1. Oktober

Innerhalb von achtundvierzig Stunden ist die Temperatur hier vor Ort von sechsundzwanzig auf drei bis vier Grad gefallen. Habe mich für den heutigen Waldgang winterlich vermummt. Ein eisiger Biswind begleitet mich, ich greife mehrmals nach der Mütze, damit sie mir nicht vom Kopf fliegt. Überm Wasserfall des Nozon hat der Wind einen langen Zweig aus dem abgewelkten und verdorrten Brombeerstrauch gerupft. Nun hängt der Zweig frei im dornigen Geäst, sein unteres Ende berührt die bewegte Wasseroberfläche, er wird von der Strömung immer wieder nach vorn gerissen, bleibt aber hängen, pendelt zurück, berührt wieder das Wasser, wippt wieder nach vorn, fällt wieder zurück, es ist eine dumme mechanische Bewegung, sie erinnert mich an das Ruckeln und Fuchteln von Jean Tinguelys skulpturalen Maschinen. Dass aber auch die Natur solche Hampeleien zulässt? Nein, sie setzt sie überhaupt erst in Gang! Die Natur? Der Zufall! Und alles nur nebenbei. – Bei Heimspielen im Fußball, bei Davis-Cup-Ausscheidungen im Tennis, auch bei Olympiaden wird deutlich, dass beim Publikum nicht Leistung und Qualität Vorrang haben, sondern gefühlte Zugehörigkeit und voreilige Identifikation. Der Heimische, der Landsmann wird nie nicht mit Vorschusslorbeeren ausgestattet, kann mit bedingungsloser Unterstützung rechnen, genauso wie der Fremde, der ohnehin als der zu schlagende Gegner gilt, damit leben muss, dass seine Fehlleistungen beklatscht, seine Treffer missachtet oder sogar ausgepfiffen werden. Vorurteile und bloße Meinungen leben sich überall gleich aus, stehn dem Interesse an der Sache entgegen, verhindern Qualitätskontrolle, privilegieren den Human touch auf Kosten der Gerechtigkeit. – Wöchentlich publiziert Google die fünf weltweit am häufigsten abgefragten Stichwörter – Begriffe und Namen, die für Millionen von Nutzern von aktuellem Interesse sind. Ich selbst kenne davon in der Regel keinen einzigen! Kennen? Nie gehört! Keine Ahnung. Was für die googlende Mehrheit selbstverständlich ist, dabei interessant, vielleicht gar unverzichtbar, kommt mir völlig fremd vor, ist für mich unerheblich, überflüssig, so wie ich für sie überflüssig und unerheblich bin. Doch eben dies ist der Triumph meiner Wenigkeit. – In den USA laufen die Vorwahlen zur Ablösung Barack Obamas durch die Republikaner an. Die Konservativen sind reine Gegnerschaft … sie votieren gegen die Abschaffung der Todesstrafe, gegen die Verschärfung der Waffengesetze, gegen die Abtreibung, gegen den Evolutionismus, gegen staatliche Krankenversicherung, gegen gleichgeschlechtliche Ehen, gegen den Ausstieg aus der Atomenergieversorgung, und sie stehen auch mehrheitlich in Opposition zu … zu Hollywood. Gegnerschaft ist für die republikanischen Konservativen Programm, ist Überzeugung, wirkt als Impuls, hat die Geltung eines pauschalen Arguments und verbindet sich auch noch mit dem Anspruch auf Macht. Die Macht als solche … die Staatsmacht, die Wirtschaftsmacht … etabliert sich mehr und mehr, in Demokratien ebenso wie in Diktaturen, als kollektive Gegnerschaft – privilegierte Minderheiten vernetzen sich, um eigene Interessen gegen Mehrheitsbedürfnisse durchzusetzen. Brasilien, Argentinien, Russland, China, die USA, dazu halb Afrika bieten dafür beliebig viele anschauliche Beispiele. – Die Frage nach dem Wunder (bei Hegel, Schestow usf.) ist keine Frage: Wunder geschehen in der Bibel, in Märchen, Romanen, Epen, und dort … nur dort können sie als wirklich zu gelten. – Starke Dichter sind nur ausnahmsweise auch starke Erzähler, und Dichterprosa (von Hopkins und Nerval bis hin zu Edmond Jabès) folgt einer ganz andern Poetik als der Roman oder die Novelle. Ich selbst kann das eine vom andern … kann Prosa von Dichtung nicht trennen, bin mir immer bewusst, dass ich als Dichter, als Sprachkünstler und nicht als Erzähler schreibe. Eigentlich ist es so, dass ich überhaupt nicht erzählen kann, bin nicht der Herr oder auch bloß der Dramaturg der jeweiligen Handlung, beschreibe und evoziere lieber Zustände, Gegenstände, Physiognomien als ein wie immer geartetes Geschehen. Von daher die Tendenz, nein, die Notwendigkeit, den Stoff kleinteilig zusammenzuschneiden, statt ihn historisch oder lebensgeschichtlich zu entfalten. Ich lege den Text nicht als Bericht an, nicht als Erzählung (im Verständnis von etwas, das zu erzählen ist), lasse ihn vielmehr und in erster Linie sich ausleben als eigendynamische Sprachbewegung und halte dabei, schreibend, gleichsam das Sprechen der Sprache fest. Kann ich’s klarer … kann ich’s weniger ambitiös ausdrücken? Eher lasse ich mich von klanglichen, syntaktischen, rhythmischen Fügungen und Verläufen leiten als von erzähllogischen, am Stoff orientierten Erfordernissen. Auch dieser Roman – ›Noch ein Leben für John Potocki‹ – ist ein poetisch grundierter Prosatext, und poetisch heißt hier auch, positiv begriffen, sprachkritisch, das sprachliche Tun reflektierend. Die Schreibbewegung als solche und die aus ihr sich ergebende sprachliche Instrumentierung überbieten Stoff und Handlung, bestimmen den Erzähltext mehr, als das Erzählte es tut. Geschichtliche oder zeitgeistige, psychologische oder politische Komponenten kommen allenfalls in der Möglichkeitsform zum Tragen. Inhalte, Aussagen, Bedeutungen sind nicht im Stoff oder in Handlungen abgelagert, sondern in einzelnen Sätzen, häufig auch in Wortspielen Von daher die Tendenz zum Anekdotischen, Parodistischen, Fantastischen, von daher der stetige Grenzgang zwischen Fiktion und Dokumentalismus.

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