Christa Reinig: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christa Reinig: Gedichte

Reinig-Gedichte

DER ANDERE

Ein andrer läuft in meinen schuhen
aaaund irgend wer hat meinen mantel an
aaaich lasse das auf sich beruhen
aaaich hänge nicht daran

ich bin so eingewohnt in mist
aaaund achte nicht mehr auf behausung
aaawenn goethezweihundertjahrgeburtstagsfeier ist
aaadann geh ich gerade zur entlausung

ich schwitze täglich vierzehn stunden
aaaund schufte und verdiene geld
aaaich hab ihn nur noch nicht gefunden
aaaden andern der es einbehält

 

 

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Beitrag zu diesem Buch:

Horst Bienek: Die Definition der Dinge
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8 6.1963

 

Doppelbödige Sprache

– Laudatio zum Bremer Literaturpreis 1964, gehalten am 26.1.1964. –

[…] In Berlin wird eine Sprache gesprochen, die das Gegenteil von dem ist, was man gemeinhin unter einem lyrischen Idiom versteht, eine unterkühlte Sprache. Peter Huchel sagt:

Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache,
Nicht abgewandt,
Im steinigen Grund.

Gerade mit einer solchen Sprache geht die Lyrikerin Christa Reinig um, und sie weiß, was sie tut, denn mit dieser Sprache hat es schon von Haus aus eine Bewandtnis, die der Dichter ihr sonst erst mitteilen muß – die Doppelbödigkeit. Der ihr innewohnende Widerspruch zwischen dem vordergründigen Ausdruck und der hintergründigen Meinung wird in Christa Reinigs Mund zu einer künstlerischen Chiffre. Die Kühle meint in Wirklichkeit das seltsam Warme da innen, das nicht unmittelbar gesagt werden will und auch nicht unmittelbar gesagt werden kann. Der Witz meint die Schwermut, die Sicherheit meint das Verlorensein, die Kraßheit das Zarte, der Realismus die Schönheit. „Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche“, ein Ausspruch von Hugo von Hofmannsthal. Es handelt sich beim Verstecken – beim Verschlüsseln, wie man heute sagt – um einen dialektischen Vorgang; der Dichter macht etwas offenbar, indem er es versteckt. Die Tiefe, von der die Rede ist, kann auf keine andere Weise entschleiert werden, als durch Verschleierung. Das erfordert ein hohes Künstlertum; ein ebenso hohes, wenn nicht ein noch höheres erfordert das Verstecken der tiefen Dinge in ihren Gegensätzen und nun gar in ihren oberflächlichen Gegensätzen: Da ist vollends eine doppelte Dialektik im Spiel. Und eben auf diese atemraubende Kunst und Kunstfertigkeit versteht sich Christa Reinig wie wenige. Kaum ein Gedicht, in dem sie nicht zum Zuge käme, diese Kunst; nicht um ihrer selbst, sondern um der Wahrheit willen.

Ursprünglich hat Christa Reinig das Blumenbinden gelernt, aber sie ist nicht dabei geblieben, nein, wahrhaftig nicht. Man sollte meinen, vom Blumenbinden zur Lyrik sei es nicht weit, aber für Christa Reinig war es entsetzlich weit. Sie ist nicht den kurzen, direkten, bürgerlichen, sondern den weiten Weg gegangen, den Weg andersherum, den ihr aufgezwungenen Umweg durch ein ganzes Weltall von Verzweiflung, Qual, Dreck, Verlorenheit, Blut und Tod. Welche Bereiche des Entsetzens, aber auch der Tapferkeit sie dabei durchschnitten hat, läßt das Gedicht „Die prüfung des lächlers“ ahnen. Es trägt die Widmung: „Für meine mutter, die dem lächler das haupt gehalten hat.“ Die letzte Strophe lautet:

Doch als man ihm nach einem wuchtigen tritt
die lippen rundum von den zähnen schnitt
sah man ihn an, erst ratlos, dann erstarrt
wie er im lächeln unentwegt verharrt.

Als Christa Reinig schließlich bei der Lyrik ankam, hielt sie etwas anderes in Händen als Blumen. Da wußte sie Bescheid und da sagte sie Bescheid: da redete sie wie die Irren reden. Da gehörte sie zu denen, die in diesem Leben nicht mehr nach Hause finden, da sprach sie zu ihnen und für sie; nur für sie und nur zu ihnen. Also nicht zu uns? Doch, auch zu uns, zu einigen von uns; zu denen, die den verzweifelten Mut haben, zu wissen und zuzugeben, wie es in Wahrheit in ihnen aussieht. Wer von uns ist denn nicht im Grunde seines Wesens ein Heimatloser oder ein Blinder oder ein Stromer oder ein Träumer oder ein Sternzertrampler oder ein Liebestoller oder ein Zigeuner oder ein Irrer oder ein Mörder oder etwas noch Schlimmeres? An diesen eigentlichen Menschen im Menschen, an den schrecklich wirklichen, an den hilflosen, verlassenen und verlorenen, an den in seiner Verlorenheit aufweinenden oder um sich schlagenden Menschen wendet sich Christa Reinig, und nicht an den Schein-Menschen, an den wohlanständigen Menschen, an den Fassade-Menschen, an den schönen Menschen, an den frommen Menschen, an den sicheren Menschen, an den heldenhaften Menschen. Sie wendet sich dahin, wo Hunger und Leben, und nicht dahin, wo Sattheit und Dürre ist. Aber ihre Hinwendung hat, weil sie von einer Dichterin vollzogen wird, eine schöpfungsträchtige Macht. […]

Manfred Hausmann, aus Wolfgang Emmerich (Hrsg.): „Bewundert viel und viel gescholten…“. Der Bremer Literaturpreis 1954–1998. Reden der Preisträger und andere Text, edition die horen, 1999

Ein großes, zukünftiges Land

An die Herren der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung,
An den Senat der Freien Hansestadt Bremen!

Der 26. Januar ist nahe und ich weiß zur Stunde noch nicht, ob ich mit eigenen Händen den Preis entgegennehmen werde, den Sie mir verliehen haben, und ob ich mit eigenem Mund Ihnen danken darf. Darum bereite ich mich darauf vor, daß ich fern sein werde und suche auf der Skala die Stelle des Senders Bremen, damit ich Sie hören kann, wenn es soweit ist. Denn was bedeutet eine Mauer im Zeitalter der Radiowellen, des Films und Fernsehens, des Telstar und der Weltraumfahrt. Was bedeutet diese Mauer, außer, daß sie für die Betroffenen Leiden und oft auch Sterben bedeutet für den Weg der Menschheit. Es ist, als haben die Menschen des XX. Jahrhunderts einen kühnen Schritt in einen neuen Kontinent getan. Ein großes, zukünftiges Land liegt allen offen da. Und plötzlich springt uns die Schlammflut der alten Zeit an: Grenzstriche, Drähte, Warntafeln, Bannflüche, Verdikte. Man kann mit Augen sehen: Die Menschen ändern sich nie, die Welt ist immer dieselbe. Alles scheint still zu stehen. Das Alte scheint ewig bis zum Untergang. Aber es ist nur seine letzte zusammengekrampfte Kraft kurz vor dem erschöpften Ausatmen.
Zu was war die chinesische Mauer gut und was nützte der Limes dem Römischen Weltreich: Daß das jammervolle Nichtleben und Nichtsterben können eines abgelebten Zeitalters um einige Generationen verzögert wurde. Dann kam der Mauersturz. Die Füße der Menschen eilten über die Niederbrüche hinweg und traten die Steinbrocken zu einer Straße fest. Die Mauer, um die es hier geht, ist nicht von Römern erbaut. Das heißt, sie hat keine Aussicht, ihren eigenen Sturz 1½ Jahrtausende als Denkmal zu überdauern. Sie wird sehr schnell zu Staub. Ein Enkel stampft im Kellergeschoß eines Wolkenkratzers mit dem Fuß auf und sagt: Hier soll einmal eine Mauer gestanden haben oder so etwas ähnliches. Keiner weiß mehr davon, und das wird alles sein, was davon blieb.
In einem Augenblick tiefer Betrübnis und Niedergeschlagenheit im Angesicht dessen, daß ein Wort gegen ein elendes und anachronistisches Bauwerk erbarmungslos bestraft wird, als Gotteslästerung bei alten Völkern bestraft wurde, haben Sie selbst mir bewiesen, daß diese Mauer, die man zum Götzen erheben will, ein Scheinbild ist, das in einer unwirklichen Welt vor sich hindämmert – und haben mich aufgerichtet. Ich danke Ihnen dafür.

Christa Reinig, Berlin, den 16.1.1964

Mit dem Gesicht zur Wand

– Dankrede zum Bremer Literaturpreis 1964, gehalten am 26.1.1964. –

Als Bertolt Brecht gestorben war – und ich erhielt die Nachricht, da wollte ich denken – so:
Jetzt ist er tot, der uns das alles eingebrockt hat, hat sich verkniffen und läßt uns in dem Dreck sitzen, den er selbst mit eingepantscht hat.
So wollte ich denken. Aber bei aller Mühe, ich konnte nicht, ich konnte nur denken:

Als er siebzig war und war gebrechlich
drängte es den Lehrer doch nach Ruh,
denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich,
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu –
und er gürtete den Schuh

Ich erstaunte über mich selbst. Nie hätte ich von mir vermutet, daß ich ein Gedicht von Brecht auswendig kennte, ich hatte immer geglaubt, daß ich ihn hasse, und nun wußte ich, ich hatte ihn geliebt:

Und er packte ein was er so brauchte
wenig, doch es wurde dies und das
So die Pfeife, die er abends immer rauchte
und das Büchlein drin er immer las
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Ich griff zu, den Augenblick festzuhalten, und auf dies wundervolle und einzigartige Gedicht machte ich die Paraphrase und setzte die erste Strophe so:

Als schuster Baruch schon im sterben lag,
stach er die letzten nähte an den schäften,
beschloß noch hier und da mit zwirn zu heften
ein atem stand – und weiter ging der tag

Plötzlich hatte ich wieder die Klinke in der Hand und ließ sie nicht mehr los, ich würde wieder an meine Arbeit gehen, nach so vielen Jahren des Schweigens, Verdorrens und sich wie erwürgt Fühlens.
Das Jahr, in dem das Große Schweigen begann, war 1951. Jeder bekam es auf seine Weise vor den Kopf geschossen. Ich bekam es so: Ich spazierte auf dem S-Bahnhof Oranienburger Straße und um den Zeitungskiosk herum und wußte: Da in dieser Zeitung ist eine Geschichte von mir drin, sie läuft in Fortsetzungen, heute müßte es die vierte Fortsetzung sein. Ich kaufte mir die Zeitung und schlug sie auf. Da stand Puschkin: „Die Hauptmannstochter“, erste Fortsetzung. Vorzüglich, dachte ich, lieber guter Puschkin, aber wo bin ich? Mich gab es nicht mehr. Es war aus.
Zwölf Jahre später sprach ich mit einem Freund über die Gedichte, die von mir erscheinen würden. Ich sagte: „Zwölf Jahre habe ich gestanden wie mit dem Gesicht zur Wand, wenn ich die Augen schloß, konnte ich sie richtig vor mir sehn. Es schien eine rote Ziegelmauer zu sein. Ich mußte mit unendlicher Geduld mit Feilen und Fingernägeln eine Fuge herauskratzen, dann gibt es einen lockeren Stein, dann breche ich den Stein heraus, und wenn ich einen Stein geschafft habe, dann ist das Loch bald so groß, daß ich durchkann – und sehen Sie“, sagte ich, „hier sind die Fahnenabzüge, ein Stein ist locker –“
Er antwortete mir: „Da haben Sie aber eine lange Vorübung gehabt für das, was wir jetzt alle erdulden –“ „Ja“, sagte ich, „meine Mauer dauerte zwölf Jahre lang. Jetzt ist sie reif zu fallen.“
Nun bin ich hier, Ihnen zu danken, daß Sie mir mit Ihrer großen Ehrung geholfen haben, weiterzuleben und weiterzuarbeiten.

Christa Reinig, aus Wolfgang Emmerich (Hrsg.): „Bewundert viel und viel gescholten…“. Der Bremer Literaturpreis 1954–1998. Reden der Preisträger und andere Text, edition die horen, 1999

Erkennen, was die Rettung ist

(…)

Marie-Luise Gansberg: Du sprichst recht häufig von der Verantwortung des Schriftstellers, also von deiner Verantwortung, hast du das schon in den fünfziger Jahren getan? Bist du als Schriftstellerin eine Moralistin?

Christa Reinig: In den fünfziger Jahren hätte ich darauf keine Antwort gewußt, aber später las ich viel Kant, und mit Hilfe von Kant kann ich nun doch die Frage beantworten. Meine Moral läuft über meine Willensäußerungen und wird von der praktischen Vernunft gesteuert. Meine Schriftstellerei läuft über meine Gefühlsäußerungen und wird durch die Urteilskraft gesteuert, und meine Ansichten werden von der Intelligenz gesteuert und laufen über die theoretische Vernunft. Mein Wille ist, daß ich in dieser Welt nicht untergehen will. Und das ist meine Moral. Meine Ansicht ist, daß für mich nichts weiter drin ist als ein künstlerischer Beruf, und das ist meine Intelligenz. Und meine Kunst besteht darin, daß ich Stein auf Bein reimen kann, und das kann ich mit Hilfe meiner Urteilskraft. Ich muß ja nicht sagen, diese oder jene Ansicht von mir ist falsch. Aber ich muß in jedem Augenblick wissen: Dieser oder jener Reim ist falsch. Und indem ich Künstlerin bin mit Hilfe meiner Urteilskraft, bin ich eine Macht. Allerdings ist die Macht des Geldes größer als meine Macht. Daher geht die Kunst nach Brot, und die Kapitalisten lachen und sagen: Na, dann mach mal schön von deinem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch. Aber meine künstlerische Macht ist größer als die einer Ideologie. Mit einem guten Sonett kann ich das Zentralkomitee ganz schön auf Grundeis schicken. Und was können denn die? Die können mich totschlagen. Aber wenn sie das nicht mehr können, dann sind sie unter mir. Und da kommt plötzlich meine Moral. Was darf ich und was darf ich nicht? Es gibt Dinge, die darf ein Schriftsteller seiner Mitmenschheit nicht antun. Aber es gibt Dinge, die muß ich tun. Wenn ich mich da verweigere, bin ich einfach feige. Wo ist die Grenze? Das Recht der freien Meinungsäußerung, Pressefreiheit, das ist eine Annehmlichkeit. Aber dann ersaufen wir in Sex und Crime! Was nützt uns eine Freiheit, die zur Folge hat, daß wir uns nicht mehr über die Straße trauen. Meine Grenze kenne ich, hoffentlich. Aber kennen die anderen ihre Grenzen? Ich lebe von der Freiheit. Ich darf sie gar nicht in Frage stellen. Aber ich sehe vieles, von dem ich sage: Das darf es nicht geben. 

Gansberg: Ich könnte mir denken, daß du mit der Hinwendung zur Frauenbewegung die Frage schärfer siehst und vielleicht deine Texte in einer anderen Weise überprüfst, als das etwa bei dem „Orion“-Text von 1969 der Fall gewesen ist?

Reinig: Der „Orion“-Text ist amoralisch insofern, daß ich in alle Vorurteile hineinbediene. Er funktioniert als Zeichen. Probleme gibt es da gar nicht. Die Probleme kommen erst, wenn ich eine Verantwortung tragen will. Die Mehrheit ist nicht feministisch. Die Leser reagieren nicht auf feministische Zeichen. Ich hab plötzlich eine Verantwortung. Aber die reicht nicht für alle.

Gansberg: Die Hälfte der Bevölkerung ist keine Minderheit. Aber es ist eine diskriminierte Hälfte.

Reinig: Das macht mir ein gutes Gewissen. Und aufgrund dieses guten Gewissens schlage ich über alle Stränge. Als ich die Texte zu „Der Wolf und die Witwen“ schrieb, dachte ich, was tu ich denn da? Ich gebe noch ordentlich eins drauf! Und wie weit darf ich gehen? Da gibts die Geschichte, wo alle Männer tot am Boden liegen. Die Geschichten erschienen in der satirischen Zeitschrift Schwarze Botin. In einer Besprechung hieß es: Das ist schon ganz gut, aber nun mußt du schärfer werden. Da sagte ich, schärfer kann ich nicht. Selbst wenn ich ein Messer wäre, dann würde ich vom Immer-schärfer-Werden auch immer dünner. Es bleibt dann nichts mehr übrig. Es wird abgewetzt. Es gab auch Interviews aus meiner vorfeministischen Zeit. Da war ich unparteiisch. Das gefiel. Plötzlich gab es überhaupt die Möglichkeit, die Partei der Frauen zu nehmen. Das war doch auch: meine Partei zu nehmen. Da haben sich nicht allein Männer gewehrt, die doch bis dato meine Freunde waren. Da haben sich auch Frauen gewehrt: „Mein Vater, mein Bruder, mein Gatte, mein Sohn! Die sind auch unterdrückt, die armen, beklagenswerten Männer.“ Angenommen, wir hätten ein Matriarchat, und wir wären die bösen Frauen von denen du immer in der Zeitung liest, daß es sie irgendwo gibt. Was wäre dann meine Partei? Oder wir bekommen das Matriarchat, und die großen, starken Frauen bauen eine neue Menschheit auf. Dann sind vielleicht die Männer unterdrückt. Würde ich dann ihre Partei nehmen? Ich glaube nicht. Ich bin eine Frau, ich kanns nicht ändern. 

Gansberg: Bis wir matriarchale Zustände bekommen, wird es ja noch ein bißchen dauern.

Reinig: Als Frau bin ich eine unterdrückte Minderheit ungeachtet der zahlenmäßigen Mehrheit, aber ich kann ja nur die Frauen zählen, die sich zur Wehr setzen, und dann sind wir eine Minderheit. Also die Verantwortung der Schriftstellern, die für eine unterdrückte Gruppe von ihrem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch macht. Übrigens, warum fragt mich niemand nach Friederike Kempner? „Poesie ist Leben, Prosa ist der Tod, Engelein umschweben unser täglich Brot.“ Nicht übel, aber leider daneben. Frauen können so unerhört daneben sein. Auch ich bin ab und zu daneben. Das ist eben, daß ich daneben stehe. Wir Frauen sind die Daneben.

Gansberg: Eine andere Frage, was bringt dich zur Produktion?

Reinig: Schwer zu sagen: Phantasie, Einfälle, Ideen habe ich und mache nicht unbedingt davon Gebrauch. Habe auch nicht viel Lust, das alles aufzuschreiben. Manchmal denke ich, das würde sich lohnen. Aber wozu? Über jedem Buch sterben Bäume. Dann bekomme ich einen Freilauf. Ich denke, das schreibe ich auf. Dann gibt es die Regelproduktion, die überhaupt nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist: Tagebücher, alles, was mir begegnet, wird schon einmal gewohnheitsmäßig aufgeschrieben. Das ist wie Klavierspielen. Übung muß sein. Dann gibt es die Bücher, die nicht einfach gelesen werden. Es gibt ganze Regale im Keller mit nichts als den Ordnern, in denen ich die Exzerpte gesammelt habe, alle Aufzeichnungen, die über den Lesestoff gemacht wurden. Vieles gäbe Material für eine wissenschaftliche Arbeit. Dann sehe ich manchmal einen Text, den hätte ich anders gemacht und – manchmal schreibe ich eine Geschichte von jemand anders ganz neu, so wie ich sie gemacht hätte.
Ein typischer Fall. Vor vielen Jahren, genau datiert, vor fünf Jahren, las ich ein Buch. Die Autobiographie eines Psychologen. Ich weiß nicht einmal den Titel und auch nicht den Namen. Ich las es fern der Heimat im Urlaub aus fressender Langeweile. Es interessierte mich nicht. Ich verstehe nichts von Psychologie. Aber eines verstand ich. Er schildert den Fall einer alten Frau, die dauernd vor sich hin erzählte: „Und sie haben meinen Sohn gefoltert mit Schwertern und mit Stangen.“ Die Art und Weise wie der Psychologe begriffsstutzig reagierte, wie alle Heilversuche scheiterten und ich im Nu begriff, was dieser Frau widerfahren ist, das habe ich mir im Hinterkopf aufbewahrt. Und plötzlich hatte ich den roten Faden, wie ich diese Geschichte erzählen kann. Dann wurde es eine Geschichte. Sie heißt nun „Mit Schwertern und Stangen“. Inzwischen ist sie wohl auch schon gedruckt oder gesendet. Du kennst sie.
Eine andere Geschichte, die mich jahrelang beschäftigt hat: Ich will erzählen, wie zwei Frauen in ein Café oder ein Lokal kommen und von den Leuten angestarrt werden. Von Zeit zu Zeit werde ich gefragt, das übliche: „Was arbeiten Sie denn gerade?“ Ich sage, ich arbeite an einer Geschichte, in der zwei Frauen durch die Tür in einen Raum eintreten und von den Leuten angestarrt werden. Manchmal bekam ich gar keine Antwort. Einmal sagte eine Frau: Ach, das ist doch keine Geschichte. Ich sagte: Das ist es doch. Literatur ist nicht das, was passiert, sondern das, was nicht passiert. Daß irgendein Nichts und Abernichts geschieht, und du schilderst es. Das ist die Kunst. Na, eines Morgens wache ich auf, und die Geschichte ist fertig. Das ist mir noch nie passiert. Ich frühstückte und ging an die Maschine. Ich schämte mich fast, daß ich etwas schrieb, einfach, weil es in meinem Kopf Wort für Wort wie auswendig gelernt stand. Der Titel „Ein Sonntag im Krieg“. Der Krieg findet nicht statt, weil Sonntag ist und die Leute spazierengehen. Und sie erzählen sich was. Ursprünglich erzählten sie was von Theatergehen und von Max Reinhardt. Und da setzte dann doch meine beleidigte Selbstkritik ein. Ich dachte, ich muß doch wohl blöd sein. Die Geschichte begann nämlich mit einer Traumerzählung, und da wäre doch die Signalfigur nicht Max Reinhardt, sondern Sigmund Freud. So hab’ ich dann doch korrigiert. Und es wurde anders als dieses wort-wörtliche Fertigsein eines Textes, mit dem ich buchstäblich aufwachte. Jedenfalls der Drehpunkt der Geschichte ist der Augenblick, da zwei Frauen in ein Eßlokal kommen und von den Leuten angestarrt werden. Ursprünglich habe ich mir das mit „Türaufgehen“ vorgestellt. Aber das war in dem, was in mir gewachsen ist, nicht drin. Die Sache spielte zu meiner Überraschung in einem Gartenrestaurant. Das ist ein Fall, wie eine Geschichte jahrelang braucht, bis sie vom ersten Plan endlich da ist. Zum Schluß ists nur noch ein Sprung. Es ist, als ob die Dinge sich von selbst wollen.

Gansberg: Du recherchierst vorher genau, sammelst alle möglichen Zeitungsberichte oder Wissenschaften, und dann knallts in Produktivität um?

Reinig: Nein, recherchieren ist ein anderer Beruf. Das sind die Journalisten, die Detektive. Wenn ich recherchiere, bekomme ich im besten Fall das heraus, was irgendwo passiert ist. Aber das darf ich als Dichterin gar nicht. Wehe mir! Wenn es allzu richtig ist, ist es tot. Es lebt daraus, das irgend etwas geheimnisvoll schiefgelaufen ist, was ich nicht schieflaufen lassen wollte. Andererseits muß ich sehr vorsichtig sein. Die Dinge, die einen Selbstlauf haben, können auch so schieflaufen, daß sie unbrauchbar sind. Letztendlich ist es meine Selbstkritik, meine Urteilskraft, die die Dinge aussteuern muß.

Gansberg: Da könnte ich anschließen. Du hast in den sechziger Jahren, als du in die Bundesrepublik kamst, davon leben müssen, daß du Auftragsarbeiten machen mußtest. Da gibt es doch sicher einen Unterschied zwischen Auftragsarbeit und notwendigen Texten, wozu ich die Himmlische und die irdische Geometrie zähle?

Reinig: Literatur machen ist entweder der leichteste oder der schwerste Beruf. Wenn ich gezwungen bin, Papier zu schwärzen, allein zu meinem Lebensunterhalt dann ist das der bitterste Job, besser ist Steine karren. Was habe ich für Texte schreiben müssen, nur um „am Ball zu bleiben“, nur um nicht „weg vom Fenster“ zu sein. Als ich noch literarisch berufstätig war, da sagte ich im Januar zu meinem Kollegen: „Ich hab’ meine Aufträge unter Dach und Fach, meine Kasse stimmt für dieses Jahr.“ Da sagte er: „Du Glückliche! Meine Kasse muß für zwei Jahre im voraus stimmen.“ Das ist Literatur als freiberufliche Tätigkeit. Aber wenn ich ein Manuskript schreibe wie die Himmlische und die irdische Geometrie, dann bin ich Tag und Nacht auf Hochtouren. Dann interessiert mich auch nicht die Kasse, die ja bei mir seit meinem Unfall sowieso nicht mehr stimmen kann.

Gansberg: Wie war das mit der Hörspielproduktion? Hast du das gern geschrieben, oder, da es nun Geld brachte, war das Auftragsarbeit?

Reinig: Mein erstes Hörspiel war gar kein Hörspiel. Und mein letztes Hörspiel war schon mitten in ein Immer-kränker-Werden hineingeschrieben. Danach ging dann gar nichts mehr. Meine Hörspiele wurden von Jochen Schale beim Südfunk produziert. Das war ein gutes Arbeiten, und ich hatte Erfolg. Ich dachte, so würde es immer weitergehen. Es fing damit an, daß ich einen Text geschrieben hatte: „Kleine Chronik in der Osterwoche“. Ich dachte nicht im Traum an Hörspiele. Es war einfach ein Dialog. Dann aber kam ich auf die Idee, dieser Dialog ist doch eigentlich ein Text, aus dem sich ein Hörspiel machen läßt. Ich wollte ihn in diesem Sinn umarbeiten. Da hieß es, nein, das bringen wir wörtlich, so wie du es geschrieben hast. Da bekam ich Lust, Hörspielautorin zu werden.

Gansberg: War das der „Cholera“-Text?

Reinig: Ja, die „Kleine Chronik in der Osterwoche“. Ich wollte da weitermachen. Ich kannte die Faszination des Radios aus meiner Zeit der Einsamkeit, ich begriff die Wichtigkeit von Hörspielen für Sehbehinderte. Ich hab’ mir auch Theorien einfallen lassen. Diese Theorie zum Hörspiel hab’ ich in meiner Dankesrede zum Hörspielpreis der Blinden vorgetragen. Aber dann war es plötzlich aus. 

Gansberg: Wie wars mit der Übersetzung von Marina Swetajewa? Der Band ist 1968 bei Wagenbach erschienen. War das auch eine Auftragsarbeit, oder hat es dir Spaß gemacht? Wolltest du das machen?

Reinig: Es war eine Auftragsarbeit, und es hat mir keinen Spaß gemacht. Wagenbach wollte es haben, ich sagte, warum denn gerade ich? Er sagte: Du bist die einzige, die noch Reime schmieden kann. Ich sagte: Aber ich habe mein Russisch völlig verschwitzt. Er sagte: Wir helfen dir, du bekommst eine Prosaübersetzung. Darauf hab’ ich mich aber nicht verlassen. Ich schaffte mir ein großes Wörterbuch an und habe jede einzelne Vokabel nachgeprüft, was sie sinngemäß hergibt. Diese Arbeit hat sich gelohnt. Denn die Slawisten haben uns mit Kritik eingedeckt. Dann konnte ich immer sagen: Hier im Wörterbuch stehts, das ist die Bedeutung. Ich habs getroffen. Ich hatte eine geheime Übersetzertradition, da ich in meiner Studentenzeit Puschkin-Verse übersetzte. Du mußt wissen, daß gewöhnlich aus der russischen Poesie nichts herüberzuretten ist. Du kannst als Deutsche nicht begreifen, warum die so für Puschkins Gedichte schwärmen. Das wollte ich wissen und habe auf eigene Faust einiges von Puschkin übertragen. Es ist nie veröffentlicht worden. Ich habs auch niemandem gezeigt. Aber ich war berauscht und habe versucht, diesen Rausch in meine deutschen Vokabeln rauschen zu lassen. Das war 1953/54. Marina übersetzte ich 1965. Ich tats für Wagenbach. Mir selbst bedeutete es nichts als Zeilenschinderei. Jeden Morgen aufstehen mit dem Gedanken: Du mußt an diese Arbeit. Frühstücken in dem Gedanken: Nach dem Frühstück gehts los. Dann krieg’ ich einen Sauberkeitstick und mach’ meine Küche sauber. Aber spätestens um zehn sitz’ ich am Schreibtisch. Und was tu ich? Ich gucke aus dem Fenster.

Gansberg: Dein Widmungsgedicht ist ja etwas ambivalent.

Reinig: Einerseits fühlte ich mich meiner Zeit beraubt, andererseits fühlte ich mich von Marina überfahren. Ich wurde mir selbst entfremdet. Das war für mich nicht gut, aber für Marina. Ich begriff, daß da etwas Großes ist, und dem muß ich gerecht werden. Es war wie im Zoo. Ich gucke durch die Gitter, da sitzt ein Tiger. Ich seh’ ihn nicht. Ich bin froh, daß das Gitter da ist. Aber irgendwie will ich den Tiger doch mitkriegen.

Gansberg: Das war die Autorin?

Reinig: Das war Marina, das war die russische Sprache, als ob ich durch eine Gardine blicke. Ich sehe es vor mir, aber ich kann nicht heran. Dann kam der Augenblick, wo ich mich selbst zerstört hätte, nur um die Gedichte einer anderen Dichterin hinzukriegen. Und dann mußte ich mich losreißen. Ich mußte wieder ich selbst werden. Und wie von den Franzosen aus gesehen die Deutschen etwas zu dick sind, so erschien ich mir selbst den Russen gegenüber als schlank, die Russen waren fett und hatten eine triefende Seele. Das mißfiel meiner Ratio. Ich habe kürzlich eine Russin gefragt, ob sie mein Nachwort als kränkend empfinde. Sie verneinte. Das war damals meine Situation. Ich verabschiedete mich von Marina mit einem Tritt.

Gansberg: Hast du gewußt, daß sie auch lesbische Gedichte und Prosatexte geschrieben hat?

Reinig: Nein, davon bekam ich nichts mit.

Gansberg: Es war also noch nicht…

Reinig: Es war noch nicht „in“. Und ich hätts auch nicht verkraftet.

Gansberg: Ich glaube, das Thema war noch nicht wieder aufgetaucht.

Reinig: Doch es kam so langsam in die Gespräche, zum Beispiel der Film Das Schweigen. Da saß ich mitten in diesen Gesprächen und bekam einen roten Kopf.

Gansberg: Du meinst den Bergmann-Film?

Reinig: Ja, den Bergmann-Film, und dann kam der Bestseller Die Clique, und eine lesbische Randfigur dieses Romans war sogleich in aller Munde. Ich hätte mich am liebsten ins Mauseloch verkrochen. Ich hätte das Thema nicht darstellen können, weder als eigenes noch als das von Marina. Vielleicht, wenn ich gewußt hätte, daß Marina eine Lesbe war, hätte ich mich an die Gedichte gar nicht herangewagt. Ich hatte immer Angst. Das Thema „lesbisch“ war für mich einfach angstbesetzt.

Gansberg: Du hättest Marinas lesbische Gedichte nicht übersetzt?

Reinig: Ich hätte nicht den Mumm gehabt.

Gansberg: Dann möchte ich noch mal zu der früheren Frage zurück, was dich produktiv macht. Ich hab den Eindruck, daß du sehr viel mit deinem Unbewußten kommunizierst und daß Träume und auch Alpträume eine wichtige Rolle spielen. Sie tauchen in vielen deiner Texte auf. Auch in der „Frau im Brunnen“ oder etwa in einer Erzählung aus Die Ewige Schule.

Reinig: Auch Gedichte. Ich habe nie eine Psychoanalyse gemacht. Aber Freuds Traumdeutung hab’ ich gelesen. Es war wohl das einzige, was ich von Freud gelesen habe.

Gansberg: Andere Freud-Texte kennst du nicht?

Reinig: Überhaupt nicht. Doch! Mir fällt ein, daß ich seine Schriften über lesbische Frauen zu lesen versucht habe, aber ich bin nicht draus schlau geworden. Ich kenne die wissenschaftliche Analyse von Träumen nicht. Aber ich beobachte meine Träume, vielleicht ziehe ich ein ganz volkstümliches Zigeunertraumbuch zu Rate. Ich hab’ auch das griechische Traumbuch von Artemidor. Ich versuche schon, mit Hilfe von Träumen über mich Klarheit zu gewinnen. Dann entsteht eine kritische Masse von Erlebtem und Geträumtem, Bewußtem und Unbewußtem. Dann denke ich: So ist das also. Das mach’ ich!

Gansberg: Ja, auch das „Unheimliche“, das eine große Rolle in deinen Texten spielt. Du hast in der Erzählung „Das Leben auf dem Lande“ geschildert, wie du in dem Moment, als du auf den Einödhof kommst, irgendwie einen Druck auf dem Herzen hattest.

Reinig: Zunächst einmal die wahre Geschichte. Den Einödhof gibts, und ich habe einige Zeit darin gewohnt. Ich weiß also, wovon ich rede. Die Pächterin dieses Einödhofs war eine sehr diesseitige Frau aus dem Gaststättengewerbe. Nichts von okkultistischem Interesse. Sie verkaufte ihre landwirtschaftlichen Produkte, und eine Geschäftsfrau aus einer nahen Stadt kam, um dort Milch zu kaufen. Ich kannte sie und telefonierte mit ihr. Ich sagte, hier so einsam und allein gehts mir gar nicht gut. Ich denk’ immer, wenn ich mich umdrehe, seh’ ich ein Gespenst. Sagt die Geschäftsfrau: „Hat doch die Effi recht gehabt! Sie hat immer gesagt: Du, ich kann hier unten durch die Dinge durchsehen.“ Das heißt, dieses Gefühl des Jenseitigen war nicht meine Einbildung, das hat eine Frau, die diesen Dingen fern stand, auch empfunden. Wenn ich damals ein Gespenst gesichtet hätte, wärs eine ganz gewöhnliche Gespenstergeschichte geworden. Aber es gab gar kein Gespenst. Daher wurde es eine Gespenstergeschichte ohne Gespenst. Ich kenne ja auch die dazugehörige literarische Tradition: Edgar Allen Poe, Stevenson, Baudelaire, Dickens, Swift. Aber heute bin ich zu behaglich, um mich diesen Dingen ganz hinzugeben. Die letztuntersten Greuel interessieren mich nicht mehr.

Beerlage: Mir ist klar, daß Satire und Ironie bei dir eine besondere Bedeutung haben. Ich habe da einige Fragen zu dem Komplex der Begriffserklärung. Wie definierst du die Begriffe Satire und Ironie?

Reinig: Die Satire ist eine römische Literaturform. Was in diesem Zusammenhang nicht zu erklären ist: daß die Römer die Griechen gehaßt haben. Dieser Kothurn, dieses Geschrei von dem Orest und dieses Getue von dem Agamemnon. Das war doch nichts, was einem Römer imponieren konnte. Aber die Kunstform, die Denkart, die Theorie, die mußten sie akzeptieren. Irgendwie waren die Griechen toll! Und die Satire ist der Gegenschlag der Römer gegen den griechischen Idealismus. Sie wollten sich selbst mit Haut und Haaren. Die ursprüngliche römische Satire ist scheißnaturalistisch. Der römische Satiriker mußte nicht die Angelegenheiten der gegenwärtigen Politik nach Lilliput verpflanzen, wie das Swift tun mußte, um sich die Haut zu retten und die schlimmen Dinge, die er zu vermelden hatte, überhaupt drucken zu dürfen. Die römische Satire ist unironisch, wörtlich zu nehmen und direkt. Aber hinzu kommt für den Satiriker der Reiz, mutig und aggressiv zu sein. So wie es Juvenal sagt: „Wem tut es weh, daß Achill gestorben ist? Aber wenn ich den Mund auftu, dann erzittert ihr und erbleicht. Ich tu euch weh.“ Heute gibt es keine Satire mehr ohne Ironie. Es gibt sogar Ironie ohne Satire. Ich nehme die Satire nicht leicht. Ich verwechsle sie nicht mit Ironie oder Humor. Satire ist die Messerschärfe, mit der ich meine Leser skalpiere. Ich verstehe unter Satire, daß du darunter leiden mußt. Aber Ironie ist etwas, das können wir gesprächsweise abtun, und wenn man uns beim Wort nimmt, sagen wir, wir hätten es gar nicht so gemeint.

Beerlage: Du hast einmal gesagt: Wer nicht böse ist, wer nicht einen schwarzen Blick hat, könnte das nicht machen, was du machst. Ist dieser „Schwarze Blick“ aus deiner Biographie erwachsen oder bereitet er dir ein ästhetisches Wohlbefinden oder ein frauenpolitisches Vergnügen? Ich beziehe das jetzt auf deine Frauentexte.

Reinig: Ein ästhetisches Vergnügen auf alle Fälle, denn wenn ich mich bei meinem Schreiben langweile, wie langweilen sich erst die Leserinnen? Das erste Kriterium ist, daß ich mich beim Schreiben nicht langweile. Vielleicht langweilen sich dann die Leserinnen, aber das ist ein anderes Problem. Dann die Bosheit. Ein böser Mensch hat viel Gelegenheit, vergnügt zu sein. Chesterton schildert einmal in einer Kriminalgeschichte einen Mann, der mutterseelenallein laut auflacht. Und sein Detektiv, Pater Brown, philosophiert, daß ein Mensch, der für sich allein lacht, entweder sehr gut oder sehr böse ist, entweder freut er sich mit seinem lieben Gott, oder er vergnügt sich mit dem Teufel. Das ist also das teuflische Lachen. Ich habe etwas ganz Böses ausgebrütet. Meine teuflischen Qualitäten bestehen darin, daß ich ein sehr böses Kind gewesen bin. Die Familiengeschichten meiner sadistischen Streiche sind Legion. Ich hab’ dann später als braver Mensch gestaunt: Das soll ich gewesen sein? Ich hatte es vergessen. Ich war ein böses Kind.

Gansberg: Hast du auf die anderen eingeschlagen oder warst du verbal böse?

Reinig: Meine häufigste Bosheit war, daß ich mir von anderen Kindern was schenken ließ. Also ich klaute nicht, trotzdem zog ich bereichert ab, und die Erwachsenen begriffen nicht, warum die anderen Kinder, die ich hinter mir ließ, so bitterlich weinten. Manchmal machten die Erwachsenen Schwierigkeiten, sie wollten mir meine Beute abjagen. Na, dann brüllte ich und setzte mich zur Wehr. Und dann wollte ich immer Blut sehen. Es gab ein Spiel, mit dem die Erwachsenen mich auf die Palme brachten. Irgend so ein Opa oder Onkel, immer ein Macho, schrie laut auf: Oh, jetzt hab’ ich mich geschnitten, ach, wie schrecklich fließt mein Blut. Ich kam angerannt und schrie: Wo! Wo! Und dann hielt der böse Onkel die Hand über seinen Kopf, ich hopste verzweifelt hoch, und alles lachte. Ich lachte natürlich nicht. Ich hatte wieder einen Grund zu plärren. Dann hab’ ich alles verarbeitet, was an Informationen kam. Meine Großmutter schimpfte über meinen Großvater, sie nannte ihn hinter seinem Rücken einen Hund. Die nächste Mahlzeit war ein Hühnchen, und in der Mitte stand eine Schüssel zum Knochen reinwerfen. Ich stellte die Schüssel dem Großvater vor die Nase und sagte: „Die Knochen gehören dem Hund!“ Das waren Kleinkinderstreiche. Als ich Lehrling war, sagten meine Lehrkameradinnen oft: Du hast eine Art, einen zu kränken und zu verletzen, das ist schändlich! Und dann schämte ich mich. Einmal erlauschte ich, wie meine Mutter zu einem Familienmitglied sagte: Ich weiß, daß meine Tochter über Leichen geht, und sie wird auch über meine Leiche gehen. Da war ich vielleicht nicht älter als zwölf Jahre und hab’ mich über diese Worte entsetzt. Ich prüfte mich ständig, daß ich ja niemandem etwas Böses tat. Da wurde ich zusätzlich auch noch eine Heuchlerin. Ich bin auf eine Art gebrochen worden, die ich selbst lange Zeit nicht begriff. Eines Tages war ich ein braves Kind, und das bin ich bis heute geblieben. Ohne dieses gewohnheitsmäßige Die-Schnauze-Halten hätte ich die Arbeiter-und-Bauernfakultät nicht lebend überstanden, ich war sowieso immer mit einem Bein im Keller. Mein Wahlspruch: Sei brav und verfolge deine Zwecke.

Gansberg: Also verschlagen, hinterhältig?

Reinig: In Bayern sagen sie: hinterfotzig. Ich kann auch hinterfotzig sein.

Gansberg: Kam das nicht im Grunde aus einer Verletztheit, damit sie dir nicht auf den Kopf schlagen konnten, hast du ihnen gleich eins auf den Kopf gegeben.

Reinig: Ich glaube nicht. Ich war im Grunde ein zartes Kind, ein trauriges Kind, ich war leicht verletzlich, ich habe viel geweint. Es genügte ein einziges böses Wort, ein böser Blick, um mich zu strafen. Es gibt Menschen, die kannst du in Fetzen und Fransen prügeln, du hast sie nicht gestraft, und sie tun das gleiche noch einmal und holen sich die gleichen Prügel. Bei mir genügte ein Blick und eine kleine Mißfallensäußerung, dann versuchte ich schon, mich zu korrigieren.

Gansberg: Vielleicht sind begabte Kinder besonders sensibel und empfindlich.

Reinig: Manchmal hatte ich gar keinen Grund, niemand hatte mir etwas getan, und ich dachte, warum bist du denn gekränkt, wer hat dir Böses getan? Niemand. Ich will damit sagen, daß meine Empfindlichkeit die Voraussetzung meiner Bosheit ist, nicht etwa durch Strafen entstanden. Weil ich empfindlich bin, weiß ich, wie ich treffen kann.

Gansberg: Das brauchst du, um Kunst zu machen.

Reinig: Es gibt diese Elefantengemüter, die können auf mir so schön herumtrampeln, und dann stellt sich heraus, sie taten es aus Versehen, sie können gar nicht böse sein. 

Beerlage: Du sagtest, als Schriftstellerin mußt du oft zynisch sein. Siehst du dich in diesem Zynismus als „Mahnerin in der Nacht“?

Reinig: I wo! Es gibt das schöne Wort: „Einen Menschen, der sich schlafend stellt, den kannst du nicht wecken.“ Ich sage nur das, was die Leute, die nachts wachen, sowieso wissen. Und das Problem sind nicht die Schlafenden, es wäre ja grausam, sie aus ihrem glücklichen Zustand zu wecken. Das Problem sind die, die sich schlafend stellen. Warum tun sie das? Auf alle Fälle könnte ich sie nicht erreichen. Mit keinem Zynismus. Ich glaube, daß Zynismus in meinem Werk auch als menschliche Verhaltensweise etwas Spätes ist. Es gibt eine Selbstdurchschauung, die sich im Lauf der Zeit einstellt. Wenn ich denke, in wie vielen Gefährdungen ich mir einfach das Leben gerettet habe, dann fällt mir auch ein, daß ich das Notwendige tat, ohne allzuviel Kopfzerbrechen. Aber dann bekam ich diese doppelten Augen. Ich hab’ das schon erzählt, wie ich in Büchern, die ich gut kenne, um die Ecke sehen kann und mehr sehe, als der Autor handlungsmäßig darstellen wollte. Dann habe ich viele Illusionen verloren. Zum Beispiel der große Dichter Rilke, heute sehe ich, wie seine Verse gekittet und geklittet sind. Aber seine Prosa ist gut. Früher oder später kommt jede/r von selbst da an, wo Salomon war, als er sagte: „Alles ist eitel.“ Ein Zyniker wird nicht geboren. Zynisch wirst du mit der Zeit.

Mechthild Beerlage: Mich interessiert, ob du Reaktionen in Briefen und bei Lesungen auf diesen für Feministinnen so unfemininen Zynismus bekommst?

Reinig: Die Frauen, die sich schlafend stellen, und die es ja auch in der Frauenbewegung gibt, schreiben mir keine Briefe. Aber sie versuchen, mich in Diskussionen reinzulegen. Da gebe ich ihnen die Antwort, die gerade hinpaßt, aber ich arbeite mich nicht ab. Schwieriger sind die Vorurteile, die die Frauen in Sachen Christa Reinig haben. Da gibt es die Meinung, Christa Reinig ist bissig. Meistens bin ich nicht bissig. Besonders in Gesprächen will ich unterhalten und nicht beißen. Wenn eine Frau auf die Idee kommt, daß ich so schlimm gar nicht bin, dann bin ich schon zufrieden. Ich denke aber, daß ich den Frauen mit meinen Texten viele Nüsse zu knacken gegeben habe. Allerdings, wenn ich aufgefordert werde, noch bissiger zu sein, noch böser zu sein…

Gansberg: Mehr Morde?

Reinig: Dann hängt mein Firmenzeichen schief.

Beerlage: Du bestimmst die Frauenpolitik auch mit. Wie stehst du zu den Bildern, die Frauen sich von dir machen? Einerseits die Barrikadenautorin, andererseits die böse Zunge mit den dunklen Energien. Wie stehst du zu der Einschätzung, die doch auch Kinderladenfrauen, Mystik- und Magiefrauen von dir haben?

Reinig: Politik ist Politik, und Frauenbewegung ist als erstes Politik. Mystik und Magie gibts in meinen Büchern jede Menge. Aber ich schätze sie als politische Handlungsweise nicht hoch ein. Ich bin mystisch gewesen, bevor ich in einem politischen Erwachungserlebnis mich als feministisch vorfand. Wenn ich mystisch sein will, bleibe ich auf meinem Meditationskissen sitzen. Meine magischen Kräfte hab’ ich nie hoch eingeschätzt. Ich hab’ manchmal den Eindruck, durch bloße Gedankenkraft einen Menschen gelenkt zu haben. Aber besser und sicherer ists doch durch die Tat. Mystik und Magie sind vielleicht eine Möglichkeit, von einer nicht zu bewältigenden Gegenwart wegzukommen. Das respektiere ich, aber das ist nicht Frauenpolitik. Das ist mein Problem mit den Texten „Der Wolf und die Witwen“, inwiefern kann ich hier etwas vermitteln? Inwiefern schade ich vielleicht der Frauenpolitik, die ja doch machbar sein muß. Feminismus ist machbar, Frau Nachbar. Das muß auch das Kriterium für mich selbst sein. 

Gansberg: Jetzt noch einige Fragen zu der Himmlischen und irdischen Geometrie. Es ist der erste große Text nach deinem Unfall. Was wolltest du mit diesem Text erreichen?

Reinig: Zunächst einmal meine augenblickliche Situation verarbeiten, über das, was mir geschehen war, kein Gras wachsen zu lassen. Aber das wäre ja nicht abendfüllend geworden. Ich hatte nie gewagt, mein Leben selbst darzustellen. Ich dachte, damit erschöpfe ich meine Phantasie. Ich grabe mir selbst meinen Mutterboden auf. Dann bin ich nichts mehr wert. Dann dachte ich: Da ich doch sowieso völlig im Abseits bin, mache ich jetzt Tabula rasa. Ich wills wissen. Ich gehe an mein Heiligtum, meine Erinnerungen. Was ist eigentlich mein Gedächtnis wert? Ich wollte nichts anderes schreiben als das, was den Inhalt meines Gedächtnisses ausmacht. Aber es zeigte sich, daß mir mein Gedächtnis bei jedem Versuch entglitt und sich irgendeine Geschichte selbständig machte. Dann bremste ich ab. Und begann an anderer Stelle zu graben. Und das, was eigentlich das Ende meiner schriftstellerischen Arbeit sein sollte, wurde ein neuer Anfang.

Gansberg: In welcher Weise?

Reinig: Indem ich mich um- und umdrehen mußte, lernte ich mich überhaupt erst kennen. Ich konnte die uralte Frage beantworten: „Wer ist Christa Reinig?“ Dann mein Ich-Problem, das doch immer drohte, in ein Er-Problem abzurutschen. Ich bin plötzlich eine „Sie“. Damit hatte ich nicht gerechnet. 

Gansberg: So explizit steht auch nicht im Text, daß du, als du damit fertig warst, im Feminismus angekommen bist.

Reinig: überhaupt nicht. Nach dem fertigen Manuskript verging ein halbes Jahr, in dem ich versuchte, mit meinem neuen Zustand fertigzuwerden. Und jetzt liegt alles hinter mir. Wenn ich heute in das Buch schaue, denke ich: Das waren meine Erinnerungen. Jetzt sind sie weg. Total vergessen. Aber das, was darunter lag, das kam plötzlich nach oben.

Gansberg: Das Manuskript war 1974 abgeschlossen. Lief da der Ihns-Prozeß schon?

Reinig: Als das Manuskript abgeschlossen war, begann der Ihns-Prozeß. Ich lasse vieles liegen, oft ein, zwei Jahre. Das Buch erschien erst 1975. Ich wollte es zunächst gar nicht bei den Eremiten herausbringen. Ich schrieb ihnen, ich hätte einen so umfangreichen Text, daß sie ihn nicht bringen könnten. Er paßte einfach nicht in ihr Programm. Aber sie haben alles drangesetzt, ihn doch zu bringen. 

Gansberg: Ich kann mir vorstellen, daß erhebliche erzähltechnische Probleme auf dich zugekommen sind bei dieser Unternehmung.

Reinig: Vor allem die Reihenfolge der Ereignisse. Ich hätts ja als Autobiographie bringen können, von der Wiege bis zur Bahre. Aber dann wären es nicht meine Erinnerungen gewesen. Wie lasse ich die Zeit ablaufen? Da gibts ein Thema: Alte Götter. Da gibts ein Thema: Buddhismus; da gibts das Thema: Unfall. Und aus jedem Thema mache ich ein Ganzes. Dann gabs ein Thema: Sternkunde. Das beginnt mit der Kindheit. Ich gucke aus dem Dachfenster und leuchte mit der Taschenlampe in meinen Sternatlas. Aber ich finde die Sternbilder nicht, sondern gebe ihnen erfundene Namen. Den Bootes nenne ich „Fallschirmjäger“. Dann in Rom, wo die Sterne soviel größer sind als bei uns und ich sie nächtelang und über große Zeiträume beobachten kann, interessiere ich mich für Astronomie. Aber ich interessiere mich nicht für Astrologie. Eines Tages komme ich zufällig mit Leuten zusammen, die Astrologie betreiben. Da interessiere ich mich nicht für Astronomie. Das Problem: Wie bringe ich Astronomie und Astrologie zusammen, habe ich nie gehabt. Mit einer Ausnahme: Ich dachte plötzlich, wie merkwürdig ist doch das System der Astrologie: Ein Tag gilt gleich einem Jahr, und ursprünglich fallen Aszendent und Medium Coeli, das heißt Horizont und Himmelsmitte zusammen. Die Leute, die sich die Astrologie ausdachten, müssen am nördlichen Polarkreis gestanden haben. Ich dachte, da gibts Leute, die verstehen mehr davon als ich. Und das wars auch. Ich fand schon einige Bemerkungen bei berufsmäßigen Astrologen, die sich den Kopf auf gleiche Weise zerbrochen hatten. Aber ich ließ es auf sich beruhen. Die Christa Reinig, die sich für alles und jedes interessiert, gibts nicht. Im Grunde habe ich meine festumrissenen Themen. Dazu gehört auch meine unglückliche Liebe zur Mathematik. Ich war schlecht in Arithmetik und gut in Geometrie. Geometrische Probleme konnte ich gut durchschauen. Da hatte ich ein „feeling“. So kam es zu dem Titel Die himmlische und die irdische Geometrie. 

Gansberg: Was hast du zu diesem Buch an Vorarbeiten gemacht? Hast du auf Bücher, die du gelesen hast, zurückgreifen können?

Reinig: Zunächst machte ich mir meine Aufzeichnungen. Dann wollte ich wissen, inwieweit ich meinem Gedächtnis vertrauen konnte. Ich zog ins Institut für Zeitgeschichte und lieh mir alle Zeitungen und Zeitschriften aus, von denen ich wußte, daß ich sie kennen mußte. Für die Zeit des Faschismus waren das die Morgenpost und BVZ, Zeitungen, die ich selbst ausgetragen habe. Aber die waren mir nicht erreichbar. Es gab für die Zeit von 1945 bis 1948: Tägliche Rundschau, Kurier, Telegraf, Neues Deutschland. Da blätterte ich die Folianten Seite für Seite um und – gespenstisch! – wußte im Umblättern, was ich auf der nächsten Seite zu sehen bekäme, bis aufs Schriftbild, bis in die gerasterten Abbildungen. Aber ab und zu, und das war noch interessanter, hatte ich etwas total vergessen. So fand ich in der Zeitung Der Kurier einen Bericht von einer japanischen Insel, auf der es nur Frauen gibt, die dem Fischereihandwerk nachgehen. Das stand im Herbst 1946 gedruckt da. Und das war die Zeit, in der ich die Geschichte „Das Fischerdorf“ schrieb. Ich hatte das aber total vergessen. Auf alle Fälle, abgesehen von diesen Einzelheiten, fand ich, daß mein Gedächtnis in Ordnung ist. Dann las ich meine alten Bücher wieder. Ein Buch, das für mich sehr wichtig war: Der Traum der roten Kammer, und andere.

Gansberg: Was ist das?

Reinig: Das ist ein Roman aus dem 18. Jahrhundert, zur Zeit des chinesischen Kaisers Chien-Lung, und von Hofleuten geschrieben. Heute würde ich vermuten, von Hofdamen, jedenfalls hat es mehrere Verfasser. Es ist der größte Roman der chinesischen Literatur. Den Chinesen ist es das gleiche wie für uns der Faust. Alle müssen es kennen, und für alle gibt es Identifikationsfiguren. Jetzt mußt du dich fragen, inwieweit ein Deutscher das überhaupt kennen kann. Eine Totalübersetzung des gesamten Werkes gibt es nicht. Aber der größte Teil des Buches ist in deutscher Übersetzung zu lesen. Abend für Abend prüfte ich meine Aufzeichnungen, verwarf sie oder wählte sie aus.

Gansberg: Wie weit wolltest du dein Gedächtnis zurückverfolgen?

Reinig: Von mir aus bis an den Rand meiner Geburt. Vom Institut für Zeitgeschichte aus bis gegen Kriegsende.

Gansberg: So weit hast du dich dann informiert.

Reinig: Alles, alles was ich an Material bekam. Die kunstgeschichtlichen Themen waren ja nicht so schwer, weil sie leichter überschaubar sind.

Gansberg: Und über die Faschismuszeit hast du dich nicht weiter informieren wollen?

Reinig: Aber ja! Es fragt sich nur, ob das, was in meiner Erinnerung steht, auch das ist, was in den Büchern steht. Und das wollte ich eben herausbekommen. Es gab harmlose Themen. Eine Zeitschrift Die grüne Post, die war wohl sehr teuer oder schnell vergriffen, sie kam selten bei uns an, aber ihr verdanke ich viele Themen und Stevensons Schatzinsel. Dann gabs die brennenden Themen, genau die Zeitschriften, die es bei uns nicht gab. Einmal wurde ich zum Kohlestapeln in den Keller geschickt. Ich sollte Zeitungen die Wände hochlegen, damit sie nicht schwarz werden. Da sehe ich: Diese Zeitungen sind Das Schwarze Korps. Die Zeitung der SS. Da hab’ ich wenig Kohle gestapelt und viel gelesen. Dann gabs den Stürmer, den hatte nie jemand in der Hand. Selbst die Nazis schämten sich, daß es so was gab. Aber der Stürmer klebte immer an den Hauswänden. Ich rannte durch die Straßen, blieb stehen, reckte mir den Hals aus und ließ es mich ordentlich angruseln. Und wenn es dann besonders gruselig war, kam ein Erwachsener und jagte mich weg mit den Worten: „Kind, so was liest du!“ Oder sie schubsten mich einfach, daß ich weiter mußte, durch die Straßen bis zum nächsten Stürmer. Es war wie der Sex-und-Crime, den heute die Kinder mit den Comics kriegen. Und so etwas ähnliches wie Comic war es auch. Und diesen Stürmer gab es hinter Glas im Schaukasten in der Badeanstalt. Sobald ich vor dem Schaukasten stand, kam irgendein Angestellter im weißen Anzug, Bademeister oder so, und drohte mich hinweg. Merkwürdig, indem ich das erzähle, wird mir klar: Alle Leute, die darauf achteten, daß ich das nicht lesen sollte, waren Männer. Nie hat mich eine Frau hinweggedroht. Thema: Sado-Maso und die schlafenden Frauen.

Gansberg: Du sagtest gerade Badeanstalt und Sado-Maso, da fällt mir die Endpassage aus der Geometrie ein.

Reinig: Das ist vielleicht von nirgendwo als aus mir selbst, wobei ich mich frage, wie das Bild von einer Badeanstalt hineingeraten ist, denn ich erinnere diese blutrünstige Szene aus einer Zeit, als es die Badeanstalt in der Berliner Gartenstraße noch gar nicht gab, ich sie noch gar nicht kennen konnte. Sie ist eins meiner urältesten Erinnerungsbilder. Vielleicht aus einem Geburtstrauma. So in den fünfziger Jahren gab es mal einen amerikanischen Hit. Es war die Zeit des schwarzen Humors und der schwarzen Filme. Ein Kind singt mit plärrender Kinderstimme von einem Mord in der Badewanne. Da begriff ich, daß diese schamvolle, lästige Erinnerung etwas ganz Wichtiges ist, daß ich sie nicht allein mit mir teilen mußte. Daß ich damit heraus könnte, und viele Jahre später konnte ich es auch.

Gansberg: Also, es ist eigentlich ein Traum von dir.

Reinig: Ein Ur-Traum. Der Traum eines Babys, das vielleicht noch nicht einmal in Worten träumen konnte. Und mit diesem Urmythos, dem Zurücktauchen in den Blutstrom, schließe ich ab.

Gansberg: Das ist eigentlich nicht nur ein Gruseln. Du schreibst „ein tiefes Glücksgefühl“. Beides? 

Reinig: Ja, beides. Gruseln ist ein gutes Gefühl.

(…)

aus: Erkennen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie-Luise Gansberg und Mechthild Beerlage, Verlag Frauenoffensive, 1986

 

Dieter Hülsmanns: Eine zugereiste Dichterin
DU, Heft 11, November 1968

Lothar Köhn: Zeit der Weiblichkeit?
Lothar Jordan, Axel Marquard, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Erlebnis und Kritik, 1988

Anne Hahn: Mein kleiner Buchladen: „Vergessene Bücher“ – Die Frau im Brunnen
piqd.de, 22.11.2017

 

 

CHRISTA REINIG

Die Maid in rot blies Oboe im Unterhemd
und hatte das Höschen drunter vergessen
Das liegt da gut zu Hause der Wolf zu ihr
Sagte und gab sich ganz unverklemmt und
hat die Arme aufgefressen als Pausenbrot

Peter Wawerzinek

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Elisabeth Endres: Papier ist ungeduldig
Süddeutsche Zeitung, 6.8.1996

Irene Ferchl: Dreimal raten
Stuttgarter Zeitung, 6.8.1996

Wulf Segebrecht: Für die Stromer und wüsten Matrosen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1996

Wolfgang Platzeck: Entmannung
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 7.8.1996

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Wolfgang Platzeck: Gegen das positive Denken
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 4.8.2001

Helmut Böttiger: Sachlich in die Zukunft
Der Tagesspiegel, Berlin, 6.8.2001

Peter Mohr: Der Mut zu Ausbrüchen, Aufbrüchen und Abbrüchen
General-Anzeiger, Bonn, 6.8.2001

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Ulla Hahn: „Wenn mir beim Schreiben die Luft wegbleibt…“
die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006

Peter Mohr: Papier ist ungeduldig
titelmagazin.com, 6.8.2006

Ijoma Mangold: Wucht und Weisheit
Süddeutsche Zeitung, 5./6.8.2006

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + InstagramKLGDDFArchivInternet Archive + IZAKalliope
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