EUTERPE VON DEN UFERN DER NEVA ODER DIE EHRUNG ANNA ACHMATOWAS IN TAORMINA
Wissen Sie, wer Anna Achmatowa ist? Nein, Sie wissen es nicht, oder, wenn Sie es wissen, kann es nur drei Gründe dafür geben. Erstens, Sie sind gebildeter als ich, zweitens, Sie wollen gebildeter erscheinen, und drittens, Sie waren Soldat in Rußland und hörten ein Lied, das dort viel gesungen wurde: das Lied des heimkehrenden Soldaten. Aber nein, Sie sind nicht gebildeter als ich, Sie wollen auch nicht gebildeter erscheinen, und Sie waren natürlich nicht Soldat in Rußland und hörten nie das Lied des heimkehrenden Soldaten. Sie befinden sich also in demselben unwissenden Zustand, in dem ich mich befand, als ich nach Taormina reiste, wohin doch jeder fährt, um sich das griechisch-römische Theater, den rauchenden Ätna und ein paar normannische Kirchen anzusehen. Eigentlich wollte ich nicht reisen. Weder nach Taormina noch sonst wohin. Es genügte mir in Berlin zu sein. Ich hatte es mir gerade bequem gemacht. Es war Anfang Dezember. Regen mit Schnee vermischt fiel auf die Straßen. Schneematsch lag vor meiner Tür. Da kam ein Anruf aus Rom. Es war kurz vor Mitternacht.
Hier, verehrte Hörer, muß ich Ihnen sagen, daß Anrufe aus Rom kurz vor Mitternacht bei mir selten sind. Ich sah also etwas erstaunt in den Hörer. Da war eine leise, stockende, weibliche Stimme. Ich müsse sofort nach Taormina kommen. Wieso Taormina? Es ist wichtig, sagte die leise, weibliche Stimme. Nein, nein, rief ich, ich kann nicht, keine Zeit, kein Geld, und überhaupt. Taormina ist wichtig… die leise Stimme blieb hartnäckig… und ein Telegramm wird folgen, eine offizielle Einladung. Herrgott, rief ich in den Hörer, denn die Stimme in Rom wurde immer leiser, was soll ich denn in Taormina? Da kam das Wort: Anna Achmatowa
Sagen Sie nicht, daß dieses Wort nicht klingt. Fünf A’s hintereinander und ich liebe das A. Trotzdem verstand ich falsch. Ich verstand: Bella Achmadullina. Nur vier A und doch ein Name der aufhorchen läßt.
Bella Achmadullina, eine Tatarin, schön, jung, die erste Frau Jewtuschenkos, eine Lyrikerin, besser als er, und Gott sei Dank von ihm geschieden. Ich sagte: Ach so, die Achmadullina. Aber da war die leise Stimme verschwunden, die Verbindung getrennt.
Am nächsten Morgen kam das Telegramm, eine Mischung aus französischen und italienischen Worten, eine offizielle Einladung der Comes, einer Vereinigung europäischer Schriftsteller unter italienischer Führung, ein Telegramm, in dem das Wort „important“ dreimal vorkam. Es ging also um einen bedeutenden internationalen Vorgang, nicht Bella Achmadullina, sondern Anna Achmatowa in Taormina zu ehren. Das Telegramm war von Giancarlo Vigorelli, dem Generalsekretär der Comes, unterzeichnet. Aber wer war Anna Achmatowa? Ich hätte mich unterrichten können, aber dazu war es zu spät.
Da rief ein deutscher Verleger an. Er wollte mich besuchen. Ich entschuldigte mich: ich muß leider nach Sizilien, um Anna Achmatowa mit preiszukrönen. Der Verleger schwieg. Auch er wußte offensichtlich nichts über Anna Achmatowa. Endlich kam seine Stimme zurück: ich würde sie gern herausbringen. Wen? Die Achmatowa, können Sie nicht? Bitte, bitte, sagte ich, ich will versuchen, was möglich ist.
Die Maschine hatte Verspätung. Nebel und Schneesturm in Bayern. Ich hatte die falschen Schuhe an. Schuhe für Taormina. Auf dem Flugplatz in München geriet ich in eine Schneewehe hinein. Die Schuhe weichten auf. Der Mantel war zu dünn. Die Kälte pfiff durch den Übergangsanzug für Sizilien. Ich verfluchte Anna Achmatowa. In Rom bestieg ich die dritte Maschine. Sie ging nach Catania. Meine Handschuhe waren weg, mein Schal, der Gürtel meines Mantels. Im Schneesturm verweht. Wo ein Luftloch war, fiel die Maschine hinein, in jedes Luftloch, auf dem Weg von Rom nach Catania. Die Touristenklasse war voll besetzt. Auf jedem Sitz saß ein Mann, las Zeitung und unterhielt sich zugleich laut mit seinem Nebenmann. Ich dachte an die Maffia und fror in meinen durchnäßten Schuhen. Nacht vor den Fenstern… Sterne… und unter mir die sizilianischen Berge.
Ich will hier nicht die Landung beschreiben, nicht wie sich die Fluggäste als internationale Schriftsteller entpuppten: Franzosen, Spanier, Irländer und so fort. Nur das Hotel scheint mir wichtig zu sein, in dem wir schließlich in Taormina ankamen.
St. Domenico, ein ehemaliges Kloster, im fünfzehnten Jahrhundert von einem Prinzen von Catania erbaut, für seine damaligen Freunde, die Dominikaner, durch Jahrhunderte eine Erholungsstätte abgearbeiteter Mönche, in unserem Jahrhundert von einem erbfolgeberechtigten sizilianischen Prinzen in ein Hotel verwandelt, im zweiten Weltkrieg Hauptquartier Feldmarschall Kesselrings, bis er von den Amerikanern vertrieben wurde, und jetzt für eine Woche Sitz der Comunià Europea degli Scrittori. Ein riesiges Klosterhotel, mit Kreuzgang, Innenhof, Terrassengärten, abfallend zum Meer, mit breiten, hohen, gewölbten Korridoren, mit Betsälen, die jetzt Gesellschaftsräume sind, und mit zahlreichen Zellen, umgearbeitet zu Einzel- und Doppelzimmern. Über der Tür eines jeden Zimmers ein Symbol und über meiner Tür die Heilige Johanna von Portugal, die Wahnsinnige, mit einem Totenkopf und einer Krone spielend. Wer aber war Anna Achmatowa?
Mit mystischer Bewunderung lasen mir noch in derselben Nacht zwei Lyriker ihre Gedichte an Anna Achmatowa vor. In der Bar des Klosters unter dem Einfluß von Wodka und Whisky. Der eine war ein Irländer und der andere ein Isländer und während der Irländer Desmond hieß… und bald Desdemona gerufen wurde… nannte sich der andere Thor und konnte, aus Island kommend, kaum anders heißen, und beide – Thor und Desmond – entsprachen genau dem Bild, das ich von einem isländischen und von einem irländischen Lyriker in mir trug. Kamen die Verse des einen an Anna Achmatowa wie ein Gletscher aus seinem rotblondbärtigumrahmten Mund hervor, so sprangen sie aus dem nervösen Mund des anderen mit einer Phantastik heraus, die an James Joyce erinnerte, und bald wurde auch James Joyce zitiert und dann wieder Anna Achmatowa, und spät in der Nacht sah ich beide durch die Gänge des Klosters irren, der Irländer auf den Isländer gestützt, ertrunken in Wodka, Versen und Whisky.
Schon am nächsten Morgen hatte ich eine zweite Begegnung. Ich stieß die Fensterläden meines Zimmers auf, und da sah ich ihn sitzen, auf einer gelben Gartenbank, unmittelbar vor meinem Fenster, umrahmt von Mandarinen, Pampelmusen und Apfelsinen, eingebettet in das Grün des Gartens, umgeben von blühenden Sträuchern: den Präsidenten des sowjetrussischen Schriftstellerverbandes, ein Bild friedlicher Koexistenz, in den sizilianischen Morgen hinein – Chruschtschow vielleicht nachsinnend, den er zwei Monate zuvor verloren hatte. „Ach, Surkow, wie ist das Leben doch veränderlich“, wollte ich rufen, aber ich ließ es bei einer steifen Verbeugung in meinem Fensterrahmen, und auch er verbeugte sich steif auf seiner gelben Gartenbank, beides Verbeugungen praktizierender Koexistenzler. Ja, die Sonne schien, der Ätna rauchte, das griechisch-römische Theater sah auf das friedliche Meer hinaus, und ich lag in einem Gartenstuhl und grübelte über den Sinn meines Hierseins nach. Da kam der Generalsekretär Giancarlo Vigorelli vorbei, ein italienischer Literaturmanager, elegant wie immer, schlank, mit harmonisch onduliertem grauen Haar und blitzenden Brillengläsern. Ich rief ihn an und fragte ihn, was ich hier zu tun hätte. Erstaunt hob er seine Brillengläser und öffnete beide Arme: Nichts, mein Lieber, nichts. Hier hieß es die Dinge und die Dichter auf sich zukommen lassen, und sie kamen, redend und gestikulierend: Spanier, Portugiesen, Finnen, Schweden, Russen, Rumänen, Ungarn, Bulgaren, Jugoslawen, Tschechen, Franzosen, Engländer, und kamen die einen gleich delegationsweise, mit Präsidenten, Dolmetscherin und Sekretär, so kamen die anderen als verlorene Einzelgänger, die ihre Verse vor sich hertrugen, um sie anderen anzupreisen. Nur wenige waren mir bekannt: Ungaretti, Alberti, Simonow, Lundquist, Twardowski, Quasimodo, Pasolini. Hier war es nicht notwendig, sich auszuweisen. Es genügte in der Sonne zu liegen, die Nächte in dem zu einer Bar umgebauten Betraum zuzubringen, zu essen, zu schlafen, zu trinken, ohne auch nur einen Pfennig dafür zu bezahlen. Hier floß selbst der Whisky, der Wodka, der Grappa durch die versemächtigen Kehlen ohne jede Gegenleistung. Wer bezahlte da alles? Die sowjetrussische Botschaft, die sizilianische Industrie, die Regierung in Rom, oder vielleicht doch die Maffia. Waren wir Gäste der Maffia und war vielleicht Anna Achmatowa… nein, ich dachte nicht weiter darüber nach.
Drei Tage vergingen, dann kam eine kurze Sitzung, die in vielen Sprachen, nur nicht in Deutsch, abgehalten wurde, und von der ich nichts verstand, und dann die Vorführung eines Films: das Evangelium, geschrieben, gedreht, gestaltet von dem italienischen Schriftsteller Pasolini, der Kommunist und wahrscheinlich Mitglied der Partei ist. Hätte ich Christus gekannt, so müßte ich hier sagen: niemals sah ich Christus strahlender, niemals anziehender, niemals begeisternder. Hier ging ein schöner, faszinierender italienischer Gott durch einen Film, der Johannes dem XXIII. gewidmet war. In diesem Kinoraum gab es nach dem Ende des Films keine Atheisten mehr. Selbst die Russen schlossen Pasolini küssend in ihre Arme und einer von ihnen hatte verstohlene Tränen in den Augen. Ach, der italienische Kommunismus, diese seltsame Mischung aus Klassenkampf, Christentum, Sozialismus, katholischer Kirche, Toleranz, Eigensinn, großsprecherischen Gesten und tiefem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, und das alles auf sizilianischem Boden, unter normannischen Palästen, und in einem zigarettenrauchverräucherten Kinoraum. Ja, beinahe hätte ich gerufen: Christus ante portas… Christus vor den Toren des Kommunismus… und wahrscheinlich hätten sie auch das beklatscht… gerührt wie sie waren… die Italiener, die Russen, die Spanier. Nur die Franzosen hatten einiges auszusetzen. Aber wer nimmt heute auf solchen Konferenzen die Franzosen noch ernst. Sie können sich bewegen wie sie wollen, sie werden ihren General nicht los, so wenig wie wir unsere Vergangenheit.
Kam Christus nicht doch bis Eboli und – an diesem Abend – darüber hinaus bis Taormina, kam, sprach von der Leinwand herunter, und siegte?
Es geschah nicht mehr viel in diesen Tagen. Der Kongreß – falls es einer war – aß, trank, tanzte, lag in der Sonne und ging spazieren. Nur einmal, sagte Giancarlo Vigorelli, müsse noch gearbeitet werden, aber nur eine Stunde, und diese Stunde kam in dem normannischen Palast – dessen Namen ich vergessen habe – mitten in der Stadt. Zwölf Präsidenten saßen auf dem Podium und sprachen und sahen abwechselnd in die Fernsehkameras hinein, und wir sahen ihnen als Statisten dabei zu. Ein Minister der sizilianischen Regierung sprach mit viel Hingabe und ließ sich anschließend auf einem Festessen feiern, sizilianisch, italienisch, spanisch, russisch, und endlich wurde mir bewußt, daß wir Wartende waren. Ja, wir warteten auf Anna Achmatowa, die Göttliche, denn göttlich mußte sie sein nach all dem, was um mich herum gesprochen, geflüstert, angedeutet wurde, und nach all den Versen, die zu ihren Ehren auf vielen Zimmern des riesigen Klosters in die Schreibmaschinen hinein und wieder heraus geschmiedet wurden. Wahrlich, auch ich sah nunmehr ihrer Ankunft nicht ohne Spannung entgegen.
Anna Achmatowa ist da, hörte ich, als ich nach einem Spaziergang das Klosterhotel betrat, es war der fünfte Tag des Nichtstuns nach meiner Ankunft, es war die zwölfte Stunde, an einem Freitag, und die Sonne stand im Zenit.
Hier, verehrte Hörer, müßte ich eine Zäsur machen, eine Pause, um diese Stunde recht zu würdigen, denn an diesem Busen, an dieser Stimme, an dieser ganzen Erscheinung hätte sich der erste Weltkrieg entzünden können, wenn es nicht möglich gewesen wäre, andere Ursachen dafür zu finden, ja, hier saß Rußland mitten in einem sizilianisch-dominikanischen Klostergarten, auf einem weißlackierten Gartenstuhl, umrahmt von einem säulenmächtigen Kreuzgang, mit einer Hofdame in distanziertem Abstand – der Gesellschafterin – eine Großfürstin der Poetik, hier hielt sie Hof ab und gab ihre Audienz. Und vor ihr standen die Dichter aus allen Ländern Europas – dem Westen wie dem Osten – die kleinen, kleinsten und die großen, die jungen und die alten, die Konservativen, die Liberalen, die Kommunisten und die Sozialisten, standen zu einer langen Schlange geordnet bis in den Kreuzgang hinein, um Anna Achmatowa die Hand zu küssen, und auch ich mußte mich ihnen anschließen. Da saß sie und hielt ihre Hand hin, und jeder trat vor und verbeugte sich, und jeder erhielt ein gnädiges Kopfnicken, und viele traten ab mit hochrotem Kopf, und jeder gab sich dieser Zeremonie in der Art seines Landes hin: die Italiener mit Charme, die Spanier mit Grandezza, die Bulgaren devot, die Engländer lässig, und nur die Russen kannten den Stil, den Anna Achmatowa erwartete. Sie standen vor ihrer Zarin, knieten nieder, und küßten die Erde. Nein, sie taten es nicht, aber es sah so aus oder hätte so sein können. Es war als küßten sie mit Anna Achmatowas Hand die Erde Rußlands, die Tradition ihrer Geschichte und die Größe ihrer Literatur. Nur einer unter ihnen war ein Spötter, aber ich will hier seinen Namen nicht nennen, um ihm Anna Achmatowas Ungnade zu ersparen. Er sagte, als auch ich meinen Handkuß in der Art meines Landes absolviert hatte:
Wissen Sie, 1905, zur Zeit der ersten russischen Revolution war sie eine sehr schöne Frau.
Damals war Anna Achmatowa sechzehn Jahre alt, und zwei Jahre später – 1907 – erschienen ihre ersten Gedichte, die in der damaligen literarischen Elite Rußlands Aufsehen erregten, Gedichte einer achtzehnjährigen, und jetzt sechsundsechzigjährig, stand sie vor der Ehrung durch den Preis von Taormina, ein Stück russischer Geschichte von Nikolaus dem Zweiten, über Kerenski, Lenin, Stalin, Chruschtschow bis zu Breschnew und Kossygin, immer noch ungebeugt, immer noch hoheitsvoll, eine russische Landschaft unter sizilianischen Mandarinenbäumen. Jetzt wäre es an der Zeit über Anna Achmatowas Leben und Werk etwas mehr zu sagen, wozu – ich will es offen gestehen – auch ich eine russische Literaturgeschichte zur Hand nehmen mußte, aber ich will noch den Abend schildern, der auf diesen Mittagsempfang folgte. Anna Achmatowa würde, so hieß es, ihre Gedichte lesen. So versammelten wir uns am Abend in einem der vielen Säle des weiträumigen Klosters, zweihundert Menschen, die meisten feierlich, wie zu einer Premiere gekleidet. Am Präsidiumstisch nahmen Ungaretti, Alberti, Vigorelli und Quasimodo Platz. Ein Stuhl in der Mitte blieb frei. Und wieder warteten wir auf Anna Achmatowa. Jedermann sprang spontan von seinem Stuhl auf, als sie endlich den Saal betrat. Die Reihen teilten sich, und sie schritt durch ein Spalier von klatschenden Händen, hoch aufgerichtet, ohne auch nur rechts oder links zu blicken und ohne ein Lächeln, weder eins der Genugtuung noch eins der Freude, und nahm am Präsidententisch Platz. Nach einer prunkvollen italienischen Huldigungsrede kam der große Augenblick.
Ja, sie las, russisch, und mit einer Stimme, die an ein fernes Gewitter erinnerte, wobei niemals klar wurde, ob das Gewitter im Abziehen oder erst im Heraufkommen war. Ihre dunkle, rollende Stimme ließ keine hellen Töne zu. Das erste Gedicht war kurz, sehr kurz, und kaum beendet, erhob sich ein Beifallssturm, obwohl – abgesehen von den anwesenden Russen – niemand russisch verstand. Sie las das zweite Gedicht, das ein paar Zeilen länger war, las es, und klappte das Buch zusammen. Es waren kaum zehn Minuten vergangen und schon war ihre Lesung – ein Akt der Gnade für alle – beendet. Bewegt dankte Vigorelli, bewegt Ungaretti, bewegt rührten alle anderen die Hände zum langanhaltenden Beifall.
Nunmehr wurden alle anwesenden Poeten aufgefordert, ihre Gedichte an Anna Achmatowa vorzutragen. Ein Poet nach dem anderen trat hinter den Stuhl von Anna Achmatowa und las sein Gedicht für sie und an sie dem Publikum vor, und jedesmal hob sie den Kopf, sah schräg links nach oben und hinten, wo sich der vortragende Poet befinden mußte, und nahm die Ehrung mit einem leutseligen Nicken entgegen, ganz gleich, ob es sich um ein englisches, isländisches, irländisches, bulgarisches, rumänisches Poem handelte. Der Vorgang glich – man mag mir diesen Vergleich verzeihen – dem Neujahrsempfang am Hof einer weiblichen Majestät. Eine Zarin der Poetik nahm die Huldigung des diplomatischen Corps der Weltliteratur entgegen, wobei die vortragenden Diplomaten ihre Akkredition nicht nachweisen mußten. Endlich hieß es: Anna Achmatowa ist müde, und schon schritt sie hinaus, eine große Frau, alle Poeten von mittlerer Statur um Kopfeslänge überragend, eine statuarische Erscheinung, an der sich die Wellen der Zeit von 1889 bis heute gebrochen haben, und so, wie ich sie hinausschreiten sah, begriff ich plötzlich, warum Rußland zeitweise von Zarinnen regiert werden konnte.
Sie aber schrieb, und das mag merkwürdig und gleichzeitig auch symptomatisch erscheinen, vorwiegend Liebesgedichte. Eines davon heißt Trennung. Ich fand es, da es keine deutschen Übersetzungen gibt, in der Geschichte der russischen Literatur von Dmitrij S. Mirskij, die in diesen Tagen im Piper-Verlag erschien. Es ist hier nicht nach dem Sprachrhythmus übersetzt, sondern wortgetreu.
Abendlich sich neigt
Vor mir der Weg
Gestern bat er noch
Verliebt: Vergiß mich nicht.
Heute hör ich nur den Wind
Den Ruf der Hirten
Sturmzerzauste Zedern
An reinen Quellen.
Mirskij sagt in seiner Literaturgeschichte über sie:
In Ihrer Stimme schwingt die Autorität eines Menschen mit, der die Macht hat zu urteilen und zu entscheiden, der aber gleichzeitig auch ein Herz besitzt, dessen Gefühlsintensität weit über dem Durchschnitt liegt.
Dieses Urteil entspricht meinem Eindruck und erklärt Auftritt und Erfolg in Taormina fast drei Jahrzehnte nach diesem Urteil.
Anna Achmatowa wurde 1889 in Kiew geboren. Ihr eigentlicher Name ist Gorenko, der aber im Lauf der Zeit von ihrem Pseudonym Achmatowa völlig verdrängt wurde. Sie heiratete 1910 den russischen Dichter Nikolaj Stepanovic Gumilew, von dem sie sich aber nach wenigen Jahren wieder trennte, um den Assyriologen V.K. Silejko zu heiraten, aber auch diese Ehe war nur von kurzer Dauer. Zeitweise, vor dem ersten Weltkrieg, lebte sie in Paris in der damaligen Pariser Bohème. Einer ihrer vielen Freunde war der italienische Maler Modigliani. Nach der Revolution blieb sie in der Sowjetunion und lebte in Leningrad. Sie ist zweifellos die bedeutendste Erscheinung einer literarischen Richtung, die es nur in Rußland gab – den Akmeismus – eine Art Reaktion auf den Symbolismus des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Der führende Kopf dieser Richtung war Gumilew, ihr Mann, der 1911 in Leningrad die „Gilde der Dichter“ gründete, und der 1921 von der Tscheka erschossen wurde. Der Akmeismus ist abgeleitet von griechisch „akme“ gleich: Spitze, Reife, Blüte. Die Akmeisten wollten, wie sie sagten, wieder eine Rose bewundern, weil sie schön, nicht aber, weil sie das Symbol mystischer Reinheit ist. Sie wollten die Welt mit neuen und unvoreingenommenen Augen betrachten, so wie „Adam am Schöpfungsmorgen sie sah“. Man versuchte den Gefahren eines reinen Ästhetizismus zu entgehen und erklärte Villon, Rabelais, Shakespeare und Theophile Gautier zu Vorbildern und Lehrmeistern. Ein Dichter sollte nicht länger ein Priester – wie bei den Symbolisten – sein, sondern ein Könner werden, der sein Handwerk beherrscht. Diesem Zweck sollte die Gilde der Dichter dienen. Die beiden bedeutendsten Lyriker, die aus diesem Kreis hervorgingen, sind Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam. Anna Achmatowa verdankt ihren Erfolg – so schreibt Mirskij – dem autobiographischen und äußerst persönlichen Charakter ihrer Poesie. Sie ist ausgesprochen sentimental, insofern als ihr das Gefühl über alles geht. Dieses Gefühl wird jedoch nicht in der Terminologie des Symbolismus oder des Mystizismus interpretiert, sondern in der einfachen und verständlichen menschlichen Sprache.
Wahre Liebe täuschst Du nicht
sie ist verschwiegen
Vergebens hüllst du mir die Brust
Die Schulter in den Pelz
Vergebens flüstern deine Lippen
Mir von erster Liebe
Wie ist mir dieser starre
Hungrige Blick so vertraut.
Die Gedichtbände ihrer ersten Jahre tragen Titel wie Rosenkranz, Weiße Schar, Juli 1914. Erst während des Weltkrieges treten an die Stelle der leichten gefälligen Metren die ernste, feierliche und heroische Stanze und ähnliche Versmaße. Ohne das Weibliche in ihrer Gefühlslage zu verleugnen, wird sie männlich und kräftiger im Ausdruck. Doch kann man ihre engagierte und gegenwartsbezogene Dichtung kaum politisch nennen. In den fortschrittlichen Kreisen der Sowjetliteratur tat man sie bald als reaktionär und veraltet ab. Erst nach beinahe zwanzigjährigem Schweigen taucht ihr Name 1940 wieder auf. Wiederum wird ihr während des zweiten Weltkrieges ein ungewöhnlicher Erfolg zuteil, aber im Zuge der literarischen Säuberung des Jahres 1946 wird ihre Dichtung offiziell als inhaltsleer und als fremd und schädlich für das sowjetrussische Volk erklärt.
Anna Achmatowa verschwindet zum zweitenmal aus der russischen Literatur für lange Zeit. Vielleicht war es der Verdienst der Comes – und hier vorwiegend der italienischen Schriftsteller – daß ihr Name jetzt noch einmal im Vordergrund steht. Die Russen konnten nicht umhin, eine offizielle Delegation zu schicken, und der sowjetrussischen Botschaft in Rom blieb ein großer Empfang zu Ehren Anna Achmatowas nicht erspart. Noch einmal sah ich sie. Im Palazzo Orsengo in Catania, von Friedrich dem Zweiten erbaut, wurde ihr der Prix Taormina verliehen.
Dort saß sie auf dem Podium, umgeben von Präsidenten und Halbpräsidenten, von sizilianischen Honoratioren, von italienischen Schriftstellern, eine Zeitgenossin Maxim Gorkis und Anton Tschechows, nun unter dem Scheinwerferlicht der Fernsehkameras. Und diesmal mußte auch sie warten, denn der italienische Kultusminister hatte sich verspätet. Sie wartete mit der ihr angemessenen Geduld. Gegen ein Flugzeug, das wegen Bodennebel nicht aufsteigen kann, konnte auch eine Anna Achmatowa nicht die Ungeduld setzen. Und diesmal bedankte sie sich nach der Rede des Kultusministers mit wenigen Worten und in dieser Rede war kein Satz und kein Wort zuviel. Es war der Dank einer Zarin an ihre Untertanen. Und wieder sah ich, diesmal von hinten, die vielen gebeugten Rücken.
Hans Schwab-Felisch: Ein linker Konservativer
Merkur, Heft 421, Juli 1983
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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