CONRAD FERDINAND MEYER
Am Himmelstor
Mir träumt’, ich komm ans Himmelstor
Und finde dich, die Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße.
Du wuschest, wuschest ohne Rast
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von neuem immer.
Ich frug: „Was badest du dich hier
Mit tränennassen Wangen?“
Du sprachst: „Weil ich im Staub mit dir,
So tief im Staub gegangen.“
um 1882
Was findet da statt am Eingang zum Paradies? Das lyrische Ich in diesem vor 1882 entstandenen Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) träumt von der Begegnung mit der Geliebten an der Pforte zur himmlischen Sphäre. Aber da ist etwas Irritierendes, das die Intimität der Begegnung stört. Denn „die Süße“ vollzieht das Ritual der Fußwaschung in unablässiger Wiederholung. Geht es um die Reinigung einer „Sünderin“, die schuldig geworden ist durch das Zusammensein mit dem „Du“?
Wie viele Liebesgedichte Meyers ist vielleicht auch dieses an seine Schwester Betsy gerichtet, mit der er nicht nur brüderlich verbunden war. Seine wichtigsten Werke hat er in ihrer leibhaftigen Gegenwart geschrieben. Zwar hat der Abkömmling einer Zürcher Patrizierfamilie im fortgeschrittenen Alter eine Frau aus besten Zürcher Kreisen geheiratet. Aber von seinem „Schwesterchen“ kam der Dichter Conrad Ferdinand Meyer nie los.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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