Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Dichtersprache, Gebrauchssprache, Universalsprache (Teil 6)

Dichtersprache, Gebrauchssprache, Universalsprache
Das prekäre Vermächtnis der «konkreten Poesie»

 Teil 5 siehe hier

Dass der wortkarge und wortstarke Eugen Gomringer in seinen späten Jahren die Prinzipien der konkreten Poesie gänzlich aufgegeben und statt dessen bloss noch gefühlige, gefällig gereimte Sonette produziert hat, ist ein bedauerliches Beispiel künstlerischen Renegatentums – Rückkehr (auch eine Art von Bekehrung!) zur althergebrachten literarischen Tradition und damit Kapitulation vor den gängigen Publikumserwartungen, die sich ja stets am Gewohnten orientieren, und nicht etwa an formalen Neuerungen oder gar an «revolutionären» Traditions- und Tabubrüchen. Nicht anders als Gomringer haben sich bekanntlich auch Hugo Ball, Max Jacob, Boris Pasternak, Alfred Döblin und weitere Protagonisten der historischen Avantgarde früher oder später von ihren radikal-innovativen Werken abgewandt, um dem naturgemäss konservativen Publikumsgeschmack entsprechen zu können.
​Gern hat man solche Rückwendungen als Absage an jegliches progressive Kunstschaffen oder auch als Verrat der betreffenden Autoren an ihren eigenen Überzeugungen und Errungenschaften kritisiert. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass sich Traditionsbrüche logischerweise nicht perpetuieren lassen, dass es sich also bei den literarischen «Revolutionen» der 1910er oder 1950er Jahre um punktuelle Innovationsprozesse handelte, deren Errungenschaften nur in geringem Umfang auf die laufende Literaturentwicklung eingewirkt haben.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass die gängige literarische Kultur all den sensationellen Brüchen und Neuerungen zum Trotz nie wirklich unter Druck kam oder gar verdrängt werden konnte: Die revolutionären «Kunstismen» mochten sich noch so lautstark und verstörend in Szene setzen, die verlässliche Publikumsliteratur mit namhaften Autoren wie Hamsun, Daudet, Rolland, Gorkij, Bunin, Hesse, Heinrich und Thomas Mann blieb gegenüber der Avantgarde stets dominant. So standen auch zur hohen Zeit der «konkreten Poesie» nicht etwa Gomringer oder Bense im Vordergrund des allgemeinen Interesses, sondern traditionelle Erzähler von der Art eines Bergengruen, Schneider, Breitbach, Gaiser, Andres, Böll, Schnurre, Walser u.a.m.

… Fortsetzung am 14.12.2025 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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