CHRISTIAN MORGENSTERN
Vice versa
Ein Hase sitzt auf einer Wiese,
des Glaubens, niemand sähe diese.
Doch, im Besitze eines Zeißes,
betrachtet voll gehaltnen Fleißes
vom vis-à-vis gelegnen Berg
ein Mensch den kleinen Löffelzwerg.
Ihn aber blickt hinwiederum
ein Gott von fern an, mild und stumm.
1906
„Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“: Dieser Untertitel einer vertrackten Krimi-Novelle des Schweizers Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) könnte auch dem theologisch hintersinnigen Gedicht Christian Morgensterns (1871–1914) voranstehen. Denn was Morgenstern hier aus der lateinischen Redewendung „Vice versa“ – wörtlich „im umgekehrten Wechsel“ oder „umgekehrt“ – entwickelt, ist weit mehr als eine humoristische Nettigkeit.
Das 1906 entstandene und 1928 erstmals publizierte Gedicht scheint zunächst nur einer Paarreim-Laune Morgensterns zu entspringen. Mit Hilfe eines Fernglases (= „Zeiß“, nach dem Optiker Carl Zeiss) beobachtet ein Mensch einen Hasen. Aber die Souveränität der Beobachter-Position trügt. Denn der Mensch selbst ist, ohne es zu bemerken oder auch nur zu ahnen, das Objekt einer Beobachtung. Der letzte Vers lässt dann offen, welche Absichten Gott bei seinen Beobachtungen umtreiben. Die Transzendenz als ewiges Rätsel.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar