– Zu Peter Huchels Gedicht „Alkaios“ aus Peter Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Band I: Die Gedichte. –
PETER HUCHEL
Alkaios
Die Spur verlischt. Es richtet
sich auf das Gras
wie eine Wahrheit. Während du gehst,
koppelt der ummauerte Hof
die Hunde los. Hier ist der Weg,
von Winterwassern ins Gestrüpp gehauen.
Und unten, zwischen den Felsenzähnen,
die Mühsal des Meeres, die Brandung,
zerbrochene Ruder, das Nichts
auf den Strand zu schleudern.
Sie haben
mit eisernen Pfählen
die Grenze gesetzt. Noch wehrt
sich der Tag mit seinen Disteln
gegen den eisigen
Anschlag der Nacht.
In einer früheren unfertigen Fassung trug Huchels Gedicht den Titel „Der Fremde“. Ein Jahr vor seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik, 1970; wurde es dann aber erweitert vor allem um die zweite Strophe unter seinem jetzigen Titel in der Neuen Rundschau veröffentlicht und zwei Jahre später so auch in die Sammlung Gezählte Tage aufgenommen. Wie ein Fremder, dessen Spur im eigenen Land verlischt, mußte sich Huchel nach der Entlassung als Chefredakteur von Sinn und Form im Jahr 1962 und angesichts zunehmender Isolation und Bespitzelung in der darauf folgenden Zeit in der Tat fühlen.
Die Bilder des Gedichts zeichnen dann auch eine Unwirtlichkeit der Szenerie, deren Bezüge zur Unwirtlichkeit eines Regimes („der ummauerte Hof“), das seine Hunde losläßt und menschliche Existenzen spurlos auszulöschen sucht, fast allzu deutlich sind. Und gleichviel, ob man das auf die persönliche Situation des Autors oder das ganze System beziehen mag (Huchels Ausreiseanträge wurden abgelehnt oder ignoriert, und natürlich hegte die Stasi in heute offenliegenden Dokumenten den „Verdacht Grenzdurchbruch“ gegen ihn), die Wege, die bleiben, zu Land („von Winterwassern ins Gestrüpp gehauen“) und zu Wasser („zwischen den Felsenzähnen, die Mühsal des Meeres“), künden angesichts der eisernen Grenzpfähle von beinahe gänzlicher Resignation.
Natürlich können und sollen wir unter den Disteln auch die Gedichte verstehen, die in dem manichäistisch anmutenden abschließenden Bild Zeichen letzten Lebens angesichts fast endgültiger Erstarrung setzen. Stünde noch die ursprüngliche Fassung, der ursprüngliche Titel, so wäre die biographisch gefärbte Beschreibung einer ummauerten, eisigen, existenzbedrohenden Welt die wesentliche Perspektive des Verständnisses. Das ist freilich politisch genug, doch in der jetzt vorliegenden Form bindet sich das Gedicht in einen weiteren Kontext ein, der diese politische Dimension noch unterstreicht.
Alkaios war ein berühmter Lyriker des archaischen Griechenland, der um 600 v. Chr. seinen Widerstandsgeist gegenüber verschiedenen tyrannischen Machthabern auf seiner Heimatinsel Lesbos in heute leider nur noch fragmentarisch erhaltenen Gedichten formulierte. Sein wohl nicht nur poetisches Engagement führte den Zeitgenossen und Landsmann der Sappho wenigstens zeitweise in die Verbannung. Berühmt schon in der Antike waren vor allem Alkaios’ allegorische Schiffslieder, in denen er den bedrängten Zustand seiner selbst und seiner politischen Anhänger in naturalistischen Bildern eines sturmgeschüttelten, dem Untergang nahen Schiffes zeichnete.
So ist die Berufung der Mühsal und der Brandung des Meeres der zerbrochenen Ruder in der zweiten Strophe von Huchels Gedicht nicht nur dichterischer Ausdruck einer extremen Grenz- und Lebenserfahrung, verfaßt von einem Menschen, der sein eigenes Schiff wohl gescheitert, sich selbst als ein Nichts gestrandet sehen konnte. Sie ist auch eine Reverenz gegenüber dem fernen Dichterkollegen und irgendwie Schicksalsgefährten. Und darin – bei allem Ausdruck verzweifelter Ausweglosigkeit – ein Bekenntnis zum Politischen eines Mannes, der selbst einmal in einem Interview von sich sagte, daß er keine politischen Gedichte schreiben wollte, aber jede andere Aussage einfach verlogen gewesen wäre.
Georg Wöhrle, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005
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