Dirk Schindelbeck: nano-sonett

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dirk Schindelbeck: nano-sonett

Schindelbeck-nano-sonett

BISLANG UNVERÖFFENTLICHTE BUCHTITEL VON HEINRICH BÖLL UND THOMAS BERNHARD
(aus ihren geheimen Nachlass-Archiven)

 

Heinrich
Böll:
„Peinlich,
Nell!“ –

 

„Einstich
schnell!“ –
„Mein Ich –
hell!“

 

Thomas
Bernhard:
„Stromers

Sternbart“ –
„Omas
Fernfahrt!

 

 

Werbekarte aus Dirk Schindelbeck: nano-sonett

Buchseite „Nikolaus und sein Knecht kehren nach einer feuchtfröhlichen Bescherung heim…“
Grafische Buchgestaltung: Bernhold Baumgartner

 

Trennzeichen 25 pixel

 

Geleitwort

Dirk Schindelbecks Nano-Sonette (= Zwergsonette) sind nicht zufällig entstanden, sondern als Folge einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Gedicht-Typ „Sonett“, dessen Vorschriftspoetik stets sowohl zur leidenschaftlichen Nachahmung als auch zur brüsken Gegnerschaft geführt hat. Es empfiehlt sich darum ein Blick auf die Entstehung und Geschichte dieser Form. Die Nano-Sonette lassen sich dann besser verstehen in der Sonett-Geschichte. Sie sind kreative Arbeiten aus dem Geist der hochgeregelten Sonett-Poetik.

Die Gedichtform Sonett ist seit ihrer Erfindung zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der süditalienischen Dichterschule Friedrichs II., des letzten bedeutenden Staufers auf dem deutschen Kaiserthron, eine große Besonderheit. Dass Friedrich überhaupt eine solche Dichterschule unter seinen höheren Regierungsbeamten unterhielt, zeigt eine kultivierte, geradezu sportliche Vielseitigkeit, die nicht nur Friedrichs allgemeine Bedeutung festigte, sondern auch auf praktisch allen Gebieten der Kulturgeschichte Bedeutendes zuwege brachte. Man denke an die von ihm verfasste Schrift über die Jagd mit Falken oder an seine architektonischen Fantasien, die er wie der bayrische Ludwig II. in Auftrag gab – etwa das bis heute rätselhafte Castel del Monte, das Schauplatz des Films Der Name der Rose war. Friedrich gründete gar eine Universität, die von Neapel. Er war, so darf man vielleicht sagen, ein früher erster Augenaufschlag der italienischen Renaissance und hat damit gerade auch in der frühen Moderne ein großes Echo ausgelöst. Man denke an die umfangreiche Biographie Kaiser Friedrich der Zweite von Ernst Kantorowicz aus dem Jahr 1927.

Keine der im 13. Jahrhundert schon bestehenden lyrischen Formen – und auch keine unter denen, die bis in unsere Tage noch folgen sollten, hat jemals und bis auf den heutigen Tag solche Begeisterung unter den Dichtern Europas entfacht – und solche Ablehnung. In Friedrichs Dichterschule gab es einen gewissen Giacomo da Lentini, den manche für den Erfinder des Sonetts halten. Nachweisen lässt sich das natürlich nicht. Jedenfalls entstand hier und in seinem Beisein die Form: 14 Verse zu je elf Silben (der Undecasillabo, der Elfsilbler) mit auftaktigem Beginn, also eine jambische Form, und diese 14 Verse nun in einer festen Strophenanordnung: zuerst zwei Quartette, dann zwei Terzette. Natürlich waren auch die Endreime festgelegt: zweimal „abba“ in den beiden Quartetten und zweimal „cde“ in den beiden Terzetten; die zweisilbige („weibliche“) Kadenz war die Regel, einsilbige („männliche“) Kadenzen treten im Italienischen seltener auf. (Im Englischen ist es gerade umgekehrt, im Deutschen hält es sich die Waage.) Und schließlich, da wurde es allerdings etwas schwierig, die Rhetorik: Eine deutliche Zäsur musste beim Wechsel von den beiden Vierzeilern zu den beiden Dreizeilern hörbar werden. Damit war nun das Sonett, das kleine Tongedicht, definiert. Dass Details an dieser Vorschrift bald variiert wurden, setzt nur andere Verpflichtungen an die Stelle der ursprünglichen, ändert also nichts am Vorschriftscharakter, der gleichwohl spielerische Kreativität ermöglicht.

Dirk Schindelbeck ist ein intimer Kenner dieser Gedichtform, ganz sicher einer der besten in der deutschsprachigen Welt. Nicht nur wurde er mit einer Arbeit zum modernen Sonett promoviert, er hat auch ein wunderbares Buch über das Sonettieren geschrieben. Es enthält nicht nur eine gediegene Einführung zum historischen Begriff Sonett in Deutschland, sondern liefert auch 87 eigene präzis gebaute Sonette des italienischen Urtyps zu den unterschiedlichsten Themen unserer Welt der Waren, Märkte, Errungenschaften, Träume, Zweideutigkeiten und Sehnsüchte, ein überdies wunderschön bebildertes Buch, kurz: ein Buch von bunter Fülle, in dem das Sonett außerhalb der Academia praktiziert wird.1

Vermutlich ist es in der weiteren Geschichte der Form die vielfältige Eignung neben dem deutlichen Vorschriftscharakter des Sonetts, die bestimmte Verwender motivierten, auch Parodien aller Art darauf zu wagen. Verglichen mit den heutigen Verwendungsmöglichkeiten war allerdings in der ersten Zeit bis zum Beginn des Barock die thematische Bindung an den Minnesang maßgebend, und es ereignete sich eine pandemische Verbreitung des Sonetts in den mittel- und westeuropäischen Sprachen, zunächst in der Art des Francesco Petrarca, der programmatisch einen „Dolce stil nuovo“ im Anschluss an den Minnesang verkündete (wie vor ihm schon Dante). Dies dauerte bis ins frühe 17. Jahrhundert und blieb dann nur als Form erhalten, die nun auch anderen Inhalt erlebte – etwa schon bei Shakespeare (der mit seinen Sonetten scharfen Einspruch gegen den Petrarkismus erhob), oder bei Louise Labé, die die Sprecherrolle usurpierte, oder im Werk des Andreas Gryphius, der die bedrohlichen Zeitumstände beklagte und den französischen Alexandriner statt des Pentameters verwendete, schließlich auch bei Giuseppe Gioacchino Belli aus Rom, der inhaltlich ganz neue Wege ging.

Die englischen Sonettisten erlaubten sich auch eine deutlich sichtbare Formänderung: drei Quartetten folgte ein aphorismusartiges Couplet in zwei Versen. Nun gibt es meist auch sieben Reimpaare (nicht nur fünf), also abab cdcd efef gg.

Als aber der deutsche Gelehrte Johann Joachim Eschenburg 1787 zum ersten Mal deutlich auf die 154 Sonette Shakespeares von 1609 hinwies, eröffnete er seinen Aufsatz nicht mit hymnischem Lobpreis, sondern mit folgenden Worten:

Das Sonnet war ohne Zweifel die Erfindung irgendeines literarischen Prokrustes.

Und er erläuterte das in einer Fußnote so:

Das ist Folterers. Einer von den Söhnen Neptuns erhielt, der Fabel nach, diesen Namen, weil er alle Fremdlinge, die zu ihm kamen, in ein Bette legte, welches sie gerade ausfüllen mußten. Waren sie zu lang, so hieb er ihnen Füße oder Beine ab; und waren sie zu kurz, so dehnte er ihre Glieder gewaltsam aus.

Eschenburg zitiert damit auch den irischen Shakespeare-Herausgeber Edmund Malone, von dem auch die kuriose Bemerkung überliefert ist, das Lesepublikum könne selbst durch einen einstimmigen Parlamentsbeschluss nicht dazu gezwungen werden, die Sonette Shakespeares zu lesen. Und dabei sind beide, Malone und Eschenburg, äußerst angetan von Shakespeares Dramen. Die Ablehnung traf nur die Sonette.

Im Reigen der Sonett-Kritiker sei auch auf Goethes jugendlichen Vorbehalt gegenüber dem Sonett hingewiesen, womit er sich vom Mainstream seiner Zeit nicht unterschied. So kam er erst in reiferen Jahren zu eigenen Sonetten, aus denen wohl wenigstens ein Zitat aus zwei Terzetten in unserer kollektiven Erinnerung geblieben ist:

So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

 

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Der spanische Dichter Lope de Vega gehört zu denen, die sich sogar in Sonettform mit dem Sonett auseinandersetzten:

„KOMM, MACH MIR EIN SONETT!“ befahl Jolanthe;
drauf zwängte ich mich stöhnend ins Korsett.
Von langen vierzehn Zeilen fürs Sonett
warn drei schon weg, bevor ich mich ermannte.
Mir fehlte noch ein Reim fürs Konsonante,
da war schon halb geschrieben dies Quartett.
Am Horizont erschien mir das Terzett
nach der Zäsur, so dass ich mich entspannte.
Schon bin ich dort behände angekommen
(hab alles, scheint mir, fachgerecht gemacht) –
und diese Hürde ist im Nu genommen!
Kaum hab ich an das Schlussterzett gedacht,
ist Zeile dreizehn schon geschwind erklommen.
Zähl nach: Die vierzehn Zeilen sind vollbracht!

 

(deutsch von Michael Mertes)

Der Dichter hat nicht Jolanthes Reizen ein Sonett, wie erhofft, sondern dem Sonett ein Sonett gemacht, da war Jolanthe nicht begeistert. Lope offenbart damit das Grundproblem. In unseren Tagen wies Robert Gernhardt auch darauf hin und verfasste eine satirische Anklageschrift – als Sonett gegen das Sonett; jeder kennt das kleine Meisterwerk mit der ersten Zeile:

Sonette find ich so was von beschissen.

Ansonsten wird seit der frühen Moderne eifrig vom Sonett Gebrauch gemacht, man denke an Rilkes Sonette an Orpheus (1922) oder an Albrecht Haushofers Moabiter Sonette (1946).

Wenn wir nun die Nano-Sonette Dirk Schindelbecks lesen, so erkennen wir immer den Dialog mit der alten Form. Schindelbeck nagelt das Sonett bei seiner eigenen Formvorschrift fest. Die Nano-Sonette verlassen die gewohnte lyrische Rhetorik, unterwerfen sich kompromisslos dem Reim, und der redselige Pentameter wird verabschiedet. Der altbewährte Undecasillabo weicht klaglos kurzen und kürzesten Versen. Schindelbeck nimmt Goethes „Beschränkung“ wortwörtlich und kürzt bis auf den semantischen Ariadne-Faden. Das ist meisterhaft!

Es saßen
drei Schweizer
(mit Schneuzer)
im Straßen-

 

kreuzer
und aßen
(nein: fraßen)
Greyerzer. –

 

Dem feiern-
den Schlemmen
folgt Qual

 

(… und Reiern
ins Emmen-
tal).

Das ist meisterhaft!

Jürgen Gutsch, Vorwort

Dichten auf einer Nadelspitze: Zur Poetik des Nano-Sonetts

Man kennt es seit 800 Jahren: das Sonett. In Sizilien um 1230 erfunden, von Dante, Petrarca, Shakespeare, Góngora, Gryphius, Goethe, Keats usw. perfektioniert, von Baudelaire, Rimbaud, Rilke, Trakl und anderen in die Moderne getragen, bis in unsere Tage im Gebrauch und scheinbar für alle Zeit so festgefügt, dass es keine Reform aus seiner Gattungsidee zuzulassen scheint. Gepriesen als „die höchste aller Dichtungsformen“ oder verteufelt als der „geschundene Zirkusgaul des Dilettanten“ (Ernst Robert Curtius). Nun also neu im Gedicht-Regal: das Nano-Sonett, das man auch als Schrumpf- oder Minimal-Sonett bezeichnen könnte. Um den Unterschied gleich in aller Deutlichkeit herauszustellen, sei ein traditionelles Sonett gegen ein Nano-Sonett gehalten:

DIE KAFFEEFAHRT

 

Wer günstig reist (wie ich) zur Wartburg, wo einst Luther
die Bibel teutschte, tut dies heut per Kaffeefahrt
im komfortablen Bus. Da wird an nichts gespart:
Im Preis sind inklusiv zehn Eier, ein Stück Butter.

 

So bildet man sich leicht und kommt noch gut in Futter.
Gemütlich kehrt man ein, wo schon der Gastwirt harrt
bei Schweinebraten, Klößen, Blumenkohl. „Sehr zart!“
ertönt ringsum das Lob manch dröger Schwiegermutter.

 

Im Nebenraum sodann erfolgt ein süßer Schreck:
Ist das nicht Gottfried Sülz? Er feiert sein Comeback
just hier, er singt für uns, macht die Gesichter strahlen,

 

empfiehlt auch, was ihm hilft: ein Rheumadecken-Set
für dreizehnhundert Mark. Da wird auf seinem Bett
selbst Luther noch erlöst in diesem Set sich aalen.

 

(aus: Dirk Schindelbeck: Tropfenfänger & kreisende Kolben. Deutsche Marken-Sonette 2.0.15, Freiburg 2015, S. 72)

(Fast) dasselbe Thema als Nano-Sonett:

MARTIN LUTHER AUF BUTTERFAHRT
(mit Verkaufsveranstaltung und Gratis-Zugabe)

 

Martin
Luther,
zart im
Futter,

 

spart in
Butter.
(Fahrt im
Kutter)

 

denkt:
„Dat is
übel!“

 

schwenkt
Gratis-
Bibel.

Bietet das traditionelle Sonett im Inneren seiner Verse genügend Raum, Gedankenarchitekturen sorgfältig anzulegen, zu verfolgen, Szenen und psychologische Schattierungen auszumalen, um den Gedankengang kontrolliert gesteigert in einer Schlusspointe münden zu lassen, kann das Nano-Sonett nur ein holzschnittartiges, eher an ein Epigramm als an ein Sonett erinnerndes Gebilde sein. Auf die Anwesenheit eines lyrischen Ichs sowie heute gängiger lyrischer Mittel wie Metaphern muss es aufgrund seiner Kürze verzichten, was – wie im Beispiel oben – bei nicht einmal einem Viertel an eingesetztem Wortmaterial auch nicht verwundern kann. Umso stärker tritt dafür seine Neigung zur Satire und gern auch, was man als Nonsense-Poesie bezeichnet, hervor.
Nano-Sonette sind keine Herzensergießungen. Sie entstehen aus reiner Lust an der Sprache als kombinatorische Puzzlespiele. Dabei führen sie die Gattungsidee auf ihren Kern zurück: Reimgedichte par excellence zu sein und dabei zugleich deren innere Struktur – Zweiteiligkeit und Schlusspointe – zu bewahren. Ihr Anspruch ist, mit einem Minimum an Sprachzeichen ein Maximum an Sinndichte und Formkultur zu realisieren. Schließlich sind in ihm die Reime nicht wie im traditionellen Sonett bloße Erfüllungsgehilfen anderer Sinn- und Satzkonstruktionen, sondern treten als Hauptakteure der Handlung selbst ins Zentrum des Geschehens.
Freilich wird schon hier sehr deutlich: Nano-Sonette sind unübersetzbar, weil bei ihnen nicht das Geringste ausgetauscht werden kann. Um zu funktionieren, sind sie auf jede einzelne Silbe (selbst in ihren Beugungsformen) angewiesen. Und so macht hier nicht das Erlebnis, die Stimmung oder das Gefühl, sondern das intellektuelle Spiel mit der Sprache das Gedicht. Damit sind natürlich deutliche Verwandtschaftsbeziehungen zur Barocklyrik einerseits und zur Konkreten Poesie andererseits gegeben.

Erfahrungen beim Verfertigen
Gilt schon das traditionelle Sonett als „schwierig“, so ist das Nano-Sonett dessen nicht mehr steigerungsfähige Variante im Hinblick auf den virtuosen Umgang mit Sprachmaterial – schon deshalb, weil sich’s im Deutschen von Haus aus viel schwerer reimt als in romanischen Sprachen. Die große Herausforderung dabei besteht nun darin, dass die gesamte grammatisch-semantische Struktur des jeweiligen Gedichts von den Reimen und nur von ihnen geleistet werden muss. Es kommt hinzu, dass diese aus möglichst unterschiedlichen Wortarten stammen sollten, um in ein sinnstiftendes und zugleich reizvolles Wechselverhältnis treten zu können. Parallelkonstruktionen nach dem Muster „bringen / singen / klingen / Dingen“ sind ungeeignet, da sie weder korrekte Sätze ergeben können noch Möglichkeiten zum Spannungsaufbau bieten. Eine dichte und enge Beziehung zwischen den Reimwörtern als Sinn-Akteuren tritt erst dann ein, wenn eine konjugierte Verb-Form sich gut und schlüssig mit einer Nominalform (evtl. in verschiedenen Deklinationsformen) und noch dazu mit Adverbien reimt.
Nano-Sonette leben davon, dass sie sehr seltene Fälle eines Gelingens darstellen. Diejenigen, die geglückt sind, leben davon, dass hinter ihnen Dutzende, ja Hunderte stehen, die über das Versuchs-Stadium nicht hinauskamen, weil sie an den begrenzten Reimmöglichkeiten der deutschen Sprache scheiterten.
Auf der anderen Seite ist gerade diese besondere Limitierung der deutschen Sprache ein produktiver Impuls, sie immer wieder zu wagen. Denn so reimschwach die deutsche Sprache – im Verhältnis zu romanischen Sprachen – auch ist, sie hat ihnen gegenüber auch Vorteile, die solch virtuose Vorhaben immer einmal wieder glücken lassen. Dies meint zum einen die außerordentliche Beweglichkeit in der Satzstellung, die es erlaubt, die einzelnen Reimworte an unterschiedliche Positionen im sonettischen Ordnungsgefüge so lange auszuprobieren, bis sie ihre optimale Position gefunden haben. Zum anderen ist es der Reichtum an zusammengesetzten Wörtern wie etwa Eiderente oder Kaltmamsell, die Andockmöglichkeiten für überraschende Reimerlebnisse auf engstem Raum bieten, welche die traditionelle Lyrik gar nicht leisten kann, da ihre Reime in ihren Nachhallqualitäten einfach zu weit auseinanderliegen.
Dankbares Wortmaterial sind auch Eigennamen. Treten sie als Akteure auf, bieten sie zudem den Vorteil, dass die Artikel wegfallen können. Kaum weniger wichtig als Verdichtungsinstrumente sind die Satzzeichen. Im Nano-Sonett ist nicht nur jedes einzelne Wort, sondern jede Silbe und jede Flexionsendung so gewichtig, dass schon die kleinste Veränderung die gesamte Sinnkonstruktion zum Einsturz bringt – im Gegensatz zum hergebrachten Sonett, in welchem es von relativ untergeordneter Bedeutung bleibt, ob nun dieses oder jenes Reimwort den Vers (und damit auch meist die Sinnfigur) schließt. Das Salz in der Suppe des Nano-Sonetts sind kleine Übertretungen und Ungenauigkeiten wie etwa „Schweizer – Greyerzer“, die komische Effekte generieren.
Doch mit den Reimereien allein ist es nicht getan. Bildlich gesprochen sind sie allenfalls die Haut des Gedichts, während das Gerippe darunter einer geordneten Gedankenbewegung folgt. Schließlich ist das Sonett ja das methodisch vorgehende, ergebnisorientierte Gedicht schlechthin, das mithilfe bewusst eingesetzter Ablauffiguren zum Kulminationspunkt drängt, idealtypisch etwa im dialektischen Bewegungsmodell von These (1. Quartett), Antithese (2. Quartett) und Synthese (Terzette). Wie die Erfüllung dieser Forderung in einem Nano-Sonett umgesetzt werden kann, zeigt folgendes Stück. Da prallen in einer (natürlich fiktionalen) Szene, die Goethes heimliche Liebesbeziehung karikierend darstellt, zwei Weltanschauungen aufeinander.

HÄUSLICHE SZENE

 

Goethe
(wild)
brüllt:
„Knete“!

 

Grete
(mild)
stillt:
„Bete“.

 

Johann
(klein):
„Amen!“

 

So kann
Samen
sein.

Goethes sehr diesseitigen Wunsch nach „Knete!“ kontert Grete mit der demütig-christlichen Empfehlung „Bete“. Das Kind Johann, obwohl noch an der Brust, hat die widerstreitenden Weltanschauungen seiner Eltern bereits haarscharf erfasst und ist sogar schon in der Lage – Sohn eines solchen Vaters! – mit „Amen!“ zu antworten, nimmt somit Partei für die Mutter. Der typische, als Pointe realisierte Sonett-Abschluss „So kann Samen sein“ stellt nur lakonisch fest, dass der Charakter des Nachwuchses unkalkulierbar ist (wie im realen Leben Goethes dessen Sohn August).
Das Beispiel zeigt, wie sehr „das System“ beim Nano-Sonett immer mitdichtet. Für den Autor bedeutet solch ein „Dichten auf einer Nadelspitze“ ein tastendes Ausloten von Möglichkeiten. Die gewählten Lösungen können jedoch urplötzlich den poetischen Funken freisetzen, wenn, was das Reimmaterial anbietet, von seiner Semantik her zwar sehr weit auseinander zu liegen scheint, dass sich ganze Welten dazwischen auftun, sich aber dennoch unvermutet überraschende Sinnbrücken einstellen. Insofern reißen Nano-Sonette nur an, wo traditionelle Sonette bis zum Ende ausführen. Sie bleiben eine ständige Einladung an die Leserschaft, die Fantasie zu trainieren und/oder Ausgespartes zu ergänzen.

Dirk Schindelbeck, August 2024, Nachwort

 

 

Beschreibung

In bisher noch nie gesehenem Ausmass präsentiert Dick Schindelbeck in diesem illustrierten Band seine Erfindung des Nano-Sonetts. Er behält dabei die altbekannte vierzehnzeilige Struktur dieser Gedichtform bei, verkürzt aber die Zeilenlänge jeweils auf ein Minimum. Dabei jagen sich die Reimwörter, die oft in einem überraschenden Effekt kulminieren. Spass und Humor erfreuen den Liebhaber solcher Reimkunst. Dazu kommt das Layout von Grafiker Bernhold Baumgartner, mit passendem gefundenem und eigenem Bildmaterial, situationsbedingt justiert zum jeweiligen Thema des Zwergsonetts. Das Geleitwort von Jürgen Gutsch zur Geschichte des Sonetts und der Essay des Autors zur Poetik des Nano-Sonetts liefern das Fundament zum Verständnis der Sonettkunst in Vergangenheit und Gegenwart. Schindelbecks Themen widmen sich MENSCHEN WIE DU UND ICH, den SZENEN EINER EHE, den sehr speziellen MÄNNERWELTEN, wozu auch die AUSSCHLÄGE DER POLITIK gehören und die LICHTGESTALTEN DER KULTUR.

Edition Signathur, Ankündigung

 

Beiträge zu diesem Buch:

Markus Zimmermann: Der Germanist Dirk Schindelbeck aus Denzlingen hat eine neue Versform erfunden
Badische Zeitung, 21.3.2025

ZaunköniG: Von chineischen Trinkversen zum modernen Nano-Sonett
sonett-archiv.com, 12.1.2025

Wortmarke „nano-sonett“. Eine geschützte Bezeichnung des Deutschen Patent- und Markenamtes

Wortmarke „nano-sonett“

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook + Germanistenverzeichnis + Archiv + Badische Zeitung

1 Kommentar

  1. Höchst lesenswert!
    Ein Kompliment gebührt allen Beteiligten!
    Bruno Oetterli Hb.

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