BITTRES LIED
Spielen wir, komm, mein Kind,
König und Königin!
Dies grüne Feld ist dein.
Wem soll es sonst gehören?
der wogende Klee,
für dich muß er sich wiegen.
Dies ganze Tal ist dein.
Wem sollt’ es sonst gehören?
Damit wir sie genießen,
werden Äpfel honigsüß im Hain.
(Nein, nicht wahr ist’s,
daß du frierst wie das Kind von Bethlehem,
daß deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!)
Dem Schäfchen wächst die Wolle.
Für dich wird man spinnen das Vlies.
Dein sind die Herden, die Schafe.
Wem sollten sie sonst gehören?
Und die Milch im Stalle,
die in den Eutern fließt,
und die Garben des Korns −
wem sollten sie sonst gehören?
(Nein, nicht wahr ist’s,
daß du frierst wie das Kind von Bethlehem,
daß deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!)
Ja, spielen wir, Kind,
König und Königin!
Übertragen von Albert Theile
leben, kämpfen, singen und an die ozeanische und andinische Einsamkeit des Vaterlandes glauben. Ich küsse deine edle Stirn und verehre deine weitgespannte Poesie.
Pablo Neruda, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1983
ist in dem ganzen Werk spürbar…, sie erscheint bald scharf ausgeprägt, bald leicht angedeutet; aber es gibt kein einziges Gedicht, in dem die Substanz, das Wesen der Dinge nicht gegenwärtig wäre.
Paul Valéry, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1983
Das Tal von Elqui ist eine der kleinen Querfurchen, die sich im nördlichen Chile zwischen den Anden und dem Pazifischen Ozean hinziehen. Es hat ein ähnlich mildes Klima wie Kalifornien in den Vereinigten Staaten, und die tropische Ergiebigkeit seines Obstanbaus ist weithin bekannt.
Gabriela Mistral kennzeichnete in einem Artikel die dort lebenden Menschen als eine Art Abenteurer, die das Spiel lieben und zu regelmäßiger Arbeit nicht taugen; denen die Suche nach einer fündigen Mine und die Idee, schnell zu Geld zu kommen, die Köpfe verdreht hätten. Möglicherweise hat Gabriela Mistral, als sie diesen Menschentyp aus dem nördlichen Chile beschrieb, an ihren Vater gedacht. Obwohl Jeronimo Godoy kein Bergmann, sondern Volksschullehrer von Beruf war und zuweilen als Dichter auftrat, war er allen Aussagen nach unbeständig und trieb sich herum und jagte dem Vergnügen nach. Kurz vor der Jahrhundertwende heiratete er eine Witwe, Doña Petronila Alcayaga; die hatte bereits eine erwachsene Tochter, die ebenfalls als Lehrerin wirkte.
Die Familie lebte im Dorf Monte Grande, im Tal von Elqui. 1889 ließ sie sich dann in der nahegelegenen Stadt Vicuna nieder, da Doña Petronila AJcayaga ein Kind erwartete. Auch heute zählt die Stadt Vicuña, die Hauptstadt des Elquidistriktes, noch kaum 2000 Einwohner. Hier kam am 7. April 1889 Lucila Godoy auf die Welt, die später unter dem Namen Gabriela Mistral in die Literatur eingehen sollte. Ihr damals arbeitsloser Vater verfaßte zur Feier dieses Ereignisses ein paar Verse, mit denen er zugleich das Schicksal dieses Kindes beklagte. Die Ankunft dieser Tochter änderte nichts an den Gewohnheiten von Jeronimo Godoy. Drei Jahre später verließ er die Familie und verschwand wenig später aus der Gegend.
In der Dichtung von Gabriela Mistral besteht deshalb auch der Kern einer Familie aus Mutter und Kind; der Vater ist eine ferne Gestalt und wird nur selten erwähnt. Dafür geben uns die folgenden Verse einen Eindruck von ihrer Mutter, Doña Petronila ALcayaga:
Winzig klein war meine Mutter
wie der Pfefferminzstrauch, das Gras.
Kaum warf sie Schatten auf die Dinge, kaum.
Die Erde liebte sie,
weil sie ihr leicht war,
weil sie ihr zulächelte
im Glück wie im Leid.
Sie soll zwar fast Analphabetin, doch geistvoll und tapfer gewesen sein. Als ihr Ehemann das Haus verließ, beklagte sie sich nicht, sondern sorgte eben allein für den Unterhalt der Familie. Ihre älteste Tochter, die Lehrerin, unterstützte sie in dieser Aufgabe und übte einen großen Einfluß auf die Entwicklung von Lucila aus.
Die Dichtung von Lucila Godoy gibt einen Einblick in die Kindheitstage im Elquital. Es scheint dies die einzige glückliche Zeit ihres Lebens gewesen zu sein.
Gabriela Mistral ist, wie sie selbst bei manchem Anlaß betonte, vor allem eine Dichterin des Landlebens. In einer Anmerkung zu ihrem Buch Tala Sus Recados, einer mit Prosa durchsetzten Gelegenheitsdichtung, rechtfertigt sie sich:
… diese Recados drücken mein tiefstes, mein alltäglichstes Ich aus, die ländliche Atmosphäre, in der ich gelebt habe und in der ich sterben will.
In einer anderen Fußnote erklärt sie, warum sie auch nach ihrem Urteil schwächere Gedichte aufgenommen habe:
Mit dem Lächeln der Bäuerin, die ihren Trestermost verdirbt oder den Siruptopf auf dem Feuer umstößt.
Jedenfalls dachte sie immer gern an ihre Jugend in Elqui zurück. Das unbedeutendste Tagesereignis genügte, Erinnerungen wachzurufen: das Brot auf dem Tisch, der Anblick von Salz, die Gebärde eines zum Trinken auffordernden Menschen.
Manchmal wurde ihr die Vergangenheit dabei so beklemmend lebendig, daß sie sich ihre Echtheit auszureden versuchte. In einem der auf den Tod der Mutter verfaßten Gedichte spricht sie es aus:
So fern sind die Jahre,
da wir die Brote aus Feinmehl
am Pinientisch genossen,
daß wir sie nicht für wahr halten,
behaupten, unser Leben
sei immer wie heute gewesen.
Wir verkaufen die weiße Erinnerung,
die wir an der Türschwelle ließen.
Bald nach der Umsiedlung in die Stadt und mit Beginn ihrer Schulzeit fangen die Leiden an. Zwar folgt auf eine schwere Jugend eine friedliche Zeit, doch sucht sie, wie aus ihren Gedichten hervorgeht, ständig den unwiederbringlichen Zauber ihrer Kindheit.
Ihre erste schmerzliche Erfahrung erlebte sie, noch sehr jung, in Vicuña. Die Mutter hatte sie bei der Schulleiterin untergebracht. Diese Frau hatte kranke Augen, und Lucila diente ihr als Magd und Blindenführerin. Zu ihren Aufgaben gehörte das Austeilen der Hefte und Bücher an die Schüler. Da sie jedoch krankhaft schüchtern war, riß ihr die Horde das ihr Anvertraute aus den Händen und zerfetzte die Hefte. Lucila vermochte sich nicht durchzusetzen, so daß sich der Vorrat vorzeitig erschöpfte. Lucila wurde zur Rechenschaft gezogen und, da sie keine befriedigende Erklärung abgeben konnte, von der Direktorin feierlich vor allen Schülern gerügt. Nicht genug damit, ein paar Kameraden lauerten ihr noch an der Schultüre auf und bewarfen sie mit Steinen.
Als Gabriela Mistral viele Jahre später durch Vicuña kam, soll sie zufällig der Beerdigung dieser Direktorin beigewohnt haben, ohne zu wissen, um wen es sich handelte. Sie legte nach der Sitte einen Blumenstrauß auf die Bahre nieder und erkundigte sich nach dem Namen der Verstorbenen. Als man ihr Auskunft gab und fragte, ob sie sich an die Frau erinnere, war ihre bündige Antwort: „Ich vergesse nie!“
Weil es für ein Mädchen in ihrer Lage unter dem Einfluß der Familie, aber auch aus eigener Neigung keine andere Laufbahn gab, erteilte Lucila von früher Jugend an Schulunterricht. Schon mit 15 Jahren wirkte sie, wie sie später erzählte, als Hilfslehrerin an einer Landschule. Von 1905 bis 1907 war sie in zwei verschiedenen Dörfern im Elquital nahe der Provinzhauptstadt La Serena tätig. Schon damals erschienen Gedichte und Artikel von ihr in den Regionalzeitungen.
Nachhaltigen Einfluß übte auf sie der Kolumbianer Vargas Vila aus, ein romantischer und glühender Revolutionär, der sich der „Göttliche“ nennen ließ und erhebliche Unruhe unter der damaligen Jugend stiftete. Doch diese Phase ging rasch vorüber, als Gabriela Mistral bei einer Großmutter mütterlicherseits, die in La Serena lebte und für verrückt galt, die Bibel entdeckt hatte. Die Lektüre der heiligen Schrift sollte in Gabriela Mistrals Dichtung jahrelang ihre Wirkung verraten. Von da könnte auch ihre Abneigung gegen die spanische Form des Katholizismus herrühren, wo das Zitieren von Bibeltexten geradezu verpönt ist; vielleicht liegt hier auch der Grund ihrer Bewunderung für die jüdische Rasse. Gabriela verstieg sich sogar zu der wohl kaum begründeten Behauptung, sie stamme von Juden ab.
1906 lernte sie Romelio Ureta, einen jungen Eisenbahnangestellten, kennen. Damit begann das Drama einer Liebe, das ihre ganze Jugend überschattete. Es wird behauptet, Lucila Godoy habe Romelio Ureta nur zwei- oder dreimal in ihrem Leben gesehen und die ganze, in ihren Gedichten von Desolación geschilderte Liebesgeschichte sei von einer phantasievollen Traumseele nur erdacht. Immerhin spricht einiges für das tatsächliche Erlebnis: Begegnungen, Briefe, ein Bruch. Einem chilenischen Schriftsteller erzählte sie selbst:
Unsere Liebe war echt. Doch dann, an einem schicksalsträchtigen Tag, haben wir uns getrennt. Ich benahm mich damals übel; wir schrien und stritten beide im Zimmer so laut, daß sich meine Mutter einmengte und Romelio hinauswarf. Die Zeit verging, und meine Angehörigen meinten schon, ich hätte ihn vergessen. Fünf Jahre lang nach unserem Zerwürfnis flüchteten wir buchstäblich voreinander. Wir haßten uns, dabei lebten wir unter demselben Dach; er bewohnte einen Raum im oberen Stock, und mein Zimmer lag direkt unter dem seinen… Er wußte, daß ich um neun in die Schule ging, und verließ deshalb das Haus um halb neun Uhr. Er war gar nichts Besonderes, ein Mann mit einem schön geformten Kopf, doch fast häßlichen Gesichtszügen. In diesen fünf Jahren trafen wir uns ein einziges Mal bei einem Reitausflug. Auf dem Heimweg lud er mich zu sich ein, aber ich lehnte ab. Zuletzt führte er einen liederlichen Lebenswandel, trieb sich mit Frauen herum und vergeudete dabei sein Geld. Seine elegant aufgemachte Verlobte, deren Familie auf großem Fuß lebte, beutete ihn ohne die geringsten Gewissensbisse aus. Schließlich verbrauchte er mehr als er verdiente und mußte sich aufs Stehlen verlegen. Eines Tages trafen wir in einer abgelegenen Straße aufeinander, nachdem wir uns viele Jahre aus dem Weg gegangen waren. Er kam auf mich zu und begleitete mich plaudernd. „Wann heiraten Sie?“ fragte ich ihn. „Wie? Glaubten Sie etwa, ich könnte mich mit dieser Frau verheiraten?“ „Nein, nie!“ gab ich ihm zur Antwort. Tatsächlich, nicht im Traum konnte ich mir vorstellen, daß er sie jemals hätte heiraten können! „Und was fangen Sie mit Ihrem Leben an?“ „Mein Leben ist nichts wert, fragen Sie mich nicht danach, Sie wären entsetzt.“ Vierzehn Tage danach jagte er sich eine Kugel durch den Kopf. In der Innentasche seines Mantels steckte eine der zwei Karten, die ich ihm geschrieben hatte.
Dieser Bericht klingt wahr. Aus ihm spricht die junge Dichterin, eine verschlossene und ungemein leidenschaftliche Natur, feind jeder Leichtfertigkeit, in aller Stille hegt sie ihren Groll. Geringschätzig und unbarmherzig verurteilt sie die herausgeputzte Verlobte. Im Gegensatz dazu stellt sie Romelio Ureta als einen vom äußeren Schein verführten Windhund dar, in dessen Selbstmord sie Sühne sieht.
Dieses Geschehen wurde Anlaß für einige der leidenschaftlichsten Gedichte in spanischer Zunge. Sie wurden später ihrem Buch Desolación beigefügt und machten Gabriela Mistral berühmt. Nach einstimmigem Urteil bilden sie den später nie mehr erreichten Höhepunkt in ihrem Werk.
In der Zwischenzeit setzte sie ihre Studien fort, freilich nicht ohne Schwierigkeiten. Am Lehrerseminar von La Serena, wo sie hoffte, die üblichen Vorlesungen hören zu können, war sie zwar zugelassen, aber dann wieder fortgeschickt worden. Die Motive für diese Entscheidung liegen auf der Hand: man muß sich nur die Situation einer alleinstehenden Frau ohne Protektion vorstellen, die in einer kleinen chilenischen Provinzstadt zu Beginn des Jahrhunderts als avantgardistisch verschriene Gedichte schreibt.
Dennoch gelang es ihr, als Gasthörerin die für ihren Beruf notwendigen Ausweise zu bekommen, und sie fand damit nacheinander mehrere Anstellungen an verschiedenen Schulen ihres Landes. Daneben veröffentlichte sie weiterhin Gedichte und Artikel in in- und ausländischen Zeitungen. Etwa von 1913 an legte sie sich das Pseudonym Gabriela Mistral zu.
Einige findige literarische Geister verfochten mit gelehrten Argumenten die Meinung, das Pseudonym der Dichterin habe nichts mit dem provenzalischen Dichter und Nobelpreisträger Frédéric Mistral zu tun. Doch eine Strophe ihres Gedichts „Mis Libros“ (Meine Bücher) scheint das Gegenteil zu beweisen:
Gedicht von Mistral, Duft aufgerissener Furchen,
der den Morgen durchtränkt. Berauscht atme ich dich.
Ich sah sie, Mireille, wie sie die blutende Frucht,
die Frucht der Liebe auspreßt und aus der grausamen Wüste entflieht.
Unter ihrem Pseudonym nahm sie 1914 an den Juegos Florales, einem literarischen Wettbewerb, teil, den die Stadt Santiago veranstaltete. Sie schickte drei „Sonetos de la Muerte“ – Sonette vom Tode – ein, die mit unerhörter Intensität die Geschichte einer Liebe bis hin zum Selbstmord schildern. Die Zeremonie der Preisverleihung verlief in der Feierlichkeit eines Provinzfestes, mit einer Festkönigin, mit Reden und der Übergabe von Urkunden auf einer Bühne. Gabriela Mistral erhielt den ersten Preis, doch ihre Schüchternheit hinderte sie, ihn in Empfang zu nehmen. Sie selbst erzählte, wie sie bei der Zeremonie zugegen war und sich hinter den Zuschauern auf der Galerie des Stadttheaters versteckte.
Preise solcher Art fallen oft der Vergessenheit anheim. Doch für dieses eine Mal hatte man eine echte Dichterin gewürdigt und weihevoll den Auftakt ihrer literarischen Laufbahn gesetzt. Die Zeitungen und Zeitschriften von Chile und ganz Amerika begannen sich um ihre Mitarbeit zu bewerben. Ihre Dichtung wurde zwar in konservativen Kreisen angefochten, doch verschaffte sie ihr einflußreiche Bewunderer, die ihr zugleich den Weg zu einem Staatsamt ebneten.
Das Erscheinen von Desolación (1922) festigte ihren Ruf auf dem ganzen Kontinent. 1922 ließ sie der Schriftsteller und Politiker José Vasconcelos, der damalige Erziehungsminister von Mexiko, in aller Form ersuchen, an der Unterrichtsreform des Landes mitzuarbeiten. Diese Reise Gabriela Mistrals nach Mexiko gab dem Erfolg von Desolación noch besonderes Gewicht.
Mexiko, das Gabriela Mistral vor allem in kultureller und künstlerischer Hinsicht zu einem Zeitpunkt kennenlernte, als die Revolution von 1911 noch in voller Gärung war, übte auf sie einen entscheidenden Einfluß aus. Die mexikanische Revolution kämpfte für die Amerikaner und die Eingeborenen, aber gegen Spanien, und sie proklamierte das Ende der den Südamerikanern von Europa mit mexikanischer Hilfe auferlegten kulturellen Knechtschaft. Sie trat für eine Erneuerung der eigenen südamerikanischen Kultur und Kunst ein.
Es würde diesen Rahmen sprengen, wollte man die eigentliche Bedeutung dieses mexikanischen Aufenthalts auf Gabriela Mistral darzulegen versuchen. Ihre Verachtung für alles Spanische, ihr beharrliches Bemühen, sich als Indianerin zu geben, waren der Ideologie der mexikanischen Revolution keineswegs fremd. Auch stellte sie sich gegen die kosmopolitischen Ideen, wenn das auch nicht heißen soll, daß sie den großen Werten der übernationalen Kultur gegenüber gleichgültig blieb. Allein sie mißbilligte die Verfremdung und Entstellung des Lateinamerikanischen, das sich Europa anzugleichen suchte und den eigenen Ursprung vergaß.
Trotz ihrer rastlosen Fahrten durch verschiedene Länder und Kontinente blieb Gabriela Mistral ihrer Heimat und den Indianern des Elquitales treu. Themen wie Vaterland und Landleben oder Liebe und Mutterschaft fesselten ihre dichterische Inspiration.
Wie zahlreiche Gedichte von Desolación beweisen, lebten diese Vorstellungen in der Anlage schon vor der Reise nach Mexiko. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß sich ihre Kunst in Berührung mit einer Revolution, die als Grundsatzprogramm im intellektuellen Bereich die Bindung an das Land gefordert hatte, gefestigt und weiter entwickelt hat. Es handelte sich um eine Revolution, deren Künstler wie etwa Diego Rivera, Orozco, Siqueiros, Mariano Azuela die Einordnung unter europäische Moden und Einflüsse als Teil des kulturellen Kolonialismus verdammten.
Von Mexiko fuhr Gabriela Mistral 1924 nach Europa und kehrte von da wieder nach Chile zurück. 1932 wurde sie in den Diplomatischen Dienst von Chile übernommen, und ein chilenisches Gesetz verlieh ihr drei Jahre später Titel und Stellung eines Konsuls auf Lebenszeit.
Damit begann ihr unstetes, nur von kurzen Besuchen in Chile unterbrochenes Dasein. Sie lebte in Spanien, Italien, Portugal, in den Vereinigten Staaten, Brasilien, Mexiko, Mittelamerika, auf den Antillen und in Puerto Rico. Eine unstillbare Rastlosigkeit zwang sie, ständig den Ort zu wechseln, ohne damit dem immer wiederkehrenden Heimweh entgehen zu können. Sie erinnerte sich nicht ohne Groll der Schwierigkeiten, die sie anfänglich in Chile zu überwinden hatte, und schien nicht mehr dorthin zurückkehren zu wollen. Ganz im Gegensatz dazu ist ihre gesamte in der Fremde entstandene Dichtung von Heimweh durchdrungen. Aus einem ihrer Gedichte – „Land der Abwesenheit“ – spürt man heraus, was es heißt, in einem unvertrauten Land ohne Namen verbannt leben und sterben zu müssen.
Land der Abwesenheit,
befremdendes Land,
leichter als Engel,
als luftige Zeichen,
Farbe der toten Alge,
Farbe des Edelfalkens,
mit dem Alter des Immer,
ohne glückliches Alter.
Nicht treibt es Granatäpfel,
nicht züchtet’s Jasmin,
nicht hat es Himmel,
nicht indigoblaue Meere.
Seinen Namen habe ich
niemals vernommen.
In dies Land ohne Namen
werde sterbend ich gehn.
Die Nachricht von der Zuerkennung des Nobelpreises erreichte sie, als sie sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in der brasilianischen Stadt Petropolis aufhielt. Doch der Preis, der erste, der einem südamerikanischen Schriftsteller verliehen wurde, hatte auf ihre Lebensgewohnheiten keinen Einfluß. Alles stimmte darin überein, daß Gabriela Mistral verwirrend unkompliziert sei. Die Ehrungen brachten sie nicht aus der Fassung. Das bestätigte sich auch 1954, am Ende ihres Lebens, während eines Besuches in Chile, der einer wahren nationalen Vergötterung gleichkam.
Am 10. Januar 1957 starb Gabriela Mistral nach langer Krankheit in New York. Ihrem Wunsche gemäß wurde sie im Elquital, auf dem Dorffriedhof von Monte Grande, beigesetzt. Diesem Ort, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, bewahrte sie, durch all die Jahre der Abwesenheit, eine unverbrüchliche Zuneigung.
Die zahlreichen, in den Zeitschriften erschienenen Fassungen ihrer Gedichte lassen erkennen, wie sehr Gabriela Mistral ständig um die Verbesserung des Geschaffenen bemüht war. Nie konnte sie sich mit einem Vers ganz zufrieden geben. Deshalb wehrte sie sich auch gegen den Gedanken, die zahlreichen in Zeitschriften veröffentlichten Gedichte in einem Buch zu vereinen. Es kam selten vor, daß sie ein Gedicht als endgültig fertig bezeichnete. Erst unter dem Druck einer Gruppe von New Yorker Freunden, die ihre Dichtung aus einem von Federico de Onis, Professor an der Universität von Columbia, gehaltenen Vortrag her kannten, wurde 1922 ihr Buch Desolación veröffentlicht.
Der bittere und harte, ja oft überspitzte Stil von Desolación erklärt sich aus den literarischen Voreingenommenheiten, die Gabriela damals hegte. Wie ein chilenischer Kritiker es ausgedrückt hat, ließ sie „die hellenische Lektion aus Frankreich“ gleichgültig. Sie hatte eine Vorliebe für den chaotischen und schwülstigen Roman der Russen, für den pantheistischen Gedankenflug Tagores; sie war übrigens in ihrem literarischen Geschmack nicht immer ganz sicher. Als Lieblingsautoren führte sie nebenbei in ihrem Gedicht „Mis Libros“ – Meine Bücher – an: Die Bibel, Dante, den heiligen Franz von Assisi und den Mexikaner Amado Nervo. Wie man sieht, fehlen die spanischen Autoren. Zwar war gelegentlich von einer Anspielung auf Cervantes die Rede, den Gabriela Mistral einmal „unseren Dante“ genannt haben soll, doch leugnete sie dies entschieden ab. Aus ihrer absichtlichen Gleichgültigkeit gegenüber den linguistischen Ursprüngen ihrer Sprache leiten sich auch, wenigstens teilweise, die sprachlichen Abirrungen in Desolación her, doch sind dies Fehler, die fast immer durch Originalität und Ausdruckskraft ausgeglichen werden.
Die in „Mis Libros“ angegebenen Schriften decken sich in der Themenwahl genau mit den in Desolación behandelten Hauptmotiven: Leidenschaft, Todeswahn, Ewigkeit, Gott, Natur und Landleben. Das ganze Buch beherrscht ein mit „Dolor“ – Schmerz – überschriebenes Kapitel, das die Entwicklung der leidenschaftlichen Jugendliebe Gabriela Mistrals vom ersten Zusammentreffen bis zum Vergessen nach der vom Selbstmord des geliebten Menschen ausgelösten Trostlosigkeit schildert. Wie überall, sucht Gabriela auch in der Liebe das Absolute und Ewige. Und weil sie sich nicht mit der Begrenztheit menschlicher Liebe abfinden kann, ist schon das Keimen ihrer Gefühle von Tragik überschattet.
Die Vorstellung, ihr sei ein unheil volles Geschick bestimmt, kehrt in „Dolor“ beharrlich wieder und wird auch dem späteren dichterischen Werk von Gabriela Mistral immer anhaften. In ihrem Gedicht „Extasis“ – Ekstase – klingt es im Gespräch mit ihrem Geliebten an, wenn sie sagt:
Ich sprach zu ihm von Schicksal, seinem, meinem,
verhängnisvoll geknetet aus Blut und Tränen.
Daher ist auch der Grundton sämtlicher Gedichte in Desolación religiös gefärbt. Hinter aller Liebe, allen mütterlichen Gefühlen und der gesamten Natur sucht sie nach einer unverrückbaren Wesenheit, die über dem Sichtbaren steht. Die körperliche Liebe ist niemals Selbstzweck, wie sie in ihrem Gedicht „Intima“ – Preß nicht meine Hände andeutet:
Denn meine Liebe ist nicht nur die Garbe,
widerspenstig, ermattet, meines Leibes,
der erzittert, wenn das Büßerhemd ihn streift
und mir zurückbleibt bei jeglichem Flug.
Im Kuß ist nicht nur die Lippe,
und die Stimme nicht nur Echo der Brust:
Meine Liebe ist Gottes Sturmwind, der meines Fleisches
Zweig mir im Fluge spaltet!
Nach dem Selbstmord des Freundes mischt sich in die Verzweiflung der Dichterin die stille Freude, den geliebten Menschen nun im Tod ganz zu besitzen, ohne daß ihn ihr jemand streitig machen könnte. Im ersten Gedicht der „Sonette vom Tode“ bekennt sie, wie sie ihn aus seiner Gruft heben und, fern von allen, in die reine Erde senken, ihn „zärtlich wie eine Mutter ihren schlafenden Sohn“ zur Ruhe betten wird, und fährt dann fort:
Besingend meine schöne Rache wird’ ich forteilen.
Keines Weibes Hand wird in die Tiefe, die verborgne, reichen,
mir dein Gebein, die Handvoll, streitig machen!
Am liebsten wäre sie dem Geliebten in den Tod gefolgt, und sie schämte sich nun ihrer Schwäche, die sie im „schändlichen Schoß des Lebens“ gefangen hielt. Der Gedanke an Selbstmord verfolgte sie auf allen Wegen.
Die spätere Dichtung von Gabriela Mistral war weniger heftig, weniger leidenschaftlich, dafür öffnete sich ihr eine weitere Welt, in der auch die Natur, die Menschen und die Geschichte ihren Platz fanden. Vor allem aber sprach die Dichterin von ihrer großen Zuneigung zu den Kindern, mit denen sie als Lehrerin in steter Berührung war und von denen sie sich schließlich auch aus ihrer Niedergeschlagenheit befreien ließ. Bereits in Desolación taucht das Kind als Motiv auf, aber ohne das Ausmaß oder die Bedeutung anzunehmen, das ihm später eingeräumt wurde.
1924 wurde in Madrid Ternura zusammen mit einigen Gedichten, die schon in Desolación erschienen waren, und anderen, bisher unveröffentlichten Stücken herausgegeben. Der zweiten, 1945 in Buenos Aires besorgten Auflage, wurden einige neue Gedichte hinzugefügt. Manche Kritiker betrachten dieses Buch als Teil von Desolación, da sich darin eine Anzahl Gedichte aus dieser Sammlung wiederfindet. Viele Gedichte in Desolación blieben unbeachtet – schon das Kapitel „Dolor“ fügte sich nicht leicht in diese Reihe −, während sie, mit anderen, neugeschaffenen Gedichten in einem Sonderband zusammengefaßt, eine große stilistische Einheit entwickelten.
Ternura ist in einer ursprünglichen, dem Idiom der Südamerikaner nahekommenden Sprache gehalten, die sich von der ibero-amerikanisch gefärbten Rhetorik gegen Ende des Jahrhunderts, wie sie noch ein wenig in der Liebesdichtung Desolación nachklingt, deutlich unterscheidet. Gabriela Mistral war sich ständig der Problematik bewußt, vor die sich der südamerikanische Schriftsteller in seinem Umgang mit einer ihm nur zur Hälfte angehörenden Sprache und Tradition gestellt sieht. In diesem Licht ist auch ihr der argentinischen Ausgabe von Ternura angegliedertes „Colofon con cara de excusa“ sehr interessant:
Einmal mehr befasse ich mich hier ganz bewußt mit den Widrigkeiten der sprachlichen Rassenvermischung… Ich gehöre zu der Gruppe der Unerwünschten, die ohne patriarchalisches Altertum und ohne Mittelalter geboren wurden, und besitze wie sie ein aufgedrungenes und deshalb widersetzliches und unausgeglichenes Gesicht, ein in sich widersprüchliches Inneres mit uneinheitlichem Ausdruck; ich bin ein Kind dieser verfahrenen Geschichte, die sich ein Rassenexperiment oder besser eine Rassenvergewaltigung nennt.
Obwohl im Stil verschieden, ist Ternura in der Dichtung mit Desolación verwandt. In ihrer Liebesleidenschaft enttäuscht, richtete Gabriela Mistral alle ihre Wünsche auf die Mutterschaft, die ihr notgedrungen ebenfalls versagt bleiben sollte. Doch war dieses Verlangen so heftig, daß es ihr ein imaginäres Kind vorzugaukeln vermochte, das sich vor der Wirklichkeit nicht behaupten konnte. Die Zärtlichkeit, die Gabriela Mistral für die Kinder empfand, befreite sie von der Angst, die ihre Inspiration hätte versiegen lassen können. Doch nicht nur dies, sondern alles, was die Unschuld des Lebens ausmacht, war ihre Rettung. Dank der Liebe, die sie der Natur und den Menschen um sie her entgegenbrachte, gelang es ihr, aus der abgründigen Verzweiflung herauszufinden. Insoweit machte sie, wenn auch auf anderem Weg, eine ähnliche Entwicklung durch wie ein weiterer großer Dichter aus Chile: Pablo Neruda. An beider Anfang stand eine tragische und romantische Dichtung von übersteigerter Subjektivität, während in ihrem reiferen Werk die Natur und der amerikanische Mensch an Bedeutung gewannen und beide als Sinn ihrer Dichtung die Aufgabe ansahen, ihren Mitmenschen die Welt zu deuten.
Ein Stück aus Ternura nennt sich deshalb treffend „Guenta-Mundo“ – Weltweisung −. Die Dichterin wendet sich hier an ein Kind und erklärt ihm, was das ist: Luft, Licht, Wasser, Schmetterlinge, Früchte… Die Dichtung von Gabriela Mistral verweilt oft bei den einfachsten Erscheinungen dieser Welt. Man hat gesagt, sie versuche, die Materie zu „vergöttlichen“. In einer Reihe von Gedichten wirkt die Wiederholung gewisser Sachnamen fast wie eine rhythmische Anrufung und läßt den Übergang zu ritueller Dichtung spürbar werden.
Das Motiv des amerikanischen Indio, das die spätere Dichtung von Gabriela Mistral durchdringen sollte, klingt schon in Ternura an. Sie selbst fühlte sich gern als Indianerin. In ihrem Gedicht über das „mexikanische Kind“ („Niño Mexicano“) verschmilzt das den Grundton des Buches bestimmende Muttergefühl mit dem erst in Tala vollausgebiIdeten Bewußtsein indianischer Tradition zu einer Einheit:
Ich lab es im steten Wiegen,
mich nährt es mit Balsam,
dem Balsam der Mayas,
um den mich die andern beraubten.
Wie in der gesamten übrigen Dichtung von Gabriela Mistral finden wir auch in Ternura die Gedanken an den Tod wieder. Doch sind sie hier von anderen Faktoren verdeckt. Die Arbeit des Menschen in seiner Berührung mit der Natur und den Lebensnotwendigkeiten triumphiert über den Tod. Die letzten Strophen dieser Gedichte fassen wie in einem Epigramm die Philosophie der Dichterin zusammen, und die „Ronda de Segadores“ – Rundgesang der Schnitter – endet mit folgenden Worten:
Wir erschlagen den Tod,
den stoßenden Sperber,
wir rudern singend
durch Wogen von Brot.
Wie bereits erwähnt, betrachtete Gabriela Mistral ihre Verse selten als vollendet und nur ungern gab sie Gedichte zur Veröffentlichung frei. Obschon sie ihre Arbeit niemals unterbrochen hatte, erschienen Tala, ihr drittes Buch, erst 1938 in Buenos Aires und Lagar, als viertes und letztes, 1954 in Santiago de Chile.
Zwischen Desolación und diesen beiden Büchern aus späterer Zeit erfuhr die Dichtung von Gabriela Mistral eine große Wandlung. Die Heftigkeit und Verzweiflung der Liebesgedichte aus der Jugend haben sich verloren. Dagegen tauchen Südamerika und die schon in Ternura angedeutete indianische Tradition als neue Themen auf.
Diese Entwicklung zeigt sich hauptsächlich in der Ausdrucksform. Der Stil verzichtet auf den Beigeschmack zeitgenössischer ibero-amerikanischer Wendungen, die von Amado Nervo, Rubén Darío und sogar Vargas Vila stammten; er wird dunkel, ja manchmal hermetisch; ganz kann er sich nie von dem beherrschenden Einfluß Pablo Nerudas freimachen.
Dagegen verstärkt sich der ländliche und archaische Klang in der Sprache. „Nicht nur in der Handschrift“, steht in einer der erklärenden Bemerkungen zu Tala, „sondern auch im Sprechstil benütze ich oft archaische Formen nur mit dem Ziel, daß sie ein lebendiges und musikalisches Element darstellen.“
Trotz dieser Wandlung ist auch weiterhin eine gewisse fundamentale Unruhe in der Dichtung von Gabriela Mistral zu spüren. Die Tragik als Element des menschlichen Lebens durchdringt wie der Gedanke an den Tod alle ihre Gedichte, selbst die von diesen Problemen scheinbar nicht berührten. In dieser Hinsicht ähnelt Gabriela Mistral dem Dichter Unamuno und der heiligen Theresa de Ávila, obwohl sie immer weitab von der spanischen Literaturtradition zu stehen vermeinte.
Der erste Teil von Tala ist dem Tod ihrer Mutter gewidmet, die 1929 starb. „Er verwandelte sich für mich in eine weitläufige düstere Herberge“, steht in einem Kommentar der Dichterin zu diesem Ereignis, „dieser Tod wurde für mich zu einem Land, das ich liebte, um der toten Mutter willen, das ich haßte, weil meine Seele in einer langen religiösen Krise umgetrieben wurde.
Die ganze Gruppe dieser Verse wird von der religiösen Krise geprägt und steht unter dem mächtigen Einfluß der Bibel. Das erste Gedicht, „La Fuga“, schildert eine Reise ins Land der Halluzinationen, die Dichterin wird vom Schatten ihrer Mutter begleitet, die sie am liebsten dem Gott der Realität entrücken möchte, um sie einem persönlichen Gott zuzuführen.
O Mutter mein, im Traume
geh’ ich durch Gegenden der Dunkelheit:
ein schwarzer Berg, den ständig ich umkreise,
zum andren Berge zu gelangen;
und auf dem nächsten stehst du, nebelhaft,
doch immer ist ein andrer runder Berg
noch zu umwandern, um den Zoll zu zahlen
zum Berge deiner Freude, meiner Freude.
Doch der mütterliche Schatten löst sich im Nebel der Berge auf, und die Dichterin hört nur noch ein paar höhnische Stimmen. Am liebsten würde sie mit der Mutter vor ihrem Gott in Verzückung knien, so wie man es den Heiligen nachsagt, statt dessen sieht sie sich dazu verurteilt, die Mutter entlang einem Lichterkranz zu suchen, der in teuflischem Tanz um die beiden Frauen flackert.
In „Nocturno de la Consumación“ – Nocturno der Vollendung – macht sie wie einst in ihrem, während der Liebeskrise ihrer Jugend entstandenen „Nocturno de Desolación“, Gott den Vorwurf, sie vergessen zu haben. Freilich ist ihre Stimme hier weniger heftig, dafür voll Ernüchterung und tiefer Lebensmüdigkeit:
So lange schon kaue ich Finsternis wieder,
daß ich nicht weiß, wie das Glück ich von neuem erlerne.
So lange schon tret’ ich auf Lava,
daß meine Füße den Flaum vergaßen.
Seit Jahren beißen meine Zähne die Wüste,
und meine Heimat heißt Durst.
Was bleibt, ist die große Dürre im Herzen der Dichterin und zugleich der Wunsch nach dem endgültigen Nichts im Gegensatz zu dem so oft in ihrer Dichtung geäußerten Verlangen nach einem Fortleben.
Gib mir das Ende der Steineiche,
in loderndem Feuer, daß kein Rest zurückbleibe.
In „Nocturno de la Derrota“ – Nocturno der Niederlage – beklagt sie sich über ihre Mittelmäßigkeit, die sie an der Erlangung des absoluten Glaubens und der reinen Heiligkeit zu hindern vermöchte.
Ergreifend ist das „Nocturno de los Tejedores viejos“ – Nocturno der alten Weber – in seiner Heimwehklage. Der Gedanke an ihre Kindheit auf dem Lande, zu Lebzeiten der Mutter, erfüllt die Dichterin mit solcher Schwermut, daß sie es vorzieht, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken, und ihre Erinnerung „an der Türschwelle läßt“.
Ähnlich wie in den Liebesgedichten von Desolación ist das letzte der dem Tode ihrer Mutter gewidmeten Gedichte voll Resignation aber zugleich auch voll Hoffnung. Die übrigen Gedichte aus Tala sind wie die aus Lagar lichter, obgleich auch hier der Tod nicht aus dem Bewußtsein zu tilgen ist.
Zwei echte Meisterwerke stellen die kleinen Gedichte „Riqueza“ – Reichtum – und „Dos Angeles“ – Zwei Engel – dar, in denen die Dualität von Licht und Schatten, Glück und Angst, Leben und Tod gedeutet wird. Der sehnsüchtige Klang eines weiteren Gedichtes aus demselben Buch, „Canción de las Muchachas Muertas“ – Lied der toten Mädchen – erinnert an die berühmte Ballade von François Villon.
Doch wie Gabriela Mistral die Hoffnungslosigkeit in ihrer Dichtung Desolación überwand, als sie ihre Zuneigung auf die Kinder und die Natur übertrug, so befreite sie sich endlich von der Todesfurcht, indem sie die Welt in ihre Betrachtung zog. In die Wahrnehmung der Dinge mischt sich ein Gefühl von Ewigkeit, als ob alle Gegenstände aus einem unveränderlichen Stoff bestünden und unempfindlich gegenüber der Zerstörung durch die Zeit wären.
Die Erinnerung spielt in dieser neuen Dichtung eine entscheidende Rolle. Sie ist das wirkungsvollste Mittel zum Verständnis der Welt und die Berührung mit der Ewigkeit, die in den Dingen verschlossen liegt. Manchmal nähert sich Gabriela Mistral dem Dichter Marcel Proust. Für beide stellt die Erinnerung die hauptsächliche Triebfeder ihrer Schöpferkraft dar und dient beiden dazu, die Zeit festzuhalten. Beide Schriftsteller, die doch sowohl in kultureller als auch sozialer Hinsicht in ganz verschiedenem Milieu leben, werden von gleichen Todes- und Zeitgedanken beherrscht und überwinden sie in ähnlicher Weise. Manche Verse von Gabriela Mistral könnten von einem etwas schlichteren, einem bäurischen Proust verfaßt sein.
Eines dieser Gedichte, in dem die Erinnerung eindeutig die Vergangenheit beschwören und verewigen soll, ist „Beber“ – Trinken −:
Im Hause, das meiner Kindheit gehört,
trug meine Mutter das Wasser mir zu.
Von einem Schlucke zum anderen Schluck
sah ich ihr Antlitz über dem Krug.
Höher und höher wuchs mir ihr Kopf,
und tiefer und tiefer sank der Krug.
Noch habe ich das Tal,
habe ich meinen Durst und ihren Blick.
Dies wird die Ewigkeit sein,
daß wir noch sind, wo wir einstens gewesen sind.
Das gleiche Ewigkeitsgefühl findet sich in der bewußt amerikanischen Dichtung von Gabriela Mistral. Ihre von Amerika angeregten Gedichte sind weit davon entfernt, zu einer politischen Tat aufzurufen, wie das bei anderen Dichtern und Schriftstellern dieses Kontinentes geschah; sie rücken andere Vorstellungen in den Vordergrund.
In den Gedichten, die unter dem Titel „America“ in dem Band Tala zusammengefaßt sind, finden sich wiederholt Anspielungen auf die Folklore und die alten Traditionen der Eingeborenen. An diesen Überlieferungen interessierte Gabriela Mistral hauptsächlich der Glaubensinhalt. Ihre vom Religiösen her geprägte Weltauffassung klang darin fast ebenso stark nach wie die heiligen Bücher der alten, aus der Zeit vor Kolumbus bestehenden Zivilisationen. In ihrem Gedicht auf den Mais stellt sie auf die Heiligkeit ab, die dieser Pflanze von alters her zugesprochen wurde:
Der heilige Mais schießt hoch
in grünem Ungestüm.
Der Mais sollte ihrer Ansicht nach nicht in Mühlen zermahlen werden, wo er nur profaniert würde, so daß die Leute „kein einziges heiliges Korn“ zu essen bekämen. Auch müßte das Maisessen wie ein religiöser Ritus geübt werden:
Den Mais unseres Mundes
ißt, wer ihn anbetet.
In Lagar – Kelter −, dessen Titel schon die Absicht, eine Heimatdichtung zu schaffen, andeutet, begegnen wir gleicherweise zahlreichen Gedichten über das amerikanische Wesen. Freilich sind die Einfälle hier feinsinniger, veredelt und sozusagen subtiler. Die folkloristischen Anspielungen, die die Lektüre von Tala manchmal etwas mühsam gestalten, wurden gemieden. Auch macht sich Gabriela Mistral von der Leidenschaftlichkeit frei, die den Grundton ihres Werkes darstellte.
Man darf die Aussage von „La Otra“ – Die andere – in dem ersten Gedicht des Buches nicht übersehen:
Ich hab’ eine in mir getötet:
Ich liebte sie nicht!
Diese „andere“ war die leidenschaftliche und empfindliche Frau, dieses „feurige Genie“, das sie gewesen war und nicht mehr sein wollte. „Ich bitte die Bewunderer dieser Frau, alle die nach der heißblütigen Dichtung ihrer Jugend verlangen, sie im gleichen Atemzuge zu töten.“
Heiterkeit, freilich auch Müdigkeit spricht nun aus den dämmerhaft klingenden Gedichten:
Dämmerung („Atardecer“)
Ich spüre mein Herz
in der Milde zerrinnen wie Wachs:
sämiges Öl und nicht Wein
sind meine Adern.
Und ich spüre mein Leben:
lautlose, sanfte Gazelle,
springt es flüchtig dahin.
Was bleibt und dem Werk von Gabriela Mistral in all seinen Wandlungen Gepräge und Geschlossenheit verleiht, sind ihre Heimatliebe und die Gedanken über den Tod. Beide Motive durchdringen sich in „Ultimo Arbol“ – Letzter Baum −, dem Epilog zu Lagar und zu ihrem ganzen Werk. Die Dichterin nimmt darin ihren Tod vorweg und wünscht sich ihre Ruhestätte von einem Baum überschattet. Alles endet in einem befreiten Aufatmen:
Kann sein, das Laubdach
kleidet schon meine Träume,
und ich, eine Tote, singe unter ihm,
singe und weiß es nicht.
Jorge Edwards, aus: Gabriela Mistral: Gedichte, Coron-Verlag
Gabriele Töpferwein: Ich liebe die Dinge, die ich niemals besaß
Quetzal, April 2014
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 1/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 2/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 3/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 4/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 5/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 6/7.
Gabriela Mistral – Dokumentation „Große Chilenen unserer Geschichte“ Teil 7/7.
Hallo,
ich fan den Artikel sehr interessant.
Ganz kurze Frage:
Ich suche das Buch America,
insbesondere das Gedicht über Mais:
Der heilige Mais schießt hoch
in grünem Ungestüm.
Wüssten Sie wo ich das finden könnte?
Auch digital, ich brauche nur das Gedicht für eine Lesung.
Danke.
Schöne Grüße
santiago
… Ganz kurze Antwort: Nein…