Christian Morgensterns Gedicht „Das Huhn“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Das Huhn

In der Bahnhofshalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her…
Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh’r?
Wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut:
dass ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte, wo es – „stört“!

1906

 

Konnotation

Christian Morgenstern (1871–1914) wirkte zunächst als Übersetzer der Werke Ibsens und Strindbergs, arbeitete dann als Verlagslektor in Berlin. Seine populären Galgenlieder erschienen erstmals 1905 und erlebten schnell erweiterte Auflagen. Durch ihre groteske Komik, ihre Neigung zum Absurden wollten sie eine als sinnlos erfahrene Welt auf den Kopf stellen. Dazu schuf Morgenstern Fabeltiere wie das „Nasobem“ und entwickelte frühe Formen dadaistischer Sprachspiele. Parallel zu diesen Grotesken schrieb er – ein Anhänger Nietzsches und Rudolf Steiners – melancholisch-meditative Gedichte, in denen er sich mit dem Christentum auseinandersetzte.
Die kleine, dreiteilig strukturierte und effektvoll gereimte Groteske gehört in den Zusammenhang der Galgenlieder. Erstmals taucht sie im Tagebuch von 1906 auf. Das Unerwartete und Freiheitliche verkörpern vorzüglich Tiere wie dieses deplazierte Huhn, das in der wirklichen Welt – der Bahnhof ist ja ein Fortschrittssymbol – Befremden auslöst, nur dadurch, dass es wie die wartenden Menschen in der Halle „hin und her“ geht.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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