Albert Ehrismanns Gedicht „Der Schneeaufheber“

ALBERT EHRISMANN

Der Schneeaufheber

Ging, ging und ging und hob im Lauf
zwei Hände Schnee, drei Hände auf.
Hob tausend Hände weiß und reich.
Die letzte Hand der ersten gleich.
Geballt. Und in der Höhle hält
sie Schnee, den Schnee der ganzen Welt
Antarktis. Arktis. Grün, gelb, rot.
Wohin er ging, wuchs Wein und Brot.
Viel später einst in böser Zeit
wurden die Pole zugeschneit.
Wer in der bittern Kälte lebt,
sucht jetzt die Hand, die Schnee aufhebt.

1964

aus: Albert Ehrismann: Nachricht von den Wollenwebern. Artemis Verlag, Zürich-Stuttgart 1964

 

Konnotation

1928 wagte der arbeitslose junge Buchhalter Albert Ehrismann (1908–1998) den Schritt in eine Existenz als freier Schriftsteller. Der politisch motivierte Autor aus dem Zürcher Arbeitermilieu verwandelte sich alsbald in den erfolgreichsten satirischen Zeitdichter der Schweiz.
1934 gehörte Ehrismann zu den Mitbegründern des legendären Cabaret Cornichon. Als ständiger Autor der Zeitschrift Nebelspalter veröffentlichte er dort während dreier Jahrzehnte über 1.600 Gedichte. Sein poetisches Werk umfasst ein weites Spektrum von empfindsamer Liebeslyrik, über gesellschaftskritisch motivierte Dichtung bis hin zu Kabarett-Texten, Auftragsarbeiten für die Zeitung Tages-Anzeiger und Gelegenheitsgedichten für diverse Firmen und Stiftungen. Sein Gedicht „Der Schneeaufheber“, erstmals 1964 gedruckt, ist ein anrührender Text über eine Erlösergestalt, die in unablässiger Arbeit „den Schnee der ganzen Welt“ aufräumt und damit alle klimatischen und politischen Eiszeiten verhindert. Erst die Abwesenheit des „Schneeaufhebers“ hat die Welt in „böser Kälte“ erstarren lassen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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