ELSE LASKER-SCHÜLER
Dämmerung
Ich halte meine Augen halb geschlossen
Graumütig ist mein Herz und wolkenreich
Ich suche eine Hand der meinen gleich…
Mich hat das Leben, ich hab es verstoßen
Und lebe angstvoll nun im Übergroßen
Im irdischen Leibe schon im Himmelreich.
Und in der Frühe war ich blütenreich
Und über Nacht froh aufgeschossen
Vom Zauber eines Traumes übergossen –
Nun färben meine Wangen meine Spiegel bleich.
um 1940
aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. I,1: Gedichte. Jüdischer Verlag, Frankfurt a.M. 1996
Die späten, in ihrem letzten Refugium Palästina entstandenen Gedichte Else Lasker-Schülers (1869–1945) fühlen sich nicht mehr dem zionistischen Gedanken der „Heimkehr ins gelobte Land“ (der „Immigration“) verpflichtet, sondern sind vielmehr geprägt von der existenziellen Erfahrung der Emigration und des Exils. Im Gedicht „Dämmerung“, das von Lebensmüdigkeit und Todesahnungen durchzogen ist, imaginiert die Dichterin den Übergang ins „Himmelreich“.
Die Abwendung von der Welt und die Vorbereitung auf den Übergang in einen anderen Zustand werden schon in den Eingangszeilen angedeutet. Das Gedicht der damals bereits über 70jährigen Dichterin spricht vom entschlossenen Rückzug nach dem Ende des zauberhaften „Traums“ vom Leben. Das Abschiednehmen von der Welt, die Erfahrung des körperlich-seelischen Zerfalls und die Empfindung, dass der „irdische Leib“ bereits ins „Himmelreich“ abgewandert ist – in keinem anderen Gedicht der Lasker-Schüler ist die Vorahnung des Lebensendes so präzis-traurig formuliert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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