ANDREAS GRYPHIUS
Menschliches Elende
Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhauß grimmer Schmertzen
Ein Ball des falschen Gluecks/ein Irrlicht dieser Zeit.
Ein Schauplatz herber Angst/besetzt mit scharffem Leid/
Ein bald verschmeltzter Schnee und abgebrante Kerzen.
Diß Leben fleucht davon wie ein Geschwaetz und Schertzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Todten-Buch der grossen Sterblikeit
Laengst eingeschriben sind/sind uns aus Sinn und Hertzen.
Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfaellt/
Und wie ein Strom verscheust/den keine Macht auffhaelt:
So muß auch unser Nahm/Lob/Ehr und Ruhm verschwinden/
Was itzund Athem holt/muß mit der Lufft entflihn/
Was nach uns kommen wird/wird uns ins Grab nachzihn.
Was sag ich? Wir vergehn wie Rauch von starcken Winden.
1637
Das Dasein als ein unendliche Strecke des Leidens: Kein Dichter hat diese pessimistische Weltanschauung in so ergreifende Verse gefasst wie Andreas Gryphius (1616–1664), der bekannteste Dichter des Barock. Bereits im Alter von 21 Jahren schrieb er seine berühmten „Lissaer Sonnete“, in denen das Vanitas-Motiv dominiert und dem auch das Gedicht über „Menschliches Elende“ zuzurechnen ist: Es spricht die Überzeugung von der Nichtigkeit der Welt und Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens aus, der gegenüber allein der christliche Glaube Trost bereit halte.
Vor dem Erfahrungshintergrund der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges gelangt Gryphius zu einer absoluten Negation jeder Daseinshoffnung. Selbst die trostreiche Religion ist in diesem Fall aus dem Sonett verbannt. Es gibt nichts mehr außerhalb der Vergänglichkeit und dem Warten darauf, selbst in das „Todten-Buch der grossen Sterblichkeit“ eingetragen zu werden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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