DER WIND
der wind strolcht durch die stadt unter falschem
aaaaanamen der unbekehrbare anarchist
er überfällt gleichermaßen die bösen und guten
nachts durchstöbert er die dachböden und schlägt ein
aaaaadie scheiben auch der armen
er klaut auf balkons von der leine die wäsche
aaaaavornehme oder zerlumpte das ist ihm gleich
oft verbirgt er sich in müllgruben unter brücken oder auf bäumen
treibt sein spiel mit ehrsamen hüten zerreißt alles papier unbeschriebenes und beschriebenes der analphabet
er ist ein großer gegner aller ruhe
bald weht er so bald anders bald greift er frauen untern rock
er lacht laut der öffentlichen meinung ins gesicht
all das weiß man und doch kann niemand ihn fassen
Gerhardt Csejka: Gezielte Verse
Neuer Weg, 14. 12. 1974
Werner Söllner: Plädoyer für das Vertrauen
Neuer Weg, 11. 1. 1975
Horst Weber: Erreichtes immer wieder überholen
Die Woche, 7. 2. 1975
− Gespräch mit Franz Hodjak. −
Axel Helbig: 1970 erschien Ihre erste Publikation – Brachland, Gedichte – im Klausenburger Dacia-Verlag, einem rumänischen Verlag, der auch deutschsprachige Literatur publizierte. Wie stellte sich ihre Situation damals, als deutscher Autor in Rumänien, dar, wie hat sie sich entwickelt?
Franz Hodjak: Ich hatte ja das Glück, daß jene Zeit, in der man beginnt über die Dinge nachzudenken und die Welt bewußt wahrzunehmen, bei mir in die sogenannte „liberale Zeit“ in Rumänien gefallen ist. Ich habe von 1965 bis 1970 in Klausenburg Germanistik studiert. Das war die liberalste Zeit in Rumänien. Ceauçescu hatte sich 1968 geweigert, mit in der Tschechoslowakei einzumarschieren. Ich hatte gehört, daß es eine Zensur geben sollte und einen Geheimdienst. Ich hatte nie damit zu tun. Ceauçescu hatte 1964 mit Deutschland diplomatische Beziehungen vereinbart. Die Weigerung von 1968 hatte ihm einen wahnsinnigen Bonus gebracht. Der Westen hat zinsfreie Kredite locker gemacht. Es kamen irrsinnig viele Bücher nach Rumänien. Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, die bis zu diesem Zeitpunkt in den Bibliotheken gefehlt hatte, kam tonnenweise über die Grenze, von Inter Nationes und von den Verlagen. So hat mein Studium begonnen. Die Jahrgänge vor mir hatten noch im Stalinismus studiert, nach dem Shdanowschen Ästhetikprinzip. Natürlich hat es auch in dieser Zeit die Zensur und die Securitate gegeben, aber sie haben nicht zugeschlagen. Das kam erst 1971. Ich habe viele Fehler in meinem Leben begangen. Ich habe oft geirrt. Ich gebe das zu. Und ich hoffe, ich habe daraus gelernt. Unter anderem, wie hätte es anders sein können, war ich Marxist. Die einzige Hoffnung, die wir damals hatten, war ja nicht, das System abzuschaffen. Ich hatte das ja in seiner Brutalität so auch nicht erlebt. Die 50er Jahre waren vorbei und wir hätten nie gedacht, daß es noch einmal einen Rückschlag geben könnte. Wir haben an den Fortschrittsgedanken in der Geschichte geglaubt. Wir glaubten, daß es immer nur noch besser, immer nur noch liberaler werden kann. Irgendwann wurden wir eines besseren belehrt. Ich habe damals gedacht, daß man mit der Macht Dialoge führen könnte und daß die Schriftsteller einen Beitrag zur Veränderbarkeit der Welt leisten könnten. 1971, nach der Minikulturrevolution wurde es chinesisch in Rumänien. Das Mao-Modell wurde auf Rumänien transplantiert. Ceauçescu hatte China besucht und das hatte ihm gefallen. Für Rumänien war das fatal. Ich hab dann begriffen, daß die Macht nicht bereit ist, Dialoge zu führen, daß sie immer nur Monologe führt. Diese Monologe wurden immer aggressiver, immer lauter und immer unerträglicher. Das war eine Zäsur in meinem Leben. Keiner von uns hätte 1968 geglaubt, daß wir noch einmal eine ganz schlimme Diktatur erleben würden. Wir waren durchtränkt und begeistert vom Fortschrittsgedanken. Der sich natürlich auch in der Geschichtsentwicklung manifestierte. Das ist ja klar: Rückschläge gibt es nicht. Und dann habe ich gelernt, daß Geschichte im Grunde genommen eine Kette von Zufällen ist, die wir gar nicht beeinflussen können. 1971 hat die Diktatur noch nicht funktionieren können, da es auch in der Partei selbst noch einen starken Widerstand gab. Bis hinein ins Politbüro. Ceauçescu hat dann alle Liberalen ausgebootet. Parallel hat er einen neuen Geheimdienst entwickelt. Das war ein Prozeß von etwa 6-7 Jahren. In den 80er Jahren hat die Diktatur funktioniert. Ab dann mußte man mit allem rechnen. Das hat natürlich auf meine Entwicklung als Intellektueller, als denkender Mensch Einfluß genommen. Wir werden von Geschichte geprägt, wir sind keine Individuen, die unabhängig von irgendwelchen historischen, ideologischen und politischen Zwängen agieren können. Das gibt es nicht. Das wurde mir immer mehr bewußt. Die Zeit des Fortschrittsglaubens, des Glaubens an Aufklärung, nenne ich heute die unsäglichste Phase meines Lebens. Danach kam die Ernüchterung, wie nach jedem großen historischen Besäufnis. Da hatten wir alle einen großen historischen Kater. Die Diktatur hatte nur den Ehrgeiz, sich selbst zu potenzieren. Aus diesen bitteren Einsichten heraus habe ich gelernt, mit Illusionen sparsam umzugehen. Am besten, man hat sie nicht. Dann ist auch dieser geschichtsphilosophische Pessimismus in mich eingekehrt, der mich fortan vor falschen Illusionen und vielen Enttäuschungen bewahrt hat. Da wurde ich dann in Ekel, in Angst, in all diese Dinge hineinmanövriert. Das war nicht leicht am Anfang, diese Dinge zu akzeptieren. Man muß lernen, mit diesen Dingen umzugehen, um sie zu verkraften.
Dann: das Ankommen in der sogenannten Freiheit, in der Demokratie, was ja wieder ein Umdenken erforderte. Doch ich war ein gebranntes Kind. Ich habe mir große Illusionen nicht gemacht. Ich bin nicht mit riesigen Erwartungen in den Westen gekommen. Es war aber die beste aller Möglichkeiten. Eine andere gab es wohl nicht. Dann mußte ich neu nachdenken über Freiheit. Denn meine Vorstellungen von Freiheit haben natürlich nicht funktioniert. Nachdenken über die Demokratie, die enorm viel Platz hat für diktatorische Anwandlungen. Und Diktaturen entstehen ja immer auch aus Demokratien. Wenn diese versagen, wenn die nicht stark genug sind. Das hat die Geschichte gezeigt. Ich habe nie in einer abstrakten Wirklichkeit gelebt. Die Wirklichkeit hat mich immer so denken gelehrt, wie ich es gezwungen war, in dieser Wirklichkeit zu tun. Und die hat sich ja in meinem Leben verdammt geändert. Und das hat mein Schreiben beeinflußt. Ohne wenn und aber. Bewußt und unbewußt. Man mußte sich wehren.
Die Literatur hat fünf, sechs und mehr Funktionen. Und es ist ja so, daß jeder Mensch drei Elternteile hat – Vater, Mutter und die Zeit, in die man hineingeboren wird. Die prägt und beerbt einen genauso wie Vater und Mutter. Und da sich die Zeit so oft und so widerspruchsvoll geändert hat, mußte ich mich darin zurechtfinden. Die Sachen, die ich noch als Student und in der liberalen Zeit in Rumänien geschrieben hatte, die waren apolitisch. Weil die Politik mich nicht brüskiert hat. Danach kam eine politische Phase in meiner Literatur.
An erster Stelle muß immer die ästhetische Funktion von Literatur stehen. Die politisch-ideologische Funktion steht – in ruhigen Zeiten – an vierter, fünfter Stelle. Aber in Diktaturen rückt sie zumindest an zweite Stelle. Man kann in einer hochbrisanten politischen Situation nicht apolitisch schreiben. Das geht gar nicht. Das gefährdet aber zugleich auch die Literatur. Es besteht die Gefahr, wenn die politische Dimension vorrückt, vielleicht sogar an erste Stelle, daß damit auch die oppositionelle Literatur verflacht. Es können genauso plakative Texte gegen die Diktatur geschrieben werden wie es die Bestätigungstexte sind. Das ist gut erkennbar an der Dissidentenbewegung. Das waren nicht immer die besten Autoren. Nur, der Westen hat sie hochgejubelt und vereinnahmt, um den sogenannten realexistierenden Sozialismus zu unterwandern. Das war hochpolitische, aber nicht die beste Literatur. Die bessere Literatur aus dem Osten hat damals im Westen keinen interessiert. Jetzt haben diese Dissidenten große Schwierigkeiten in der Freiheit. Jetzt braucht sie kein Mensch mehr, kein Verleger. Es ist ungesund für eine Literatur, wenn die politische Dimension so wichtig wird. Ich habe bei meinen Texten immer darauf geachtet, daß die ästhetische Funktion an erster Stelle bleibt. Das sind oppositionelle Texte – ohne Wenn und Aber −, nur nicht so vordergründig. Das Plakative habe ich immer gehaßt.
Das Tragische war ja auch, daß wir es nicht gemerkt haben, wenn wir in einer Illusion ersoffen sind. Wenn ein oppositionelles Buch erschienen ist, haben wir uns immer vorgemacht, daß das ein Sieg sei. Es war ja so. Verlogene Bücher gab es noch und noch. Deshalb glaubten wir, daß jedes Buch, das noch etwas Wahrheit in den Laden bringt, wichtig ist. Nur, indem wir all die Streichungen der Zensur akzeptiert haben, haben wir damit die Zensur bestätigt und mithin das System. Also waren die Siege, die wir damals gefeiert haben, heute, aus meiner Sicht, glatte Niederlagen. Wir hätten sagen müssen: Nein! Wir hatten gedacht, immer noch besser ein Buch mit halben Wahrheiten als ein verlogenes Buch. Dann wurden es Viertel-Wahrheiten, da hat man sich auch noch gefreut. Dann wurden es Achtel-Wahrheiten und dann Sechzehntel-Wahrheiten, über die man sich gefreut hat. Und heute weiß ich: Die Wahrheit ist die einzig unteilbare Zahl. Damit spielt man nicht. Indem wir uns eingelassen hatten auf die Zensur, haben wir die Zensur und das System bestätigt. Die Siege gehörten der Zensur und dem System, nicht uns.
Helbig: In welcher Form wurde in Rumänien in Bezug auf die deutschsprachigen Verlage und Publikationen Zensur ausgeübt? Gab es eine deutschsprachige Zensurbehörde?
Hodjak: Die deutschen Autoren hatten Narrenfreiheit. Aus vielen Gründen. Zum einen der persönliche Grund. Man kannte die Zensoren. Das waren auch Menschen. Das war keine Instanz, die man nicht kannte. Das war Handel, wie auf dem Trödelmarkt. Eine Zensorin sagte mir, Herr Hodjak, wenn sie mir bei dieser Stelle eine plausible Interpretation liefern, lasse ich sie durch. Und sie hat mitgeschrieben. Weil, es gab ja auch Postzensoren. Ich hab dann mitunter die Botschaft ins Gegenteil umgemünzt und sie hat das aufgeschrieben. Das war wahnsinnig schizophren. Die Leute haben sich geschämt. Das waren alles Germanisten. Die haben schönes Geld verdient und mächtig um ihre Existenz gezittert. Dennoch waren diese Zensoren der deutschen Literatur kompromißbereiter als die der rumänischen Literatur. Das hat sich gezeigt, als die Texte später ins Rumänische übersetzt und nochmals zensiert wurden.
Die deutschsprachige Literatur war mutiger als die rumänische. Anfang der 80er Jahre war eine Anthologie junger rumäniendeutscher Lyrik erschienen, Mäßiger bis starker Wind. Das war das gefeiertste Buch der gesamten rumänischen Literaturlandschaft. Über 80 Rezensionen. Diese Anthologie hatte unwahrscheinlich eingeschlagen und auch die Rumänen zu mehr Mut ermuntert. Die Spielräume, die wir hatten, die wurden uns nicht in die Wiege gelegt. Die hatten wir uns erkämpft.
Dann war es ja so, daß die rumänischen Chefideologen sich gesagt haben: Ach, diese Deutschen, die sind sowieso unrettbar verloren, die wandern aus, außerdem kann man denen nichts mehr weismachen, die haben so viel Material aus Deutschland, die wissen, was Freiheit ist, was Demokratie ist, daß dies nicht die bessere Welt ist, die können wir sowieso nicht mehr erziehen, was soll es Ärger geben.
Andererseits wurden die deutschen Bücher und die Neue Literatur, die Zeitschrift für deutschsprachige Literatur in Rumänien, auch im Westen vertrieben. Insofern war unsere Literatur ja auch so etwas wie ein zynisches Propagandaobjekt. Man konnte zeigen, was man alles sagen darf. Aber die Rumänen durften es nicht sagen, und die Ungarn in Rumänien erst recht nicht. Die wurden noch mehr zensiert, weil ja Siebenbürgen der ewige Zankapfel zwischen Ungarn und Rumänien war.
Ceauçescu hat den Bonus des Westens gebraucht. Wenn wir deutschen Journalisten aus dem Westen gesagt haben, der Ceauçescu ist verrückt geworden, haben die gesagt, wir seien Ewiggestrige, wir seien Konservative, wir seien Faschisten. Denen war etwas aufgeschwatzt worden, und die haben nur positiv über Rumänien berichtet. Einer hat uns sogar vorgeworfen, daß wir deutsch schreiben – wir lebten in Rumänien und sollten rumänisch schreiben −, ohne zu wissen, daß es da seit fast 900 Jahren eine deutsche Kultur in Rumänien gegeben hat und daß Rumänien immer ein Vielvölkerstaat war und daß selbst der Diktator die Kultur der Minderheiten nicht auslöschen konnte.
Helbig: Die Zeitschrift Neue Literatur hatte für Autoren der DDR eine gewisse Ventilfunktion, manches, was in der DDR so nicht gesagt und gedruckt werden konnte, wurde in der Neuen Literatur gedruckt. Wie war dies möglich?
Hodjak: Die Neue Literatur hat ja auch westdeutsche Literatur gebracht. Zum Beispiel Romanfragmente, brisante Auszüge aus neuen Romanen, die auf die Situation in Rumänien wie zugeschnitten waren. Bei der DDR-Literatur war diese Parallele zu Rumänien ohnehin klar. Es gab eine berühmte Interviewreihe mit DDR-Schriftstellern, die alle Oppositionelle waren. Irgendwann hatte die DDR-Botschaft protestiert und gefordert, daß auch die andere Seite vertreten sein müsse. Was aber nie passiert ist.
Ich habe im übrigen diesen Einteilungen in westdeutsche, DDR-, schweizerische, österreichische und rumäniendeutsche Literatur immer mißtraut. Für mich gab es immer nur eine einzige deutschsprachige Literatur. Mit den anderen Begriffen kann ich nichts anfangen. Wichtig ist ja nicht, woher der Stoff kommt. Das einzige Kriterium ist das der Sprache. Wenn nicht, müßte mein Roman Grenzsteine oder alle Bücher von Herta Müller zur rumänischen Literatur gehören. Was übrigens die Rumänen unter Ceauçescu ernsthaft behauptet haben. Man nannte uns rumänische Schriftsteller deutscher Zunge. Was ja Nonsens war, weil Literatur sich nur durch Sprache verwirklichen kann. Sprache ist das einzige Zuordnungskriterium, und nicht die Region, aus der sie stammt oder die sie behandelt.
Helbig: Haben Sie die Sprachinsel Siebenbürgen, wo parallel deutsche, ungarische und rumänische Literatur entstanden ist, als Bereicherung empfunden?
Hodjak: Ja, natürlich. Siebenbürgen ist ein spannendes Interferenzgebiet. Man hat es ja immer die kleine Schweiz genannt. Nur ist es noch spannender als in der Schweiz, weil die drei Ethnitäten nicht in besonderen Gebieten leben. Im Mittelalter war das so. Da durften weder Ungarn noch Rumänen die deutschen Städte betreten. Das hat sich dann am Ende des 18. Jahrhunderts geändert. Dann hat man in der gleichen Straße gewohnt. Den einen Nachbarn hat man ungarisch gegrüßt, den anderen rumänisch. In der Schweiz leben sie ja doch in gesonderten ethnischen Gebieten. Aber in Siebenbürgen hat man buchstäblich in drei Kulturen gelebt.
Als Studenten haben wir eine Zeitschrift gegründet – Echinox −, die in drei Sprachen herausgegeben worden ist, rumänisch, ungarisch und deutsch. Jede Ausgabe ist in eigener Gestaltung erschienen. Der Umgang mit den anderen Kulturen, mit den anderen Literaturen war sehr intensiv. Und jeder hat vom anderen etwas mitbekommen und mitgenommen. Das war unvermeidbar. Man hat sich auch gegenseitig übersetzt. Ich hab das nicht als Verarmung der deutschen Kultur empfunden. Schon das Sinnliche des Rumänischen, das hat doch abgefärbt auf mein Deutsch, das ist nicht spurlos vorbeigegangen.
Ich bin froh, in diesem Interferenzgebiet geboren worden zu sein, wo ich auch Toleranz lernen mußte. In solchen Gebieten ist ja die Gefahr eines Nationalismus größer als anderswo. Siehe Jugoslawien nach dem Zusammenbruch. Aber, nirgends kann man Toleranz so intensiv lernen, wie in so einem Gebiet. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten, für die man sich entscheiden kann. Für eine enorme Toleranz oder für einen enormen Nationalismus. Und ich habe mich für Toleranz entschieden. Vermutlich bin ich zur Toleranz auch genetisch veranlagt. Ich bin ein Resultat der k.u.k. Monarchie. Ich habe slowakische, siebenbürgische und schwäbische Vorfahren, ein Großvater stammte aus Wien.
Als ich nach Deutschland kam, hätte ich nicht gedacht, daß ich noch einmal so intensiv über Toleranz nachdenken müßte. Auf vieles war ich vorbereitet. Aber auf die Intoleranz gegen Andersartige nicht. Das war 1990, als ich das erste Mal nach Deutschland kam, noch nicht so akut. Das hat sich erst danach entwickelt.
Wer behauptet, die Einverleibung anderer Kulturen gefährde die deutsche Kultur, der weiß nicht, wovon er spricht. Die deutsche Kultur ist so stark – war es, ist es und wird es sein −, daß sie durch andere Kulturen nicht gefährdet, sondern nur bereichert werden kann. Ich muß nicht auf den hinweisen, der alles wußte – Goethe. Es hat ja auch nie einen Rumänen gestört, wenn wir deutsch geschrieben haben. Wir hatten unsere Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsendungen. Wenn die Deutschen ihre Volksfeste gefeiert haben und in Trachten durch Hermannstadt gezogen sind, hat das nie einen Rumänen gestört. Im Gegenteil, man hat zusammen gefeiert. Wir haben immer zweimal Ostern gefeiert. Niemand wäre jemals darauf gekommen, daß, wenn man dem anderen seine Freiheit läßt, etwas von der eigenen Identität verloren gehen könnte. Oder daß, wenn Rumänen und Ungarn ihre Kinder auf der deutschen Schule lernen lassen, deren Rumänen- oder Ungarntum gefährdet sein könnte. Das ist immer nur als Bereicherung empfunden worden.
Helbig: Haben Sie das Siebenbürgen, welches Sie erlebt haben, auch als Heimat empfunden?
Hodjak: Nein. Ich hab ja doch zu einer ethnischen und politischen Minderheit gehört. Ich glaube, Heimatgefühl verstellt oder verdüstert den Blick auf die große Welt. Ich hab nie ein Heimatgefühl gehabt. Ich bin weder in Deutschland beheimatet, noch in Siebenbürgen. Ich bin ein Weltbürger, ein Kosmopolit, ein Wanderzigeuner. Ich habe zwei Staatsbürgerschaften. Ich wünschte mir, unsere Politiker – vor allem, da sie jetzt so tun, als würden sie das vereinte Europa vorantreiben – sähen ein, daß man wählen können müßte, entweder keine Staatsbürgerschaft oder meinetwegen siebzehn zu besitzen. Das wird auch kommen. Leider werde ich die Zeit nicht erleben. Ich habe mir Siebenbürgen nicht ausgesucht. Ich wurde dort hineingeworfen. Dieses Siebenbürgen, die drei Kulturen, in denen man gelebt hat, die drei Sprachen, das war eine wunderbare Sache. Das hat mir nicht geschadet, aus anderen Kulturen etwas übernommen zu haben. Das hat mich geprägt.
Helbig: Ist die deutsche Sprache so etwas wie eine Heimat für Sie?
Hodjak: Nein. Beheimatet fühle ich mich in dieser Sprache nicht. Die deutsche Sprache ist für mich ein Ausdrucksmittel, ein Wohnort. Ich habe ja lange Zeit in der rumänischen Sprache gewohnt. Obwohl die deutsche Sprache meine Mutter- und Vatersprache ist, also eine Art Medium, das mich denken gelehrt hat. Das Rumänische war eine Alltagssprache. Die Sprache, in der man denkt, löst Vorstellungen, Bilder, Gefühle aus, die den Denkprozeß erst in Gang bringen, und daß das in verschiedenen Sprachen verschieden ist, möchte ich mit einem Beispiel belegen. Jedes rumänisch-deutsche Wörterbuch übersetzt das Wort dor mit dem Wort Sehnsucht, und umgekehrt natürlich auch, jedes deutsch-rumänische Wörterbuch übersetzt das Wort Sehnsucht mit dem Wort dor. Doch zwischen der Sehnsucht in der rumänischen Sprache und der Sehnsucht in der deutschen Sprache gibt es erhebliche Unterschiede. Zuerst ist es der Unterschied zwischen den Vokalen. Dor ist eine Sehnsucht, die sich nicht zerdehnt, sondern sich fast zurücknimmt, aus einer gewissen Skepsis heraus, eine Sehnsucht, die etwas beschreibt, in dem mehr tiefe Schwermut liegt als Hoffnung. Das hat viel mit Mystik zu tun. Das deutsche Wort Sehnsucht hingegen beschreibt eine Leichtigkeit, eine ganz andere Art zu hoffen, fast möchte ich sagen, einen Leichtsinn, mit dem man an etwas glaubt, das sich erfüllen könnte, weil das Wort Sehnsucht die Irrationalität ausschließt, und, wenn es hochkommt, eine simple Sucht ist.
So entstehen die Mißverständnisse. Wenn das rumänische Wort dor mit dem deutschen Wort Sehnsucht übersetzt wird, und umgekehrt, wenn man das deutsche Wort Sehnsucht mit dor ins Rumänische übersetzt, dann wird der Deutsche glauben, die Sehnsucht des Rumänen wäre identisch mit der Sehnsucht des Deutschen, und der Rumäne wird denken, der deutsche würde den gleichen dor empfinden wie er, der Rumäne, weil man ja das ganze Hallo, die Atmosphäre nicht mitübersetzen kann, die das Wort in der anderen Sprache hat, und die Vokale kann man erst recht nicht ändern, die schon vom Klang her die Atmosphäre mitprägen. Was kann fataler sein?
Helbig: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Ostragehege, Heft 27, 2002
Alexandru Bulucz: Erleidenslyrik
„Der Raum hat mich geprägt“: Interview mit Franz Hodjak in Usingen
Eine Lesung von Franz Hodjak aus unveröffentlichten Texten und ein Gespräch mit den Autoren Werner Söllner und Peter Motzan am 27.5.1992 im LCB.
Enikő Dácz spricht mit Franz Hodjak über Die Erfahrung der Bewegung
Peter Motzan: „Ich wohne in einem Türrahmen“
Ostragehege, Heft 35, 2004
Tom Schulz: Sehnsucht nach Feigenschnaps
Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2014
Georg Aescht: Mühlen antreiben, doch welche? Franz Hodjak (70) weiß Letzteres nicht und tut Ersteres erst recht
Siebenbürgische Zeitung, 19.10.2014
Franz Hodjaks Laudatio zum Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturpreis 2013 in der St.-Pauls-Kirche Dinkelsbühl.
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