KONZERT FÜR KOLIBRI UND KAMPFFLUGZEUG (I)
Der Tag steigt auf in halbem Dämmern
fange ich Sätze ungeschriebne Träume
die Bilder blütenschwerer Bäume
und vom Gewölbe kommt wie Hämmern
Hall Widerhall und scharfes Krachen
der Kampf der Eulen mit den Krähen
um einen Platz zum Nisten Spähen
der Bülbüls liebestolles Lachen
Mein Wüstengarten glüht orange und gold
lackierte Vögel schwarz und blau
in kalter Morgenstunde Tau
sind still die Blüten eingerollt
OMER, 1999
KONZERT FÜR KOLIBRI UND KAMPFFLUGZEUG (II)
Aus dem blankesten Blau
eines Sommertages verdunkeln
in Sekunden sich Himmel und Luft
in weißes Erschrecken
Häuser klirren
und Kolibris in der Blüte
muss in Lidschlagschnelle
der Süße des Lebens entsagen
Welche Hoffnung wir jemals
im Herzen getragen
kaltes Krachen zerweht sie
zu farblosen Flecken
Kehrt der Frieden je wieder
so ist es für Augenblicke
Gibt es mehr zu hoffen
in diesen Tagen?
RAMAT HANEGEV, NAHE GAZA, 2008
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Editorische Notiz
Die Gedichte dieses Bandes entstanden zwischen 1989 und 2014. Einige von ihnen wurden bereits in dem Band Die Wüste lächelt veröffentlicht, der 2001 erschien und seit Jahren vergriffen ist. Inzwischen kam eine Anzahl neuer Gedichte hinzu, in der Regel – bis auf vereinzelten Abdruck in Anthologien oder Zeitschriften – unveröffentlicht.
Verlag und Autor danken Jakob Hessing, Professor für deutsche Literatur an der Universität Jerusalem, für sein Nachwort. Dank auch an Sabine Kahane, die für diese Ausgabe einige in der Wüste Negev entstandene Grafiken zur Verfügung stellte.
Zeichen des Weges
Als einige der frühen Gedichte dieses Bandes 2001 in der Sammlung Die Wüste lächelt erschienen, schrieb ich ihnen ein Begleitwort und nannte es „Zeichen des Weges“. Damit war auch der Lebensweg Chaim Nolls gemeint, der ihn von Berlin nach Jerusalem geführt hatte – zwei Städtenamen, mit denen schon der Kabbalaforscher Gershom Scholem seine Autobiografie betitelte. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war auch er diesen Weg gegangen, denn lange vor Hitler wusste er bereits, dass es die deutsch-jüdische Symbiose niemals gegeben hat; dass die deutsche Kultur, von vielen Juden ersehnt, nur ein leerer Traum gewesen war; und dass das Ende des jüdischen Exils nicht in Deutschland lag.
Die Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen, oder was man dafür gehalten hat: Moses Mendelssohn baute seine Hoffnung darauf, Heinrich Heine seinen Witz. Paul Celan ging daran zugrunde. Allen Generationen unserer gescheiterten Moderne setzte sie ihre Zeichen, und noch Chaim Noll steht in ihrem Bann.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Zur Welt ist er gekommen, als es ein deutsches Judentum gar nicht mehr gab. Und aufgewachsen ist er in der DDR. In jenem Deutschland also, das seine jüdischen Wurzeln erstickte und stattdessen andere Träume bot. Chaims Vater, Dieter Noll, gab ihnen Ausdruck in Die Abenteuer des Werner Holt, einem Roman über die Wandlung eines Hitlerjungen zum getreuen Kommunisten, mit dem er zu einem der erfolgreichsten Autoren Ostdeutschlands wurde.
Was es freilich mit den neuen Träumen dieses neuen Deutschlands auf sich hatte, erfuhr der Sohn – er hieß damals noch Hans – bald am eigenen Leib. Weil er den Wehrdienst verweigerte, wurde er in Irrenanstalten gesperrt, ging später in den Westen, floh von Deutschland nach Deutschland und in andere Länder, nahm den Namen Chaim an.
Heute lebt er in Israel, und auch das ist nicht selbstverständlich. Viele Juden haben die deutsche Literatur der beiden vergangenen Jahrhunderte mitbestimmt, aber kaum einer von ihnen ist je nach Palästina oder später in Herzls Judenstaat ausgewandert: Kafka nicht, obwohl er es wollte; Richard Beer-Hofmann nicht, obwohl er in den Zwischenkriegsjahren zu Besuch kam, bevor er nach Amerika ging; weder Peter Weiss noch Elias Canetti, weder Edgar Hilsenrath, obwohl er den Krieg in Palästina überlebte, noch Jurek Becker oder Wolf Biermann, die wie Chaim Noll die DDR verlassen hatten; und selbst Nelly Sachs und Paul Celan nicht, so sehr sie im Leben und Werk um ihr Judentum gerungen haben. Auch Else Lasker-Schüler, die 1945 in Jerusalem starb, wäre nach dem Krieg wieder nach Europa zurückgekehrt, wie Arnold Zweig, der es vorzog, nicht in Haifa, sondern in der DDR zu leben, als Chaim Noll noch nicht geboren war.
Die Kultur des Westens, für viele Juden in deutsche Dichtung gegossen, war ihnen einst als Rettung erschienen. Vielleicht steht deshalb eine unsichtbare Mauer zwischen dieser Dichtung und dem Staat, der aus der Shoa erwachsen ist: Varianten eines Heils, die sich gegenseitig ausschließen. Einst hatten Juden gehofft, im deutschen Kulturraum ihre neue Heimat zu finden und zwei Jahrtausende der Wanderschaft zu beenden; als ihre Hoffnung in die Katastrophe führte, blieb für viele nur noch das Gelobte Land, in dem die deutsche Dichtung keinen Raum mehr hatte.
Chaim Noll ist einer der wenigen, die diese Mauer zu durchbrechen suchen. Und es ist nicht nur die deutsche, es ist die abendländische Kultur, die er in seinem Gepäck führt. Bevor er nach Israel kam, lebte er in Italien, und 1994 schrieb er Roma Hebraica. „Und da ist mein gelber Turm, die Synagoge“, sagt er vor dem Panorama Roms und seinem höchsten Punkt, dem Petersdom.
Nahe bei den anderen. Immer ist mir bei diesem Anblick, als müsste sich endlich ein Weg finden, die unsinnige Feindschaft zu begraben.
Doch bereits in Italien weiß er, dass es keinen Rückweg mehr gibt. „Auch des Kaisers Villa war“, schreibt er 1995 in Sperlonga, „Station einer Flucht nach Süden / sein Bad in der Grotte / im Schatten der Via Flacca / unter Wasser liegende Trümmer // mit scharfen Muscheln bewachsen im Dunkel / zerschnitten mir lautlos Schenkel und Hüfte // […] wir ahnten den Heimweg beizeiten / Kann sein mein Leben begann / erst an diesem blutigen Tag“.
Das „Wir“, von dem in diesen Zeilen die Rede ist, findet wenige Jahre später – 1999, als Chaim Noll schon in der Wüste Negev lebt – einen anderen Ausdruck. Im Gedicht „Wohin du gehst“ heißt es:
Aus der Betonwüste
folge ich dir in die Wüste
statt Neonlicht über
feucht glänzenden Avenuen
sehe ich Abrahams Sterne
am abendfüllenden Himmel
kein Kino nötig
kein Kurfürstendamm
Diskret bringt der Dichter seine eigene Lebenssituation ein. Abrahams Sterne und der Wüstensand, biblische Metaphern für die gottverheißene Nachkommenschaft, stehen unter dem Motto aus Ruth 1,16, „Wohin du gehst, da will auch ich gehen, wo du lebst, da will auch ich sein“. Es ist eine Frau, die hier spricht: Wie Ruth, die Tochter eines fremden Volkes, einst ihrem Boas in die Wüste folgte, so begleitet seit ihren gemeinsamen Anfängen in Berlin auch Chaim Nolls Frau, die zum Judentum übergetretene Malerin Sabine Kahane, ihren Mann durchs Leben.
In der Wüste Negev, ihrem Wohnort nahe bei Beer Scheva, sind sie heimgekommen, aber Chaim Noll gibt sich keinen Illusionen hin. „Konzert für Kolibri und Kampfflugzeug“ war schon 1999 entstanden, damals hatte es den „Kampf der Eulen mit den Krähen / um einen Platz zum Nisten“ beschrieben. 2008, im Schatten der periodischen Nahostkriege, fügt er ihm eine zweite Fassung hinzu und macht sie zum Titelgedicht der neuen Sammlung. Jetzt ist es das Zerstörungswerk der Menschen, das die Zeilen bestimmt, und eine Frage, die Chaim Noll umtreibt:
Kehrt der Frieden je wieder
so ist es für Augenblicke
Gibt es mehr zu hoffen
in diesen Tagen?
Er schaut auf den Wüstensand und stellt Fragen, aber er weiß die Antworten nicht. In „Über Menschenwort hinaus“ lesen wir „Spuren im gelben Staub / Wer setzte nicht alles / sein Mal / in das immer wieder Verwehte / gespreizter Kamelhuf / Wagenradschleife / mit Ziegenfell umwickelter Fuß / ziehender Hirten / gegossene Sohle / marschierender Stiefel / der welterobernde Turnschuh / schwarz vermummter Gestalten / […] das wühlende Wesen / laufender Sandvögel / Zinken und Zeichen / Keilschrift / die Avram in Ur / in Ton ritzen lernte / Schlange, Schakal / und manches / was wir nicht verstehen / morgen schon Sand verweht / über Menschenwort hinaus“.
Jakob Hessing, Jerusalem, Januar 2015, Nachwort
Chaim Nolls Gedichte
sind Notizen, die auf seinen Wegen zwischen Deutschland und der Wüste Negev entstanden sind. Die Gedichte folgen seinem Lebensweg von Berlin über Rom und Tel Aviv in den noch weitgehend unerschlossenen Süden Israels. Seine Erfahrungen und Gefühle spiegeln sich in den formal strengen Versen wider.
Die Künstlerin Sabine Kahane, die seit vier Jahrzehnten mit Noll zusammenlebt, schrieb über diese Texte: „Laufend durch den hellen Wüstensand entstehen seine Gedichte, in der Metrik seiner Schritte wirbeln sie auf. Sei sind wie gesponnenes Gold, gesandstrahlt durch seine klaren Gedanken.“ Im Band sind Grafiken von ihr aus den letzten Jahren zu finden.
Verbrecher Verlag, Klappentext, 2015
Beiträge zu diesem Buch:
Karsten Zimalla: Chaim Noll: Kolibri und Kampfflugzeug
Westzeit, 1.8.2015
Jan Kuhlbrodt: Zu Chaim Noll
signaturen-magazin.de
Barbara Zeizinger: Landschaft mit Stille und Schießstand
fixpoetry.com, 2.6.2015








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