden. Als im Spätherbst 1996 die Nachricht lanciert wurde, daß das Poesiealbum wiederkehrt, gackerte, geiferte, greinte das deutsche Feuilleton. Gift und Galle wurde gespuckt. Von Duplikat und Diebstahl sprachen am schnellsten, häufigsten, lautesten die, die zuvor nicht mal wußten, welches Poesiealbum gemeint war. Wäre das Angekündigte nur Duplikat und nur Diebstahl gewesen, welch ein Duplikat, welch ein Diebstahl!
Bernd Jentzsch, Lyriker und Lektor im Ostberliner Verlag Neues Leben, profitierte von der staatlich forcierten und hochgepeitschten „Lyrikwelle“ in der gerade eingemauerten DDR. Als die von der einzigen Jugendorganisation mitlancierte Lyrikwelle verebbte, bot Jentzsch der Idee Asyl unterm Dach des Jugendbuchverlages. Aus der Kampagne wurde Kontinuität. Die „Lyrikwelle“ bekam eine feste Form im Poesiealbum. Eine Publikations-Reihe, die, wunschgemäß, „der Jugend auf populäre Weise wertvolle Dichtung der Vergangenheit und Gegenwart, besonders aber auch die neue sozialistische Lyrik der DDR“ bekannt machen sollte. Im Laufe eines knappen Vierteljahrhunderts wurde in 275 Heften Lyrik sämtlicher Weltkulturen unter die Leute gebracht. Stets im gleichbleibenden Umfang von 32 Seiten. Stets in gleichbleibender Ausstattung, das heißt mit doppelseitiger Graphik. Stets zum gleichbleibenden Preis von neunzig Pfennig. Stets in Zehntausenderauflage. Die DDR leistete sich Lyrik. Die DDRler leisteten sich das Poesiealbum und leisteten es sich, Lyrik zu lesen.
Vom „Poesiealbum“ in Deutschland zu sprechen hieße, über schon Versäumtes und fortgesetzte Versäumnisse zu sprechen. Die 1967 von Bernd Jentzsch begründete Reihe ist in ihrer Art ein einzigartiges Ereignis in der deutschen Verlagsgeschichte. Weil das Poesiealbum da war, verloren Generationen von DDR-Bürgern die Lyrik nicht aus dem Blick. Die Brüder und Schwestern aus dem deutschen Westen, die mit ihrer Schulklasse den obligaten Ostberlin-Tag absolvierten, investierten manche Zwangsumtausch-Mark ins Poesiealbum. Das war überall greifbar. An Zeitungskiosken ebenso wie in allen Buchhandlungen. „Am besten ist ein Abonnement bei der Deutschen Post“, empfahl der Verlag, als sei’s die selbstverständlichste Sache der Welt. Lyrik im Abonnement! Lyrik frei Haus! Poesie ohne Portogebühren! Wo gab’s denn das! In der DDR!
Gibt es ein Geheimnis für den Erfolg des Poesiealbums. Es gibt kein Geheimnis. Die stimmige Korrespondenz zwischen Poesie, Publikation, Preis und Publikum sicherte den anhaltenden Zuspruch. An den Erfolg anzukoppeln, wär’ wahrlich keine Schande. Den Versuch des Galrev Verlages und der Connewitzer Verlagsbuchhandlung zu diffamieren, die 1997 mit den Poetischen Boegen in die Fußstapfen des Poesiealbum treten wollten, war dumm und dreist. Scheitern mußte er, weil die förderliche Korrespondenz fehlte. Das Schicksal wird auch jenen hessischen Verleger ereilen, der jüngst mit einer kompletten Kopie des Poesiealbum auftauchte. Am Pranger stehen wird er als linkischer Räuber. Alle Rechte am Poesiealbum gehören dem zum Medienverband der PDS gehörenden Verlag Neues Leben. Spät, nicht zu spät, hat er von seinem guten Recht Gebrauch gemacht und sich um die Wiederverwendung des Potentials Poesiealbum gekümmert. Nicht provozierend, doch prononcierend bietet der arg geschrumpfte Verlag den Band Poesiealbum 1967–1990. Dichter aus jenem Land – mit Gedichten aus jener Zeit an. Man meint, Nachtigallen trapsen zu hören. Man meint, die Gedichte zu sehen, die als Garnitur zur Geschichte des Landes da waren, dessen Name selten vollständig ausgesprochen wurde. Aufkommender Unmut ist völlig unbegründet. Niemand muß noch einmal die Stilblüten der Agitproplyrik der DDR pflücken. Davor bewahren Namen wie Arndt und Bobrowski, Brecht und Becher, Hacks und Hermlin, Kunert und Kunze, Kirsten und Mickel. Neunzig Nummern des Poesiealbum wurden von den Lyrikern des Landes besetzt. Sie vollständig zu versammeln war offenbar nicht beabsichtigt. Zumindest ist das den auffallend zurückhaltenden Äußerungen der Herausgeberin Katrin Pieper zu entnehmen, die das Geburtsjahr der Reihe fälschlich auf das Jahr 1969 datiert. Die Auslassungen haben Gründe. Nicht alle Anschriften aller Autoren waren ausfindig zu machen. Das sagt einiges. Andere Autoren waren nicht willig, sich aufs Gruppenporträt zerren zu lassen. Das sagt mehr. Lange und vergeblich wird man nach Bernd Jentzsch Ausschau halten. Das sagt alles. Das Nebeneinander von Nicht-Dichtern und Lyrikern. Auch-Lyrik und Dichtung erzählt, wie leichtfertig geistige Grenzen in den Grenzen des Landes gezogen wurden und wie durch wen wieder entgrenzt. Das lesend, so herausgelesen, gibt’s manches gute und starke Stück Dichtung aus der DDR, das getrost ins Poesiealbum der deutschen Literatur eingetragen werden kann. Das Unvollständige hat genug Vollständigkeit. Nicht jeden Vers vollends zu beachten heißt, mehr Zeit fürs Betrachten der Graphiken Made in GDR zu haben, die das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Wer auf der Suche nach der sozialistischen Nationaldichtung der DDR ist, ist auf dem Holzwege, auf dem die waren, die sie deklarierten. Da es Dichtung ist, rühmenswert wie die Reihe „Poesiealbum“, reicht’s, um den Sammelband eine Sammelstätte der Dichtungen und Dichter der DDR zu nennen. Eine Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen? Auch!
Bernd Heimberger, luise-berlin.de, 1999
Mein Dörfchen, das heißt DDR
− Verstaubtes aus dem Keller: Ein Rückblick auf das Poesiealbum. −
„Dieser Text ist verschwunden.“
Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.8.1999
Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt + Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6








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