DIETER ROTH
Wer manchmal in der Ecke sitzt und heult
Weil ihm das Leben sich äusserlich verbeult
Und oftmals daneben sitzt und brüllt
Weil ihm das Leben sich innerlich zerknüllt
Nur der weiss was er hat zu leiden
Und was er gerne möchte vermeiden
Der immer in der Ecke sitzt und heult
Wobei sich die Hand und das Herz
der Himmel und die Erde der Mensch und das Tier
Gänzlich zerknüllt bzw weitgehend verbeult
1970er Jahre
aus: Dieter Roth: Da drinnen vor dem Auge. Lyrik und Prosa. Hrsg. v. Jan Voss. Beat Keusch, Johannes Ullmaier u. Björn Roth. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2005
„Ich habe eigentlich als Dichter angefangen“, hat der radikale Universal- und Aktionskünstler Dieter Roth (1930–1998) einmal in einem Radiogespräch bekannt – und das Ergebnis dieses dichterischen Ursprungsimpulses waren immerhin über 200 Buchprojekte in Kleinst-Editionen oder Privatdrucken. Die lyrischen Helden seiner Sonette und schrillen Volksliedstrophen haben oft ein totales Lebens-Desaster zu vermelden. Auch der Protagonist des vorliegenden Gedichts protokolliert weitreichende Deformationen.
Ein bis in die letzte Lebensfaser depressiv zermürbtes Subjekt steht hier im Mittelpunkt des Textes, ein Häuflein Elend, dem sich die Welt ins Unerträgliche verzerrt. Einst begann Goethe (1749–1832) seine Marienbader Elegie mit den Versen: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt. / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide“. Bei Dieter Roth ist es nun der gequälte Künstler selbst, der auf das drohende Verstummen mit Gebrüll antwortet und in allen möglichen Variationen kundtut, „was er hat zu leiden“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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