DER LESER
Und nicht zu tief im Unglück
Sei er, und ja nicht verschlossen −
Daß er den Lebenden klar ist
Steht der Dichter, ein Tor, sperrweit offen.
Zu den Füßen ragt die Rampe,
Alles tot, leer, klirrendes Licht −
Des Limelight kalte Flamme
Zeichnete sein Gesicht.
Und jeder Leser ist wie ein Geheimnis,
Wie ein vergrabener Schatz.
Wärs der letzte, wär es einer,
Der sein Lebtag geschwiegen hat.
Dort ist alles, was uns die Erde,
Wann immer sie will verbirgt.
Dort weint jemand, einer, hilflos
Zur Stunde, die angesetzt ist.
Und wieviel dort nächtliche Schatten,
Und Finsternisse, und kühl.
Doch die Augen, die unbekannten,
Reden mit mir bis zum Licht.
Für das eine sind sie voll Zweifel,
Für das andre loben sie mich…
So fließt die stumme Beichte,
Die seligste Glut des Gesprächs.
Unsre Zeit geht auf Erden eilig
Und eng ist der Ring gelegt.
Doch er, unwandelbar, ewig,
Bleibt: ohne Namen, der Freund des Poeten.
Übertragen von Rainer Kirsch
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Das lange Leben der Achmatowa
und eine bis ans Ende frische Schaffenskraft des Talents verbanden in ihrer Person unsere literarische Gegenwart mit dem lebendigen Erbe der klassischen russischen Poesie, das neunzehnte mit dem zwanzigsten Jahrhundert. Die Zeit von ihren poetischen Anfängen bis in unsere Tage übertrifft die Zahl der Jahre, die zwischen Puschkins Tod und dem Beginn des Symbolismus liegen. Es ist eine ganze Epoche im Leben unseres Landes und der ganzen Menschheit, die von außerordentlichen geschichtlichen Bewegungen und Erschütterungen geprägt ist – von zwei Weltkriegen und der Oktoberrevolution… Der Weltruhm der Achmatowa ist der Sieg großer realistischer Kunst.
Viktor Schirmunski, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1987
Dies sind mißreißende ergreifende Gedichte,
die ein großer Mensch von großer Art geschrieben hat… Hier entsteht die Gestalt der berühmten Dichterin… in der Rolle einer kühnen Erneuerin, die des Umgestalters Block gigantische ungeordnet-vergeistigte Ausstrahlung mit den Zügen ihres bis zu den letzten Worten ausgesprochenen Realismus in Einklang brachte…
Boris Pasternak, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1987
Wiedergelesen
Anna Achmatowa wurde 1898 unter dem Namen Anna Andrejewna Gorenko im Gebiet Odessa geboren, sie gilt als die bedeutendste russische Lyrikerin; das Lexikon der Weltliteratur der DDR von 1963 verschweigt allerdings ihren Namen. Ihr Weg zum Ruhm war steinig – die Tochter eines Marineoffiziers heiratete mit 21 Jahren den russischen Dichter N.S. Gumiljow, er war zwölf Jahre älter, Begründer der literarischen Schule des „Akmeismus“ (griech. Blüte, Reife) und von gewaltigem Einfluss auf die Jugend. Gumiljow sympathisierte nicht im geringsten mit den Siegern der Oktoberrevolution, 1921 wurde er von den Sowjets des Hochverrats beschuldigt und erschossen. Die Ehe mit Anna Achmatowa war bereits 1918 geschieden worden, vorher erschienen ihre ersten Gedichtbände (Abend 1912, Rosenkranz 1914, Weißer Vogelschwarm 1917); als führende Vertreterin des Akmeismus gestaltete sie sehr private Themen wie Liebe, Sehnsucht, Trennung, Verlust, Verzicht. Es sind von Trauer und Wehmut durchzogene Strophen, an der klassischen Lyrik Puschkins geschult, mit ihren Gedichtbänden gewann sie sogleich eine Unzahl von Lesern und Anhängern, nicht aber die Zustimmung der Sowjetmacht. Ein russischer Freund bezeichnet als Grundzug von Achmatowas Persönlichkeit:
Erhabenheit. Nicht Arroganz. Nicht Hochmut, nicht Überheblichkeit, sondern eben Erhabenheit: würdevoller, majestätischer Gang, unerschütterliche Selbstachtung, hohes schriftstellerisches Sendungsbewusstsein…
Ein anderer Charakterzug: Sie war ohne Sinn für Besitz. Meist lebte sie ohne eigene Wohnung, bei Freunden. Ihr einziger Besitz war ein abgewetztes Köfferchen voller Manusripte, das sie auf allen Reisen begleitete. „Wohl niemand auf der Welt ist / Unbehauster und heimatloser“, sagt sie von sich. Und in einem knappen autobiografischen Abriss von 1965 erwähnt sie kommentarlos:
Mitte der zwanziger Jahre wurde die Veröffentlichung meiner Gedichte, sowohl der neuen wie der alten, fast völlig eingestellt.
Sie unterlag einem Schreib- und Druckverbot – unvorstellbar für eine Autorin ihres Schaffensdrangs! Die Sowjetmacht war kein Nährboden für ihre Poesie; ihre Freunde wurden ebenfalls verfolgt oder verloren sogar das Leben, wie ihr Dichter-Kollege Ossip Mandelstam, ein früherer Akmeist. Achmatowas Sohn aus erster Ehe wurde in einem Stalinschen Lager inhaftiert. Sie lebte in dritter Ehe mit dem Kunsthistoriker Nikolai Punin von 1923 bis 1938. Den Zweiten Weltkrieg hat sie im belagerten, ausgehungerten Leningrad erlebt, wurde später nach Taschkent evakuiert, wo sie schwer erkrankte, mit Kriegsende kehrte sie nach Moskau zurück. Ihre Verse über die Leiden ihres Landes im Vaterländischen Krieg sind erfüllt von einem tiefempfundenen Patriotismus. Vorübergehend wurde sie wieder gedruckt – wie es die Machthaber für opportun hielten. 1946 wurde sie von Shdanow, dem rigidesten Stalinsten der sowjetischen Kunstpolitik, bezichtigt, ihr Werk verbreite „Ästhetizismus, Kosmopolitismus, Pessimismus“, und sie wurde aus dem staatlichen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Erst nach Stalins Tod wurde sie rehabilitiert. Aber nie dachte die Dichterin daran, das Land ihrer Sprache zu verlassen, was der Weltberühmten ein Leichtes gewesen wäre:
Du bleibst uns erhalten, du russisches Wort,
Du große russische Sprache.
Vor Untergang und Gefangenschaft
bewahren wir deine Reinheit und Kraft
für immer.
(1942)
Von 1940 bis zuletzt schrieb sie an ihrem poetischen Testament, der gewaltigen Geschichtsdichtung Poem ohne Held. Anna Achmatowa verstarb 1966 im Gebiet Moskau, vor ihrem Tod konnte sie noch viele europäische Ehrungen entgegennehmen, die Universität von Oxford ernannte sie zum Ehrendoktor.
Richard Christ, Buchkultur, Heft 139, Dezember 2011
Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt + Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Xenia Menschikowa: Ein Denkmal für Leid, Stolz und Mut, Die Zeit, 1.10.2018
Zum 2. Todestag der Autorin:
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Zum 100. Geburtstag der Autorin:
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + KLfG + dekoder + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA + akg-images
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Anna Achmatowa Begräbnis.








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